Fetttigg!!
@Dean: Und schonmal über die "neuen" Regeln geschaut?



Die Kreuzritterin (Teil 2 von 2)

Valencia bedankte sich später bei der venezianischen Sängerin und verließ das Haus. Sie wusste nun, wo sich der Mann namens Skye aufhielt, jetzt begann der interessante Teil ihres Auftrages. Die Warnung der Frau klang noch in ihren Ohren.
„Dieser Ort ist Zuflucht für alle, die nicht gefunden werden wollen. Man findet dort den Abschaum der Menschheit versammelt, gebt gut auf euch Acht, My Lady!“
Ihre Schritte führten die Silberblutgeweihte sicher durch den Brückenwald des neuen Venedigs. Hier und da sah man einen Alten, der faul in der Sonne lag oder eine Fischerin, die ihre Netze einholte. Obgleich es auch eine Handvoll Kinder gab, spürte Valencia nun, was die Venezianerin gemeint hatte, der Verfall und das langsame Elend lagen überall in der Luft. Dann erhob sich das beschriebene Gebäude vor ihr und ein weiteres Gefühl erfasste ihre Seele, als sie die zerstörten Planken und durchlöcherten Pforten sah. Es war Angst, denn jene Furcht sickerte durch alle Ritzen des zusammengehämmerten, zweistöckigen Gebäudes. Die Einschusslöcher und die zertrümmerten Wände waren Zeugen der Kämpfe, die an diesem Platz stattgefunden hatten, zudem meinte die Ritterin auch, hier und dort verkrustetes Blut zu erkennen. Sie verlangsamte ihre Schritte und drückte eine der Türen vorsichtig nach innen. Die Heimlichkeit war eine vollkommene Scharade, denn die Scharniere der Pforte quietschen wie eine sterbende Hyäne. Dieses Asyl war ein Schandfleck, selbst im heruntergekommenen Venedig beschmutzte es die Welt durch seine Anwesenheit, ein Exil für die Gejagten. Als Gedanken wie dieser durch Valencias Hirn flackerten, tat sie den ersten Schritt in das Gebäude und bereute es im selben Moment. Drei Waffenläufe waren auf sie gerichtet, das Mädchen roch sogar den Gestank des Schießpulvers, der in ihre Nase drang. Die Menschen, welche sie bedrohten, waren mit Narben und Wunden nur so übersät, ihre Körper muteten wie lebendige Waffen an. Die Kreuzritterin schluckte, denn eine Inquisitorin gehörte gewiss zu den letzten Dingen, welche jene Tiere nun sehen wollten.
„Was willst du?“, spie sie ein zu kurz geratener Mann mit einer Hakennase an und drückte den Lauf seiner Winchester weiter an ihre Wange.
„Ich muss zu Skye.“, antwortete Valencia und versuchte, so wenig wie möglich zu zittern. Der Raum war voll mit heruntergekommenen Gestalten, manchen fehlten Körperteile, andere grinsten die Silberfaustgeweihte wie ein Stück Rinderbraten an. Der Sprecher lachte und rief den Namen des Ketzers in den Raum.
„Was ist?“, schellte eine Stimme aus einem kleinen Nebenraum, der mit einer purpurnen Decke verhangen war.
„Ein Paladin! Sie meint, sie ‚sucht’ dich!“, lachte der Hakenmann zurück. Kurz herrschte Stille, dann erklang die raue Stimme noch einmal.
„Lasst sie rein.“
Die Verfolgten schienen verwirrt, aber Valencia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als sie den Lauf der Schrotflinte mit ihrem Zeigefinger aus dem Gesicht drückte.
„Ihr habt ihn gehört. Ich will nichts mit euch zu tun haben.“
Ein allgemeines Gebrabbel erhob sich, als sich die Ritterin mit großen Schritten einen Weg zwischen den zwielichtigen Gestalten bahnte. Sie schob den Vorhang beiseite und trat in den Nebenraum.
„Seid ihr Skye?“, befragte sie einen vermummten Mann mit schulterlangen schwarzen Haaren, der in einer Ecke hockte und an einer Wasserpfeife zog. Er war der einzige in dem Raum und als er den Kopf anhob, musste Valencia schlucken, denn sein Blick verriet Abscheu.
„So nenne ich mich hier. Warum sollte ich dich nicht sofort umbringen?“
„Es gibt keinen Grund für eine Auseinandersetzung.“, argumentierte Valencia und eine Schweißperle rann ihr über die Wange, „Ich habe den päpstlichen Auftrag, euch in den neuen Vatikan zu bringen, wo man euch einen fairen Prozess wegen Ketzerei machen wird, und wenn Gott euch gnädig ist und ihr seine Wege nie verraten habt, wird man euch wieder auf freuen Fuß gehen lassen.“
Der Mann grinste, ein wissendes Lächeln, welches Valencia schaudern ließ, denn allein seine Miene war eine einzige Blasphemie. Waren seine Taten auch nur im Ansatz so ketzerisch wie seine Mimik, hatte er keine Chance, den Prozess unbeschadet zu überstehen. Skye erhob sich und das erste Mal fiel der Silberfaustritterin der gewaltige Körper auf, der gewiss sieben Fuß in die Höhe schoss, mit Schultern so breit wie ein Amboss. Er war dünn, beinahe ein wenig ausgemagert, sofern man das durch den Umhang und die Muskeln erkennen konnte.
„Wie ist dein Name?“
„Valencia Locarno…“, antwortete sie wie in einem Reflex und zog das Bildnis hervor, das sie vom heiligen Vater erhalten hatte. Der Junge darauf war gewiss Skye, die dunklen blauen Augen und die niedrige Stirn waren unverkennbar, allerdings lag eine Wut und eine Trauer in den Augen des Ketzers, die dem Kind noch fremd gewesen war. Plötzlich stoppte Skyes Lachen und er zerrte der Ritterin das Bild aus der Hand.
„Wo hast du das her?“, spie er sie wütend an und wühlte dabei mit dem rechten Arm in den Tiefen des langen Mantels herum. Valencia gefiel der herrische Ton nicht, weshalb sie nur trotzig „Direkt vom heiligen Vater!“ antwortete. „Er hat mir gesagt, ich soll dich zu ihm bringen, ob tot oder lebendig!“
Skye lachte wieder und zog seinerseits ein Stück Pergament hervor. Valencia bemerkte, dass er den rechten Arm unter dem Mantel verborgen hielt, konnte sich aber nicht vorstellen, woran es lag. Dann stockten ihre Gedanken, denn sie blickte auf ein Bild, das dem ihren ähnelte, nein, sie erkannte es sogar als den fehlenden Teil!
„Was…?“
Der Verhüllte lachte und hielt die beiden Bilder zusammen. Sie ergaben eine kleine Familie, neben dem Jungen auf Valencias Seite zeigt es nun auch noch eine hübsche Frau und einen Mann höheren Alters.
„Meine Eltern.“, meinte Skye düster und übergab der Silberfaustgeweihten das zusammengesetzte Bildnis, „Man nennt diese Bilder Fotographien, alte Technologie, wie ihr es bezeichnet.“
Die Ritterin konnte nur auf das Foto starren, als das Gemurmel im Hauptraum der Zuflucht unüberhörbar wurde. Aus irgendeinem Grund glaubte sie, den Vater der Familie schon einmal gesehen zu haben, aber ihr Gedächtnis verbat jeden weiteren Vorstoß.
„Ich komme mit dir zum Papst.“, meinte Skye plötzlich, „Heißt, sofern wir hier noch lebend herauskommen.“
„Aber warum…?“
„Die Aasgeier hier warten nur auf einen Grund, mich abzustechen, und dein Erscheinen hier ist dafür nicht gerade ungeeignet.“
„Aber warum haben sich dich bisher noch nicht getötet?“
Skye grinste wieder und schritt auf die Tür zu.
„Dieser Raum gebührt dem Stärksten unter ihnen.“
Valencia schluckte, als er den Purpurumhang beiseite zog. Abermals blickten sie in die Läufe zahlreicher Waffen und in die Gesichter unzähliger blutrünstiger Schurken. Diesmal warteten sie nicht.
Die Kugeln zischten am Körper der Silberfaustgeweihten vorbei, als sie Schutz hinter dem massigen Körper des Ketzers suchte. Sie spürte, wie einige Projektile den Mann trafen und fürchtete schon das Schlimmste, denn auf seinen Tod würde der ihre unweigerlich folgen. Valencias Kehle zog sich zu und sie verfluchte ihre eigene Unfähigkeit, als Skye seinen Umhang beiseite warf. Seine rechte Körperhälfte war mit seltsam metallisch glänzenden Fäden durchzogen und der komplette rechte Arm mutete wie ein Stück Metall an. Die Ritterin erkannte die dampfenden Stellen, an denen die Kugeln in das seltsame Konstrukt finsterer Magie eingetreten waren und realisierte im nächsten Moment, dass die rechte Oberkörperhälfte nicht nur künstlich anmutete, sie war es. Sofort erfasste die Geweihte eine stechende Angst und sie umklammerte ihren Streitkolben noch fester als zuvor. Trotz allem war es dieser Arm alter Technologie gewesen, welcher die beiden gerettet hatte. Die Schurken schienen verwirrt und einige ließen sich mit auf den Kopf gekreuzten Händen zu Boden fallen, andere begannen mit Beten, obwohl sie ihren Gott längst verflucht hatten. Skye nutzte die geschockte Situation, um das Mädchen auf seinen menschlichen Arm zu nehmen und sprintete dann durch die Menge. Der einzige Bandit, der es wagte, sich ihm entgegenzustellen, wurde von dem synthetischen Arm in der Magengrube getroffen, an eine Wand geschleudert und spuckte Blut zu Boden, ohne den Ketzer auch nur zu verlangsamen. Gerade, als die ersten Widersacher zum nächsten Schuss ausholten, brach Skye durch die morsche Tür des Gebäudes, die sich seiner finsteren Macht nicht widersetzen konnte, zu Recht, wie Valencia meinte. Sie selbst klammerte sich an dem aus Metallplatten und breiten, beinahe kettenartigen Fäden zusammengesetzten Rückgrat fest, um nicht den Halt zu verlieren. Die Projektile der wütenden Waffen schossen noch einige Sekunden hinter dem ungleichen Paar her, dann erreichten sie den Hafen. Ohne auf die Bedenken der protestierenden Silberfaustgeweihten zu achten, sprang Skye in einen kleinen Fischerkutter und zerdrückte das gewiss eine halbe Hand breite Seil, welches das Schiff am Fahren hindern sollte. Valencia fand sich mit dem Diebstahl ab, sie würde später Buße leisten. Nun ging es erst einmal darum, zu überleben, und so begab sie sich ans Steuer des Kutters und lenkte ihn weg vom Hafen. Als die ersten Verfolger den Hafen erreichten, verschwand das langsam sterbende Venedig gerade aus dem Blickfeld der Flüchtenden.


Diese Sonne verschwand gerade im Mittelmeer und Valencia zwang sich, nicht ständig ängstliche Seitenblicke auf den Ketzer zu werfen, der sich an den Bug des Schiffes gesetzt hatte und sogar ein wenig … zufrieden anmutete.
„Was ist?“, fragte seine raue Stimme und Valencias Herz machte einen Sprung. Der Vatikan war noch weit entfernt, außerdem konnte sie sich nach der Vorstellung im Versteck der Verfolgten beim besten Willen nicht vorstellen, warum er mit ihr gekommen war.
„Nun ja…“, antwortete sie zögerlich und warf noch einmal einen Blick auf den halben Metallkörper, „Was zur Hölle habt ihr mit eurem Arm getan?“
Skye grinste abermals und lehnte sich an die Holzplanken.
„Meinst du, ich wäre einen Pakt mit dem Teufel eingegangen?“
Valencia konnte sein Lachen nicht nachvollziehen und blickte ihm tief in die Augen.
„Seid ihr es?“
Skyes Lachen verstummte bei ihrem ernsten Tonfall und einen Moment lang glaubte sie, Trauer zu entdecken.
„Ich nicht. Aber der, den ich suche.“
„Und wen sucht ihr?“
„Meinen Vater. Wohl der einzige Mensch hier auf der Erde, der den Namen Ketzer wirklich verdient hätte.“
Valencia dachte kurz nach, was er meinte und zog dann die Fotographie hervor. Abermals übermannte sie ein Schauer, denn sie meinte noch immer, den erwachsenen Mann darauf schon einmal gesehen zu haben.
„Heute dürfte er jünger sein.“, meinte Skye, ohne sie anzuschauen, „Und ich habe gehört, er soll sehr wichtig geworden sein.“
Die Silberfaustgeweihte hatte plötzlich eine Eingebung, ohne auf die Worte des Mannes zu hören. Sie kannte den Vater tatsächlich. Allerdings sah er auf diesem Bild … tatsächlich viel älter aus. Es ergab keinen Sinn und sie verdrängte den Gedanken.
„Hast du schon einmal von der Cloudflower gehört?“
„Ja.“, meinte Valencia, aus ihren Gedanken gerissen, „Ein Luftschiff, das die Umwälzung überstanden haben soll. Nur ein Gerücht.“
„Nein. Sie ist meine Heimat.“
Skye hat sich noch immer nicht bewegt und starrte in den Himmel. Die Ritterin blickte ihm tief in die Augen, erkannte aber kein Zeichen einer Lüge.
„Und auch die Heimat meines Vaters. Doch heute sind wir beide hier.“
„Es gibt sie wirklich? Warum sollte ich euch glauben?“
„Nun ja.“, lachte er, „Du hast gewiss schon das ein oder andere Stück verschollene Technologie gesehen. Aber ich bezweifle, dass irgendjemand von hier unten im Stande wäre, einen Arm zu ersetzen!“
„Ersetzen…?“, wiederholte sie langsam das Wort, welches ihr im Bezug auf einen Arm schrecklich unpassend erschien.
„Ja. Mein Vater hat mir meinen echten Arm genommen. Deshalb gab man mir eine Prothese, einen künstlichen Arm.“
„So wie ein gemaltes Bild also?“
Skye lächelte.
„In etwa. Nur mit dem Unterschied, dass man die hässlichen Teile wunderschön gemalt hat. Wie du vielleicht gemerkt hast, ist die Kraft dieses Armes nicht mit der des menschlichen Fleisches vergleichbar.“
„Ich sehe nichts Gutes daran, wenn der Mensch durch Kunst ersetzt wird. Das ist Blasphemie.“
Es war nicht schwer, zu erkennen, warum man Skye einen Ketzer nannte, aber das Ersetzen eines Körperteils durch Technologie war einfach krank. Und doch fühlte sich Valencia nicht mehr ängstlich, die Furcht vor dem Fremden verschwand zunehmend, jetzt wo sie wusste, dass er ihr nichts Böses wollte.
„Das mag sein, Kind. Aber wir haben nicht an Gott geglaubt.“
Sie schluckte. Gott zu verschmähen war schrecklich. Aber seine Existenz anzuzweifeln?
„Warum seid ihr dann mit mir gekommen? Ihr hättet mich problemlos überwältigen können! Im Vatikan wird man eure Ansichten nicht gerne hören.“
Skye grinste und legte den Kopf in die Schultern.
„Wie gesagt, ich suche meinen Vater. Und ich bin mir sicher, ihn dort zu treffen.“
Es konnte nicht sein. Valencias Verstand zweifelte noch immer an dem, was ihr eigentlich schon längst klar geworden war.
„Redet ihr vom heiligen Vater?“
Skye antwortete nicht, aber die Ritterin verstand, dass ihre Theorie richtig war. Der Mann auf dem glänzenden Bildnis war tatsächlich der Papst, wenngleich er auf dem Bild beinahe 30 Jahre älter aussah. Sie verstand es - und doch wieder nicht. Aber ihr Gefühl sagte ihr, dass sie richtig lag. Und das Skye nicht log.
„Also ist euer Vater … der Papst?“
Der Ketzer stand auf und blickte in den Himmel.
„Ja. Er ist mein Vater. Aber ein rechtmäßiger Papst ist er mit Sicherheit nicht.“
Valencia atmete tief durch. Eine gute Silberfaustritterin hätte ihm solche Worte unterbunden. Ein guter Mensch hätte diesen künstlichen Arm, diese Blasphemie Gottes, zerstört. Ein guter Christ hätte sich nicht solche Worte über seinen Gott gefallen lassen.
Aber Skyes ruhige, wissende Sätze ließen Valencia Locarno das erste Mal in ihrem Leben zweifeln. Die Ketzer, die sie bisher kennen gelernt hatte, waren eigentlich immer schreckliche Teufelsfanatiker oder aber Angehörige des Arcadia-Ordens gewesen. Aber niemals hatten sie ruhig über den Herrn gesprochen, zudem hatte noch niemand seine pure Existenz angezweifelt, oder aber gewiss nicht mit einer solchen Selbstsicherheit und mit scheinbar gesundem Verstand. Der Schiffkutter trieb weiter durch die Gewässer der ehemaligen Adria, die gut ein Jahrhundert früher zusammen mit dem Rest Italiens in das Mittelmeer übergegangen war. Die Sonne war längst hinter dem Horizont verschwunden, als das Schiff den Vatikan erreichte.


Das päpstliche Edikt öffnete der Silberfaustgeweihten selbst im Vatikan alle Türen. Skye, der seinen metallenen Körper mit Leinen verhüllt hatte, trottete hintendrein und versuchte, den wenigen Akolythen und Anwärtern, die sich um diese Zeit noch in den Gängen herumtrieben, nicht aufzufallen.
„Was werdet ihr tun?“, fragte Valencia, ohne ihm in die Augen zu schauen. Der Ketzer schwieg eine Zeit lang, dann erklang seine tiefe Stimme doch noch, wie das Einwilligen eines Erpressten.
„Ich werde das tun, was ihr schon vor fast einem guten Jahrhundert hättet tun müssen.“
„Wie alt seid ihr überhaupt?“, platzte es aus der Silberritterin heraus, ohne das sie auf seine Worte geachtet hatte.
„Die alte Technologie hat uns viel ermöglicht, Mädchen. Der Tod ist das Einzige, das wir damals nicht kontrollieren konnten, wohl aber die Lebensspanne eines Menschen.“
Valencia schluckte.
„Das ist dunkle Magie. Man sollte das Himmelreich nicht verschmähen.“
„Meinst du?“, lächelte der Ketzer, „Das, was man heute mit ‚Alter Technologie’ betitelt, nannten wir Wissenschaft. Und es war keine schwarze Magie, es war eher wie ein Spiel.“
„Ein … Spiel?“
„Ja. Und wir haben verloren, weil wir unsere gewaltigen Einnahmen mit einem einzigen Mal gesetzt haben.“
Valencia blickte ihn an und schüttelte den Kopf.
„Was auch immer damals passiert ist, ich habe es schon einmal gesagt, man sollte den Himmel nicht verschmähen.“
„Hm.“, grummelte ihr Gegenüber, „Solange ich nicht weiß, ob ich in Wahrheit die Hölle verschmähe, bleibe ich doch lieber auf dieser Welt.“
Skye wandte sich von ihr ab, und bis die großen, rot bestickten und mit Gold beschlagenen Türen der päpstlichen Gemächer vor ihnen erschienen, redeten sie kein Wort miteinander. Niemand war zugegen und Valencia kam zu dem Schluss, dass der heilige Vater die Einsamkeit wohl generell bevorzugte. Sie atmete tief durch, nickte dem Ketzer noch einmal zu und schob das große Portal weit auf. Papst Leo XV schien sich seit ihrem letzten Treffen nicht bewegt haben, denn noch immer saß er lächelnd auf dem goldenen Stuhl, ein wenig Kindlichkeit lag in seinem Gesicht. Als er Skye erkannte, verdunkelten sich seine Augen.
„Es scheint mir, Valencia, du hast meinen Auftrag durchgeführt?“
„Ja!“, antwortete sie mit einer festen Stimme, soweit es ihre zitternden Beine zuließen. Der Ketzer trat nach vorne und ließ den Umhang zu Boden gleiten.
„Hallo, Vater.“, meinte er leise, aber mit einer gewissen Wut in der Stimme, wie die Ritterin bemerkte. Der scheinbar junge Papst lächelte und erhob sich von seinem Sitz.
„Ich hatte vor einigen Jahrzehnten gehört, dass ein Magier mit einem verhexten rechten Arm aufgetaucht sei… Ich dachte mir gleich, dass du es warst.“
Der Papst schritt auf die Beiden zu, aber als Skye eine Verteidigungshaltung einnahm, stoppte er verblüfft.
„Mein Sohn? Was ist los, freust du dich denn gar nicht, deinen Vater zu sehen?“
„Mein Vater…“, knurrte Skye, „Sollte nicht wie mein eigener Sohn aussehen!“
Mit diesem Wort schnellte der Ketzer nach vorn und rammte seinem Vater die künstliche Faust in den Magen. Dieser schrie und stürzte vor seinem kleinen Tisch zu Boden.
„Was tust du? Ich will dir nichts Böses!“, raunte er und spuckte einen kleinen Blutschwall auf den Marmorboden. Valencia konnte nur wortlos zusehen, wie sich die Blicke von Vater und Sohn duellierten. Skye starrte voller Wut auf die Gestalt herab.
„Du hast mir meinen Arm genommen! Nur, weil du Angst vor dem Tod hattest!!“
„Das ist … falsch!“, fiel ihm der Vater ins Wort und drückte sich an der Tischkante nach oben. „Ich wollte nur das Beste für euch!“
Skye warf der Silberfaustritterin einen Seitenblick zu und lächelte hämisch.
„Hör mir gut zu, Valencia, ich erzähle dir die Geschichte von dem Mann, der sein ganzes Leben der ‚schwarzen Magie’ gewidmet hat!“
Papst Leo verzog die Mundwinkel, sagte aber nichts.
„Es war vor vielen Jahrzehnten, da lebten ich, mein Vater und meine Mutter als zufriedene Familie auf der Cloudflower. Und es ging uns gut, bis Leonardo Valentino sich eines Tages entschloss, seinen Körper der Wissenschaft zur Verfügung zu stellen.“
Valencia blickte zu der schwächlichen Gestalt des Papstes, und obwohl sie nicht alles verstand, was Skye ihr erzählte, war ihr nun unwohl in der Gegenwart des heiligen Vaters.
„Die Wissenschaftler experimentierten jedenfalls ein wenig an ihm herum, und wir erfuhren erst später, dass er sehr wohl wusste, um was es ging. Denn unser Vater fürchtete sich nie vor irgendetwas, er war ein mutiger Mann! Das einzige, das ihm jedes Mal wieder zum zitternd brachte, war die Erwähnung des Todes. Natürlich, die Technologie war im Stande, die Lebensdauer der Zellen zu verdoppeln oder gar zu verdreifachen, aber letztendlich würde doch ein jeder Mensch von dieser Welt weichen, und egal, wie man es unten auf der Erde nahm, auf der Cloudflower glaubte niemand an einen Gott.“
Skye spie das letzte Wort förmlich aus und fuhr mit geballter Faust fort.
„Das Experiment sollte seinem Körper eine Selbstregenerationsfähigkeit geben, kurz gesagt also die Unsterblichkeit. Doch das Experiment misslang, wie wir schmerzhaft feststellten. Sein Körper war tatsächlich im Stande, die abgestorbenen Zellen zu regenerieren, noch besser, er konnte sogar ihr Wachstum steigern und so seine körperlichen Eigenschaften um ein Vielfaches vergrößern. Allerdings hatten die Wissenschaftler nicht bedacht, dass eine jede Zellregeneration Energie benötigt, und da niemand den veränderten Zellen keine Energiequelle zur Verfügung gestellt hatte, suchten sie sich eine eigene. Die Zellen der anderen Lebewesen.“
Eine verhängnisvolle Ruhe schlich in den Raum und eine Träne lief über Skyes Wange, ohne das sich sein Gesichtsausdruck weicher geworden wäre. Als er weiter sprach, pendelte seine Stimme zwischen Wut und Trauer.
„Meine Mutter war die Erste, die unter dem Größenwahn leiden musste. Ich habe gesehen, wie sie neben seinem Körper und vor meinen Augen zu Staub zerfallen ist, erst die Haut, dann das Fleisch, schließlich sogar die Knochen. Ich verstand damals nicht, dass mein Vater dafür verantwortlich war und rannte zu ihm. Er stieß mich zurück, und seine bloße Berührung ließ meinen rechten Arm verdampfen. Ich verlor schreiend das Bewusstsein, und später erzählte man mir, dass er nach dem Mord an den drei verantwortlichen Wissenschaftlern aus der Cloudflower gesprungen sei. Ich hatte schreckliche Angst um meinen Vater, und erst mit der Zeit realisierte ich, dass er tot war.“
Valencia warf einen Blick in die Augen des Papstes. Sie verkündeten eine gewisse Reue und sahen starr zu Boden.
„Nach einigen Jahren, man hatte meinen fehlenden Arm mit einer Prothese ersetzt, erhielten wir plötzlich die Nachricht, dass auf der Erde, unter den Wolken, auf denen wir schwebten, ein Leonardo Valentino zum Papst gewählt worden war, und auch seine Beschreibung traf auf meinen Vater zu. Zuerst war ich glücklich, aber dann überkamen mich erste Gedanken. Wieso war mein Vater der Papst, wenn er doch nicht einmal mehr an Gott glaubte? Mit den Jahren verdichteten sich meine Zweifel und schließlich beschloss ich, ihn zur Rede zu...“
Leo begann so plötzlich mit Kichern, das Valencia erschrocken einen Schritt zurück wich, auch Skye unterbrach seine Rede und starrte den Vater wütend an.
„Du hast Recht, mein Sohn, es war eine falsche Entscheidung, mich für das Projekt zu melden. Doch ich habe meine Fehler begriffen, Skye, ich habe mich gebessert!“
Sein Gesicht war ein wenig verzerrt und er streckte seinen Arm nach der Fruchtschale aus, die auf dem Tisch stand.
„Die Natur ist allmächtig, Valencia Locarno!“, meinte er mit einem Blick auf die Ritterin, „Und Gott ist die Natur! Ich bin nur aus einem einzigen Grund Papst geworden, nämlich um zu verhindern, dass die Menschen sich noch einmal vernichten können…“
Seine Stimme war wieder ruhig geworden, als er die Hand ausstreckte, um eine Banane zu ergreifen. Die Silberfaustritterin musste mit Schrecken in den Augen beobachten, wie sich die Schale nur in der Anwesenheit seiner Hand alt und faulig von der Banane rollte, um dann langsam zu verkümmern. Als der Papst die Frucht ergriff, zerfiel sie sofort zu Staub. Nun lachte Leo wieder.
„Ihr hattet die ganze Zeit Recht, Skye, du und deine Mutter! Die Unsterblichkeit ist nichts, nach dem ein Mensch streben sollte, denn sie ist Gott vorbehalten!“
Skye ballte die metallene Faust und knurrte seinen lachenden Vater an.
„Aber ihr vergesst, dass ich nun der Papst bin! Ich bin Gott!“
Skyes Faust traf das Gesicht des lachenden Vaters und ließ seinen Kopf auf den Tisch schlagen. Leo rammte daraufhin seine Hand in die Obstschale und die Früchte verwandelten sich nach und nach in Staub. Valencia atmete schnell, als sie erkannte, dass die Muskeln des heiligen Vaters leicht angeschwollen waren. Sie zog entschlossen ihren Streitkolben, denn der Posten des Ketzers hatte sich gewandelt. Bevor Skye reagieren konnte, nahm Leo einen der goldenen Kerzenständer zur Hand und hob kräftig nach den Knien seines Sohnes, wo dieser mit dem synthetischen Arm nichts ausrichten konnte. Sein Gegner sprang gerade noch rechtzeitig zurück, bevor ihn der Hieb von den Beinen holen konnte.
„Du bist nicht Gott!“, rief Skye und stürmte ein weiteres Mal auf seinen Vater zu. Dieser duckte sich unter dem Angriff hinweg und schleuderte den wuchtigen Körper des Angreifers über seinen Rücken.
„Oh doch!!“, lachte er, „Alles vergeht, so wie dieses Obst! Ich bin das Einzige, das ewig währen wird!“
Valencias Knien schlotterten und auch ihr Arm bewegte sich kaum. Die Ereignisse waren zuviel für sie gewesen. Krampfhaft versuchte sie, ihre Fassung zurück zu gewinnen.
„In diesem Moment“, rief Leo, „Sind meine Leibwächter auf dem Weg hierher. Du solltest dich beeilen, mein Sohn!“
Skye sprang gerade wieder auf seine Beine, als zwei bullige Gestalten durch die Tür traten. Valencia sahen sie wahrscheinlich nicht als Bedrohung an, denn die lebenden Schränke passierten die Ritterin einfach, als wäre sie überhaupt nicht da. Schützend umzingelten sie den heiligen Vater.
„Zu spät.“, raunte der Papst und legte seine Hände irre grinsend auf die Schultern der Leibgardisten.


Die Silberfaustritterin fiel auf die Knie, als sie sah, wie das Leben aus den mit Entsetzen gezeichneten Gesichtern der beiden Wächter wich. Ihre bulligen Muskeln schienen den Dienst zu versagen, die Haut wurde alt und runzlig, nur um schließlich zu Staub zu zerfallen, der Rest der Körper tat es ihr gleich.
„Du bist krank … Vater.“, konnte Skye noch hervorbringen, bevor Leonardo sich ein weiteres Mal veränderte. Abermals wuchsen seine Muskeln an, allerdings hatten seine unheiligen heiligen Hände diesmal nicht nur in eine Obstschale gefasst. Die Nerven wurden auf den taillenbreiten Armen sichtbar und der Körper des Papstes wuchs gut einen halben Meter. Gegen diese Aberration hatten die beiden Leibwächter wie bemitleidenswerte Strohhalme ausgesehen. Skye schnappte nach Luft und rollte sich aus einem Instinkt heraus zur Seite, als sein Vater blitzschnell auf ihn zusprang. Die Gestallt riss einen Vorhang von der Wand, und sein samtiges Rot verteilte sich wie Blut auf dem Boden der Gemächer. Valencia war noch immer nicht im Stande, sich zu bewegen, die Angst schürte ihr die Kehle zu.
„Du kannst mich nicht töten.“, meinte Leonardo seelenruhig zu Skye, als dieser den metallenen Arm in seine Richtung schleuderte. Der Papst fing das Konstrukt mit der offenen Hand ab und grinste. „Ich bin ein Gott!“
Der Konter verfehlte den Ketzer nur um eine Haaresbreite an der Brust, aber selbst diese Nähe ließ Skye keuchend zu Boden gehend. Mit letzter Kraft stemmte sich der Sohn auf die Beine und lächelte dem Vater ins Gesicht, was diesen sichtbar verunsicherte.
„Du hast Recht … Vater, ich kann diesen Wahn nicht mehr … aufhalten. Genau so wenig wie du … die Menschen am Fortschritt hindern kannst. Und irgendwann werden sie erfahren, welchen Teufel sie verehrt …haben.“
„Wir werden sehen.“, lächelte Leonardo und holte zu einem weiteren Schlag aus. Doch Skye wich sofort zurück, ergriff einen Vorhang und riss ihn von der Wand. Keuchend schleppte er sich zu Valencia und nahm ihr Gesicht in die Hände. Das Metall fühlte sich kalt an und weckte ihre Lebensgeister.
„Ich halte ihn … auf. Heute haben wir versagt.“
Valencia wollte widersprechen, aber der Ketzer nahm sie einfach in den Arm, drückte ihr den Vorhang in die Hand und küsste sie auf die Stirn. Dann trug er sie zu dem einzigen Fenster.
„Gut festhalten.“
Als der Papst wieder begann, sich zu bewegen, realisierte Valencia, was Skye vorhatte. Sie ergriff die Enden des Vorhangs gerade in dem Moment, als seine Arme sie fallen ließen. Für Protest blieb ihr keine Zeit, als sie den Nachtwind spürte, der ihr Haar zerzauste und sie mit dem roten Saum als Fallschirm auf die Klippen zu gleiten ließ. Das Schicksal spielte ihr zu, denn ihr Landeplatz war zwar nicht weich, aber doch recht sicher. Neben ihr schlugen die Wellen gegen die Felsen und viel weiter oben erkannte sie das Kerzenlicht der päpstlichen Gemächer. Dann schluckte sie, denn es tat sich etwas. Sie erkannte Skye, dessen Oberkörper sich mit dem Rücken zu ihr über das Fenster neigte, von einer gewaltigen Kraft hinübergedrückt. Der Papst hatte seine Hand fast um den Hals des Ketzers geschlungen und Valencia bildete sich ein, das Glitzern in den Augen Leonardos zu erkennen. Dann löste sich der noch menschliche Teil an Skyes Körper auf, als wäre es nur ein Gebilde aus Sand gewesen. Wie in Zeitlupe stürzte der Metallarm an der Mauer nach unten und schlug neben Valencia auf. Sie verfluchte die Angst, die sie gerade noch getrieben hatte, aber in diesem Moment verfluchte sie noch etwas anderes. Die Augen der Beiden Überlebenden trafen sich durch die Dunkelheit der Nacht, dann verschwand das hassverzerrte Gesicht Leonardos des Fünfzehnten wieder in seinem Zimmer. Valencia stand noch lange so da, der Vorhang hatte den Felsen scharlachrot wie Blut bedeckt und der einsame künstliche Arm lag in sich gekrümmt neben der Silberfaustritterin. Ihre Augen lagen noch einige Zeit auf dem Fenster, dann wendete sie entschlossen ihren Blick ab.












*** Epilog ***


Die Pferdekutsche des heiligen Vaters durchlief eine große Prozession durch die Straßen des Vatikans. Die Menschen winkten dem verschlossenen Gefährt zu, lachten und fielen vor Wehmut auf die Knie. Leonardo fühlte sich unwohl, so in der Menge der Menschen. Der Ort, an den sich der Zug nun begab, lag nicht mehr fern, die große, aus weißem Marmor geschlagene Säule prangte schon hinter einigen Gebäuden in den Himmel.
„Entschuldigt, eure Heiligkeit, habt ihr schon von den ‚Himmelskriegern’ gehört, eure Heiligkeit?“
Die Frage des nervigen Sekretärs störte den Papst. Man müsste taub sein, um nicht von ihnen gehört zu haben.
„Durchaus, Pablo. Aber ich glaube nicht daran. Niemand wäre töricht genug, um mitten im Vatikan eine Geheimorganisation…“
In diesem Moment erklangen entsetzte Schreie vom Zielort der Prozession und Pablo fuhr zusammen. Der Papst erhob sich und verließ die Kutsche. Die Menschen waren wie Ratten, die sich in ihre Löcher verkriechen, in die Seitenstraßen verschwunden und warteten dort unsicher auf das, was als nächstes passieren würde. Die große Hauptstraße war wie leer gefegt, nur die Überreste der Festlichkeiten und die Häuser, die den Weg markierten, ließen sie noch als solche erkenntlich werden. Leonardo verließ die Kutsche, Pablo trottete zitternd hinter den sicheren Schritten des Papstes her. Es war nicht schwer, zu erkennen, vor was sich die Menschen gefürchtet hatten, denn auf dem Platz, auf welchem die Himmelssäule stand, lagen die von Kugeln durchlöcherten Leichen einiger Silberritter. Aber das Interesse des heiligen Vaters erregte eine andere Sache. Ein rotes Tuch war um die sonst so marmorweiße Himmelssäule gebunden, und als der Papst näher kam, erkannte er auch den Gegenstand, der mit einem gewaltigen Schwert in das Bauwerk gerammt worden war, etwa in zehn Fuß Höhe über dem Boden.
Es war ein metallener Arm. Und seine Finger zeigten direkt auf den Papst.
„Wie … töricht.“, meinte Pablo und rückte seine Brille zurecht.
Leonardo warf ihm einen bitterbösen Blick zu und beobachtete noch einmal die Szene. Beim näheren Betrachten erkannte er das Schwert in der Säule als die Langwaffe der Silberritter. Sie hatte den synthetischen Arm durchbohrt, und genau unter jenem Stück alter Technologie begann das rote Tuch, sich um den Marmor zu winden. Dort, wo es endete, lagen die Leichen der Silberritter.
„Ich verstehe, Valencia Locarno.“, murmelte er für sich, ohne, dass es sonst irgendjemand hätte hören können, „Ich habe dein Blut vergossen, und jetzt willst meines. Wir werden ja sehen, wer mehr davon hat.“
Lächelnd zog er das Schwert aus dem Arm und ließ die Prothese wie ein totes Schwein zu Boden fallen.




Ende...