Nur das keiner denkt, die Sache wär gestorben, ich arbeite grad mit Daen an der Verbesserung des Systems. Wenns in einem annehmbaren Zustand ist, wird er es dann mal hochladen.
Aus purer Langeweile hier eine kleine Geschichte. (bzw. deren Anfang.
)
*** Prolog ***
Dieser Traum, dieser schreckliche, immer wiederkehrende Traum. Vor seinen glasigen, kalten Augen die bläuliche Flüssigkeit, nur von dünnen Kabeln durchbrochen, welche die Chemikalien in seine Venen pumpten. Kein Schlaf, keine Ruhe, kein Frieden, nicht einmal mehr der Tod. Vor ihm, an der Scheibe das Gesicht eines Kindes, das Gesicht seines Sohnes mit den kurzen schwarzen Haaren und den runden, besorgten Augen. Neben ihm die Doktoren. Er konnte nicht sprechen, die Kraft reichte nicht aus, außerdem war die Flüssigkeit überall in dem Gefäß. Aber er hörte, was sie sagten.
„Sein Körper hat es nicht verkraftet. Der Lebenswille ist enorm, er wird es überstehen, aber er wird nie wieder…“
Die Stimmen verstummten, als eine junge Frau die Abgrenzung durchbrach und mit Tränen in den Augen auf das gläserne Gefängnis zustürmte. Er wollte weinen, denn seine einzige Liebe hatte Tränen auf dem Gesicht, Zeichen einer Trauer, die ihm fremd war. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, traurig zu sein. Der Körper der Frau drückte sich an die Scheibe, als wäre es sein eigener Körper.
„Halt!“, schrieen die Wissenschaftler, „Er ist genetisch verändert! Es ist zu riskant!!“
Doch sie hörte nicht. Niemand hatte den Mut, so nah an die Kuppel heranzutreten. Plötzlich spürte er etwas. Es war das erste Mal seit Monaten, dass er überhaupt etwas fühlte. Ein Hauch von Stärke schien in seinen Körper zurückzukehren, aber gleichzeitig schmerzte sein Kopf. Dann sah er das Entsetzen in den Augen seiner Angetrauten, als sie zusammenbrach. Nur ihre Hand klebte noch an dem Glas der Scheibe. Nun kochte Wut in seinem Körper, denn er spürte, wie die Kraft der Frau in seinen Gliedern empor kroch.
„Was… habt ihr mir angetan…?“
Seine Lippen bewegten sich, auch wenn die Worte nicht die bläuliche Flüssigkeit durchdrangen. Dann fühlte er sich mächtig, aber zugleich hilflos, denn die Haut seiner am Boden liegenden Frau war alt und faltig geworden, obwohl sie kaum erwachsen gewesen war. Sein Sohn stand zitternd daneben und starrte die Leiche der Mutter an, Ihre Haare fielen ihr vom Haupt und die Glieder wurden dünn und schrumpelig. Als ihre Knochen zum Vorschein traten, begann der Vater mit Schreien. Dieser Schrei erreichte die Ohren der drei Wissenschaftler, als die Scheibe zerbarst und die Flüssigkeit den Raum bedeckte. Er sprang aus dem Kegel und landete weich auf dem Boden. Die Scherben unter seinen Füßen schien er kaum zu merken, und sein ganzer Körper fühlte sich an wie zu seinen besten Zeiten. Der kleine Junge konnte den Blick von der toten Mutter losreißen und rannte mit Tränen in den Augen auf ihn zu. Als sein winziger Arm die Schulter des Mannes berührte, spürte dieser eine weitere Woge der Macht, die sich einen Weg durch seinen Körper suchte. Die Versuchung war groß, aber er stieß das schreiende Kind beiseite. Als er ihm nachschaute, erkannte er, dass am Arm seines Sohnes eine Spur aus braun-schwarzen Geschwüren hinauf gekrochen war. Als auch das Kind realisierte, was geschehen war, begann es mit Kreischen, denn sein Arm zerfiel wie eine Sandburg unter einem Wasserfall. Der Mann spürte eine Erregung, irgendwo zwischen hoffnungsloser Verzweiflung und endloser Wut, als er seine Hand um den Hals eines Wissenschaftlers legte und durch die offene aus dem Raum schnellte, den bemitleidenswerten Forscher in seinem kräftigen Arm. Panisch blickte er sich um, aber die weißen Gänge schienen in die Unendlichkeit zu führen. Plötzlich verlor seine Hand den Griff, als auch der Wissenschaftler vertrocknete und schließlich zu Staub zerfiel.
„Was… was bin ich?!“, schrie er und blickte seinen nackten Körper herab, dann rannte er wahllos in eine Richtung. Er rannte einfach nur, er wollte nicht nachdenken, er wollte nicht wissen, was diese Menschen aus ihm gemacht hatten, er konnte nicht verstehen, warum seine Familie deswegen sterben musste. Er rannte immer weiter, bis der Gang schließlich endete. Es war eine breite Pforte, doch ihm war egal, wohin sie führte, Hauptsache weg von hier. Er drückte den Knopf, und plötzlich pfiff ihm ein eiskalter Wind entgegen. Dieses Portal führte in die freie Luft, weit unter sich konnte er den Ozean erkennen. Die Böen spielten mit seinen nassklebrigen Haaren, als ihn die Schritte der Wissenschaftler in seinen Gedanken unterbrachen.
„Warten sie, Herr Valentino! Tun sie das nicht!“
Die Männer kamen näher, und hinter ihnen hatte eine Staffel der Sicherheitseinheit Aufstellung genommen.
„Überlegen sie sich gut, was sie tun, mein Herr!“, rief einer der beiden verbliebenen Forscher, „Das Experiment ist misslungen, aber sehen sie doch ihre neue Fähigkeiten an! Sie können unsterblich sein!“
Unsterblichkeit… Der Grund, wegen dem er sich für dieses Experiment bereitgestellt hatte. Fähigkeiten? Die Fähigkeit, alles zu vernichten, was er berührte? Der Mann lächelte, ein leeres Lächeln, das Grinsen eines Menschen, der den Verstand verloren hat. Doch die Forscher verstanden diese Geste nicht, denn sie kamen immer näher.
„Außerdem kann uns ihr Körper einen unglaublichen Vorteil für die Wissenschaft bringen, wenn sie damit einverstanden sind!“
Er blickte dem Kittelträger ins Gesicht und entdeckte kein Bisschen Ironie, das Gesagte war vollkommen ernst gemeint. Er begann, sich zu hassen. Die Veränderung, die seinen Körper zerstört hatte, die Wissenschaft, die seine Familie vernichtet hatte. Er trat einen Schritt zurück und war schon am Fallen, als die Wissenschaftler seine Hände ergriffen. Narren. Er lächelte sie noch einmal mit weit aufgerissenen Augen an, als sich ihre Hände und Körper in Staub verwandelten, dann verloren seine Füße den Halt, als er aus der Höhe stürzte. Der Boden war noch fern und er würde den Aufprall mit Sicherheit nicht überleben. Er hasste sie dafür. Die Forscher, die Wissenschaft, und letztendlich auch sich selbst. Er spürte den kalten Wind, der seinen kraftvollen Körper streichelte Die Sonne brannte in dieser Höhe auf seiner Haut, und er lächelte noch immer, als der Ozean immer näher kam.
Yesterdays Tomorrow
*** Die Kreuzritterin ***
Das sanft flackernde Kerzenlicht in Valencias Zimmer war nur schwach, aber die grünen Augen des Mädchens glitten über die Seiten des Heftes. Sie hatte sich unter ihrer Decke verkrochen und las das seltsame Buch, wie sie es schon so oft getan hatte. Dennoch war es an diesem Tag ein anderes Gefühl. Ihre silberne Brustplatte lag auf den weißen Gewändern neben dem alten Holzbett, auch der metallene Streitkolben lehnte an der steinernen Zimmerfassade. Die Frühlingsluft lag angenehm warm im Zimmer. Die letzte Seite. Valencia hatte gewusst, dass dieser Tag einmal kommen würde, aber sie hätte nicht gedacht, dass er sie beinahe zu Tränen treiben würde. Dieses Buch hatte sie im Kindesalter irgendwo in einer Ruine gefunden, und es war ihr ans Herz gewachsen, auch wenn sie nicht einmal wusste, was es eigentlich war. Jemand hatte unzählige Bilder gemalt und ein wenig Text dazu geschrieben, Valencia hatte schnell bemerkt, dass diese Galerie in Buchform sogar eine kleine Geschichte erzählte. Aber es war nicht ein Buch mit Bildern, wie man es des Öfteren fand, eher war es eine Menge Bilder mit einer kleinen Geschichte darin. Es war einfach faszinierend. Das Buch gehörte zu ihrer Seele wie ihr Glaube, aber an diesem Tag würde sie eines von Beiden begraben müssen, und nach beinahe zwei Jahren Ausbildung im neuen Vatikan war ihr die Entscheidung nicht sonderlich schwer gefallen. Sie schlug sich eine warme Decke um den Körper und verließ ihr Zimmer. Der Gang war so tief in der Nacht wie leer gepflegt, aber trotzdem achteten die zarten Füße des Mädchens darauf, keine Geräusche zu verursachen. Vor einer jener Fackelschalen, welche die ganze Nacht durch brannten, machte sie Halt und sagte ein Gebet auf, bevor sie das Heft den Flammen übergab. Die Seiten verkohlten langsam, eine nach der anderen und eine Träne lief über Valencias Gesicht. Dennoch war sie glücklich, denn am nächsten Tag würde sie die Weihe des Silberblutes vollziehen und sich mit neunzehn Jahren endlich ihren großen Traum erfüllen. Valencia Locarno würde den Silberfaustrittern beitreten und im Namen Gottes ihre Waffe erheben. Die Eltern hatten dem Mädchen stets davon abgeraten, eine junge Dame sollte nicht in den Kampf ziehen, sie hätte doch Priesterin werden können, außerdem würde sie sich nur ihren zarten Körper verschandeln. Valencia lächelte. Ihre Eltern hatten Recht gehabt, denn abgesehen von den unzähligen blauen Flecken und Narben hatten ihre einst zierlichen Arme und Beine ordentlich an Muskelmasse zugelegt und sie zu einer beinahe jungenhaften Erscheinung werden lassen. Die hellbraunen langen Haare fielen allerdings noch immer lockig über ein zartes, mädchenhaftes Gesicht, welches die Zweifel an Valencias Geschlecht wohl komplett widerlegte. Sie stand noch einige Zeit so da und beobachtete den Sternenhimmel, dann dankte sie dem Herren noch einmal für seinen Segen und ging zurück auf ihr Zimmer, um sich zu Schlafe zu legen. Die Erinnerung an das verbrennende Buch verfolgte sie noch ein wenig, aber als Silberfaustritterin würde sie sich an den Geruch von brennender Literatur gewöhnen müssen. Aber es war richtig so, denn diese Erzeugnisse waren ebenso Teile der alten Technologie wie die gefährlichen Schusswaffen oder noch unerklärlichere Dinge. Valencia hoffte darauf, ihren Teil zur Läuterung dieser Welt beitragen zu können. Denn der Teufel hatte die Menschen dazu verführt, ihre Welt an den Rand des Ruins zu bringen. Die Silberritter waren der Orden, der dafür sorgen würde, dass sich so etwas nicht wiederholen konnte.
Für den nächsten Tag war eine große Prozession geplant, denn die zwanzig Anwärter, welche in diesem Jahr dem Orden des Silberblutes beitreten würden, sollten angemessen empfangen werden. Der neue Vatikan war auf einem alten, erloschenen Vulkan erbaut worden und bediente sich daher unzähliger Treppen aus Marmor, um eine Verbindung bis in sein Innerstes, bis ins Heiligtum zu schaffen. Die neuen Paladine hatten bereits Aufstellung genommen, als Valencia den kleinen, mit Blumen und Gold geschmückten Platz erreichte. Ihre Haare waren mit einem grünen Stirnband zurückgehalten, das lange, weiße Gewand einer Priesterin war rein und sauber, auch der glänzende Brustpanzer darüber hatte nie mehr geglänzt. Das Mädchen hatte ihre beschlagenen Sandalen zusätzlich dreimal am Unterschenkel festgebunden, um einem peinlichen Fehltritt zu entgehen, und trotzdem war sie nervös. Als sie den Festplatz beinahe erreicht hatte, legte sich eine breite Hand auf ihre Schulter. Es war ein riesiger Mann von gewiss zwei Metern mit einer routinierten Miene und einer silbernen Hellebarde in der Hand. Die päpstliche Garde. Einen Moment lang stieg Panik in dem Mädchen auf, hoffentlich hatte man sie in der Nacht zuvor nicht beobachtet.
„Valencia Locarno?“, fragte die feste Stimme des Ebenholzschrankes vor ihr.
„Ja, genau die.“, meinte sie, so überzeugend wie möglich, „Auf dem Weg zu ihrer Weihe, ich hoffe, ihr habt einen guten Grund, mich aufzuhalten.“
Der Gesichtsausdruck des Gardisten änderte sich nicht, als er antwortete.
„Ich denke, ein päpstlicher Befehl ist ein Grund, der gut genug ist.“
Das Herz des Mädchens rutschte ein Stück tiefer, und sie musste schlucken. Langsam nickte sie und folgte dem Mann. Ihre Gedanken überschlugen sich, als das ungleiche Paar sich immer weiter vom Platz der Prozession entfernte. Ein päpstlicher Befehl war eine gewaltige Ehre und würde gewiss nicht einer zu Teil werden, die als Ketzerin verdächtigt wurde. Aber wieso jetzt, am wichtigsten Tag ihres Lebens? Der Gardist führte sie durch eine Menge großer Türen und Portale, die extra für die Beiden geöffnet wurden. Sie waren tatsächlich auf dem Weg zu einer päpstlichen Audienz. Sie war froh, dass sie wegen der Prozession gut aussah, denn dem heiligen Vater sollte man nicht in dreckiger Übungskleidung entgegen treten. Dennoch wusste sie immer noch nicht um den Grund dieser Ehre. Einige Momente später befand sich Valencia im Audienzzimmer des Papstes und bekam kaum noch Luft, denn bis auf seine nächsten Angestellten hatte kaum jemand den heiligen Vater auch jemals nur gesehen. Papst Leo XV war bereits seit über einem halben Jahrhundert das Oberhaupt der Kirche und hatte die Institution immer sehr gut geleitet. Als er sein Amt antrat, war er fünfzehn Jahre alt gewesen, ein Wunderkind, zu dessen Gunsten sogar die Kirchenregeln geändert worden waren. Valencia wusste, dass der Papst bereits an die einhundert Jahre alt sein musste, und sie bereitete sich auf den Anblick vor, während sie wartete. Der Ebenholzschrank war verschwunden und sie befand sich nun alleine in dem großen Raum, dessen Wände mit rotem Samt und goldenen Ornamenten geschmückt waren. Endlich vernahm sie ein lautes Knarksen von der Hintertür des Raumes, als diese sich langsam öffnete, nur einen Spalt breit. Niemand trat hindurch, nur ein Schimmer hellen Lichts fiel durch den Schlitz.
„Mädchen?“, erklang plötzlich eine jungenhafte Stimme aus der Tür, „Bist du da?“
Valencia war ein wenig entrüstet darüber, Mädchen gerufen zu werden, zudem sich der Sprechende nicht zeigte. Ein wenig verwirrt bewegte sie sich auf die Tür zu.
„Komm rein!“, rief die Stimme, „Es wird kalt hier drin.“
Sie fasste sich ein Herz und betrat den Raum. Zweifellos, sie war in den päpstlichen Gemächern. Die samtroten Vorhänge hingen an den Wänden und an einem riesigen Himmelbett herab, zudem war hier mehr Gold auf einer Stelle versammelt, als sie je zuvor in ihrem Leben gesehen hatte. Das Zimmer war äußerst spärlich beleuchtet, nur zwei Kerzenständer am Eingang warfen Licht in die Schatten. In der Mitte stand ein kleiner Tisch, auf dem eine Obstschale stand, zudem zwei Stühle. Auf einem der goldenen Sitzplätze saß jemand, von den Schatten der Dunkelheit eingehüllt.
„Der Wind zieht durch!“, meinte die Person mit einer grazilen Geste auf die Tür, „Und bring einen Leuchter mit!“
Valencia bekam den Mund kaum zu und schloss die Tür hinter sich. Langsam ging sie auf den Tisch zu. Auf dem Stuhl saß ein junger Mann, höchstens zwanzig Jahre alt, der ein weiß-rotes Gewand mit einem goldenen Saum trug. Seine wirren, blonden Haaren lagen ohne Ordnung auf dem Kopf, aber die stechenden schwarzen Augen blickten tief in Valencias Seele. Es kam ihr vor, als würde sie in das Gesicht einer anderen Person sehen.
„Wer seid ihr?“, brach es aus ihr hervor, als sie die Fassung nicht mehr halten konnte, „Und was tut ihr hier?“
Der Mann lächelte, als sie den Kerzenständer neben dem Tisch abstellte.
„Was glaubst du denn, wer ich bin? Der Hofnarr des heiligen Vaters? Setz dich doch bitte.“
Valencia schwieg, aber das Lächeln des Fremden verunsicherte sie, denn es war ein Lächeln, welches ein Großvater seinem übereifrigen Enkel schenkt. Langsam ließ sie sich auf dem Stuhl nieder.
„Im Ernst, Valencia Locarno, wer bin ich wohl, wenn ich dich hierher rufen lassen kann, in den heiligsten Teil des ganzen Vatikans?“
„Ihr könnt nicht der Papst sein!“, argumentierte Valencia, wenn auch ihre Überzeugung Risse bekommen hatte, „Der heilige Vater Leo XV ist bereits über 90 Jahre alt!“
„Richtig, meine gute Ritterin.“, lächelte er, „Ich sehe, dass deine Ausbildung selbst in der Mathematik lückenlos verlaufen ist. 124 Jahre, um genau zu sein.“
Die angehende Silberritterin schickte ein Stoßgebet an den Himmel und entschloss sich, dem „jungen“ Mann zu glauben. Die Tatsache, dass er hier war, war eigentlich schon Beweis genug, auch wenn ihr Verstand dagegen ankämpfte.
„Entschuldigt bitte meinen fehlenden Glauben, heiliger Vater, ich wollte euch nicht beschämen.“
„Keine Sorge!“, lachte Leo, „Ich würde mir auch nicht glauben, denn selten sieht man den Segen Gottes so deutlich hervortreten, nicht wahr, mein Kind?“
Natürlich. Sie stand nicht einem gewöhnlichen Menschen entgegen, Valencia hatte eine Audienz beim Papst, bei dem Mann, dem Gott näher stand als irgendeinem anderen. Es war eigentlich zu erwarten, dass er sich von gewöhnlichen Menschen unterschied. Innerlich ohrfeigte sich die Ritterin für ihre Dummheit.
„Entschuldigt mein Benehmen, aber die Gnade Gottes ist für gewöhnlich nichts, das man mit den Augen wahrnehmen kann.“, meinte sie ehrlich. Wieder dieses Lächeln, ein unberechenbares Lächeln, das kaum etwas Menschliches an sich hatte. Leo bewegte seine dürre Hand langsam zu der Schale mit Obst, zog sie dann aber zweifelnd zurück und antwortete erst nach einer kurzen Pause.
„Da hast du wohl Recht, junge Lady Locarno. Aber kommen wir zum Grund deiner Audienz. Du hast gewiss gemerkt, dass wir die einzigen hier sind, was an der Wichtigkeit deiner Aufgabe liegt. Ich habe dich aus dem Kreis der neuen Silberritter ausgewählt, weil dein Glaube, so scheint mir, der Unerschütterlichste unter den Schülern ist.“
„Vielen Dank, eure Heiligkeit, aber ich weiß nicht, ob ich diese Ehre verdiene. Ohne eure Entscheidung in Frage stellen zu wollen, warum habt ihr nicht einen der erfahrenen Ritter ausgesucht?“
„Nun ja.“, meinte der Papst, „Es ist eine sehr persönliche Angelegenheit, und ich möchte nicht, dass irgendjemand von diesem Treffen oder eurer Aufgabe erfährt. Alle Silberritter sind bei dem Volk beliebt und haben sich einen Namen gemacht, die Anwärter dagegen kennt noch niemand außerhalb des neuen Vatikans, auch wenn sie es natürlich verdient hätten.“
Valencia schluckte abermals, denn Leo sprach die Wahrheit. Sie würde Teil einer wichtigen Aufgabe werden. Das Mädchen musste ihren Stolz unterdrücken, denn Stolz war eine Todsünde. Aber sie fühlte sich unglaublich gut.
„Um was geht es?“, fragte sie mit einem dankbaren Lächeln, „Ich würde alles tun, um die Pfade Gottes für seine Schäfchen zu ebnen.“
„Das ist sehr gut.“, antwortete der Papst zufrieden und zog ein Stück Pergament hervor.
„Was du hier sehen wirst, ist ein Werk des Teufels.“, meinte der heilige Vater warnend, als er das seltsam glänzende Papierstück in die Mitte des Tisches legte. Dann drückte er die Fingerspitzen aufeinander und beobachtete die Reaktion des Mädchens. Zuerst erkannte Valencia gar nichts, denn das Pergament war vollkommen glatt, aber als sich ihre Augen an den Glanz gewöhnt hatten, sah sie die Umrisse einer Person. Allerdings erschien ihr das Bild kaum gemalt, die Abbildung sah aus wie… echt.
„Was ist das…?“, fragte sie nur verwirrt und hielt das Papier gegen das Licht, um es besser erkennen zu können.
„Alte Technologie.“, meinte der Papst mit Abscheu in der Stimme, „Es ist ein absolut perfektes Bild einer Person, mit verdammten Techniken erstellt. Aber darum geht es nicht, sondern um den Jungen auf dem Bild.“
Valencia erkannte es nun, es war ein schwarzhaariger Junge mit fröhlichem Gesicht, etwa fünf Jahre alt, allerdings fiel ihr auch auf, dass der Teil offensichtlich nur die eine Hälfte des Bildes war, denn am linken Rand verlief eine lange Risslinie, zudem war dort etwa der halbe Körper einer hübschen Frau abgebildet.
„Die Wege des Teufels sind verführerisch.“, meinte Valencia, als sie das Bild wieder auf dem Tisch ablegte, „Wer ist der Junge?“
„Ein Ketzer.“, antwortete Leo schroff, „Allerdings ist das Bild schon… sehr alt, er ist heute ein erwachsener Mann.“
Valencia nickte kurz. Es würde schwer sein, einen Erwachsenen anhand eines Kinderfotos zu erkennen, aber es war besser als nichts.
„Er nennt sich Skye.“, fuhr der heilige Vater fort, „Und ein Meister auf dem Gebiet der alten Technologie, ein dunkler Magier. Ich möchte, dass du ihn herbringst, am besten lebendig, aber lieber tot als gar nicht. Ich kannte ihn einmal und hoffe, seine Seele nicht erst durch das Feuer läutern zu können.“
Valencia nickte nur langsam und prägte sich den Namen ein. Skye, ein ungewöhnlicher Name und wahrscheinlich nicht sein richtiger.
„Zu Befehl, eure Heiligkeit, ich werde den Ketzer hierher bringen, wie ihr es befiehlt.“
„Danke, mein Kind.“, lächelte er und erhob sich, „Aber nun will ich ein wenig ruhen. Bei dem Gardisten, der dich herbrachte, liegt ein päpstlicher Erlass vor, der dir alle Türen öffnen wird. Ich hoffe, dass du auf deinen Wegen gesegnet bist, denn sie liegen mir am Herzen. Geh mit Gott, Valencia Locarno.“
Das Mädchen verließ die Gemächer mit gemischten Gefühlen. Sie holte noch einmal das Bildnis des Kindes hervor und betrachtete es. Der Teufel war ein Meister der Verkleidung, denn dieses Kind hatte nichts Bösartiges an sich. Allerdings war es ein altes Bild, nach der Aussage des heiligen Vaters ein sehr altes Bild. Valencia atmete tief durch und sammelte ihren Glauben. Zweifel war nichts, was man benötigte, um ein Silberritter zu werden. Und Valencias Glauben war ihr Trumpf. So war es schon immer gewesen.
Die Straßen des neuen Vatikan-Staates waren mit pilgernden Gläubigen bevölkert, als sich das Mädchen ihren Weg durch die johlende und betende Menge erkämpfte. Wer das Zeichen der Paladine auf ihrer Brust erkannte, machte der Kreuzritterin ehrfürchtig Platz, allerdings konnte man in einer solchen Menschenmenge nicht erwarten, sich vom Rest der Menschen abzusetzen. Die in dreckige Lumpen gekleideten Kinder saßen am Straßenrand und spielten mit Unrat, aber als sie Valencia erkannten, standen sie lachend auf und liefen ihr fröhlich hinterher. Das Mädchen wusste natürlich um jene Tradition und warf einige Münzen in die Menge. Die Kleinen freuten sich und suchten sich schnell ihren Weg zum nächstbesten Obsthändler oder Bäcker. Valencia war im Vatikan aufgewachsen, und doch faszinierte sie die riesige Menge an Menschen jedes Mal aufs Neue. Es gab alte Greise und jugendliche Damen, die durch die Straßen zogen. Die Männer rauchten Pfeife und säuberten die Fischernetze, hier und da sah man einen Priester in der Menge stehen und aus der Bibel lesen. Die weißen, flachen Gebäude glänzten im Licht der Sonne, aber nur der Ozean selbst vermochte Valencia ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Sie dankte der Schöpfung mit einem kurzen Gebet und betrat dann schon das Hafenviertel der übervölkerten Gottesstadt. Der Gestank des toten Fisches trat ihr in die Nase und sie erkannte auch schon die zahlreichen Fischer, welche gerade mit ihren Fängen heimkehrten, die sie im Morgengrauen hereingeholt hatten. Doch der Kai war nicht ihr Ziel, obgleich sie nicht daran zweifelte, dass sie noch einmal an diesem Tag hierhin zurückkehren würde. Die Schritte ihrer Sandalen führten das Mädchen über die knarksenden Bretter zu einer Schwingtür, die ihr nur bestens bekannt war. Der „Singende Aal“ war nicht nur die beste Lokalität, wenn es um Informationen ging, hierher waren die Anwärter auch gekommen, wenn sie Freigang gehabt hatten. Valencia hatte nicht selten einen ihrer männlichen, und gelegentlich auch eine weibliche Anwärterin zur Vernunft rufen müssen, aber sie nahm es ihnen nicht übel, denn das Leben hinter den Toren der Silberakademie war nicht mit großen weltlichen Freuden gesegnet. Das war der Preis dafür, in Gottes Dienste die Waffe erheben zu können, und Valencia hatte diesen Preis gern gezahlt. Der Raum war zu dieser Tageszeit noch beinahe leer, aber die wenigen Anwesenden erhoben sich ehrfürchtig, als die Silberfaustgeweihte die Taverne betrat, nur der Greis an der Bar grinste sie an. Die Ritterin segnete die Besucher und schritt auf die Theke zu. Der Besitzer war ein alter Mann mit zittrigen Händen, die Servierarbeit erledigte längst ein Mädchen, aber das Gehör des Alten funktionierte noch mindestens ebenso gut wie seine grauen Augen, welche Valencia von oben bis unten abtasteten.
„Seid mir gegrüßt, Houston.“, meinte sie, seine gierigen Blicke mit einem tadelnden Gesichtsausdruck ihrerseits zügelnd, „Ich suche einen Mann. Und zwar einen bestimmten Mann, um euch den Stoff für eure dreckigen Witze zu nehmen.“
Der Alte kicherte und blickte ihr in die Augen.
„So ist das also, wen hat es denn diesmal getroffen, Kleines?“, fragte der Mann unverhindert. Valencia riss sich zusammen und bewahrte Haltung.
„Einen Ketzer namens Skye, ich muss mich mit ihm unterhalten.“
„Ha!“, rief Houston aus und stützte sich an der Theke ab, „Unterhalten willst du dich, mit einem Ketzer? Erzähl doch nicht, Mädchen, ich weiß, was ihr mit ihm machen werdet! Und ich soll ihn ans Messer liefern? Bei Gott, ich würde doch gegen das Fünfte verstoßen!“
Dem Mädchen platzte der Kragen. Der Alte war unverschämt, denn er hatte nichts mehr zu verlieren, Valencia hatte damit gerechnet, aber gelegentlich überkam sie doch die Wut. Sie ergriff den lachenden Greis am Hemd und zog ihn zu ihr heran. Mit der anderen Hand erhob sie den mächtigen Streitkolben und drückte ihn an seine Wange.
„Mein lieber Houston, die Gebote gelten nur für Menschen, und der, den ich suche, ist ein Ketzer! Wer einen Pakt mit dem Teufel eingeht verliert seine Seele. Und jetzt sagt mir endlich, wo der Schweinehund ist, sonst muss ich meine Wut an einem anderen Ungläubigen auslassen!“
Der Mann zitterte, aber der fehlende Lebenswille ließ ihn noch immer grinsen.
„Wut ist eine Todsünde, mein Mädchen!“
Valencia ließ ihn schroff zu Boden fallen und rollte mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck das päpstliche Edikt über ihm aus.
„Kannst du noch lesen, Houston? Wenn nicht, les ich es dir halt vor: ‚Valencia Locarno, Silberblutritterin in päpstlichem Auftrag, wird hiermit die Vollmacht erteilt, alles Notwendige zu tun, um das Ziel ihrer Mission zu erreichen.’ Es geht eigentlich noch weiter, aber dieser Teil sollte dir genügen!“
Houston schluckte und zog sich das Hemd zu Recht.
„Ist ja gut, Große.“, meinte er mit Blick auf das päpstliche Siegel, „Venedig. Ich hab von Seeleuten gehört, die ihn in Venedig gesehen haben. Aber jetzt lass mich in Ruhe!“
Valencia folgte seiner Aufforderung nur zu gern und verließ mit stampfenden Schritten die Bar. Ihre Wut war auch bei der Ausbildung das größte Problem gewesen, und obwohl sie das unbeherrschte Temperament, welches sie von der Mutter geerbt hatte, inzwischen recht gut verbergen konnte, gab es ihr Gewissensbisse, die Menschen einschüchtern zu müssen. Dennoch war Houston ein elender Trottel, dem ein wenig Respekt gewiss nicht schaden konnte. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht und dem päpstlichen Erlass in der Hand organisierte sie sich ein kleines Schiff am Kai, um Venedig zu erreichen.
Venedig hatte mit der alten Stadt der Liebe nicht mehr viel gemein, allerdings war es vor 150 Jahren auch die Stadt mit den wenigsten Flutopfern gewesen. Die Umwälzung hatte der Lagunenstadt nur das näher gebracht, was sie früher oder später so oder so erwartet hätte - den Untergang. Die Menschen in Venedig waren allerdings seit vielen Jahrhunderten mehr oder weniger auf diesen Tag gefasst gewesen, und so retteten sie ihre Haut in Gondeln und Hölzern, als die große Umwälzung die Flut höher in die Straßen der Lagune trieb als je zuvor. Heute bestand die Siedlung aus einer künstlich erbauten Insel, die Boote und Bretter, die Spanplatten und verbliebenen Nägel waren verwendet worden, um ein beeindruckendes Ganzes zu formen. Valencia schluckte, denn sie hatte die Stadt aus Schiffen nie zuvor gesehen. Der Komplex, gewiss 100 Meter in Länge und Breite, bestand tatsächlich nur aus verbundenen Holzhütten, die mitten im Ozean schwammen. Unzählige Bretterbrücken bildeten die Verkehrswege, wie es die Venezianer schon seit Jahrhunderten gewohnt waren. Hier und da blickte ein zweites Stockwerk aus der Häusermenge heraus, aber größtenteils bestand die Stadt aus einstöckigen, holzbraunen Hütten ohne Türen, dafür aber mit farbenprächtigen Vorhängen. Ein bezaubernder, aber auch ein verwesender Anblick. Die Mannschaft verabschiedete sich mit übertriebener Freundlichkeit von der Silberritterin, denn die Gelder und das Edikt des Vatikans hatten ihre sonst so tristen Gesichter zum Lächeln gebracht. Das Mädchen trat auf die lockeren Bretter und schaute sich noch einmal genauer um. Es waren nur sehr wenige Menschen auf den hölzernen Brettern und die einzigen beiden Kinder, die sehen konnte, tauchten am Rand der Stadt umher. Aus einem Haus drang eine traurig singende Frauenstimme, aber auch der Gesamteindruck des einst so rauschenden Venedig war eher getrübt. Valencia wusste nicht, wo sie mit ihren Nachforschungen beginnen sollte und schob leise den Vorhang des Hauses beiseite, aus dessen Fenster die Stimme der Sängerin erklang. Die kleine Wohnung war unaufgeräumt und mit Tüchern, Decken und Brettern gespickt, wohin man nur schaute, dazwischen erkannte man hier und dort einen Schrank oder eine kleine Kommode, die wohl in der Bemühung versagt hatten, Ordnung in das Chaos zu bringen. Die singende Frau beendete ihr Lied abrupt, als die Ritterin herein trat und sich vorstellte. Die Venezianerin antwortete in einem gebrochenen Englisch, welchem man den italienischen Akzent mehr als deutlich anmerkte.
„Ich war nicht auf euren Besuch vorbereitet, My Lady, entschuldigt die Unordnung, aber hier legt man nicht besonders viel Wert auf Beständigkeit.“
„Das ist kein Problem.“, lächelte Valencia, um das Misstrauen der Dame zu zerstreuen, „Ich bin nur auf einer religiösen Reise an diesen Ort gekommen und eure Behausung erschien mir die Nächste, um ein wenig über diese Stadt in Erfahrung zu bringen.“
„Nun ja, Venedig ist, was ihr sehen könnt. Eine Stadt, die langsam ausstirbt. Die Alten leben nur noch aus Stolz oder Gewohnheit hier, die jungen Leute sind fort gegangen, um ihr Glück in der Welt zu finden.“
„Entschuldigt die Unverschämtheit, aber warum bleibt ihr noch hier?“
Valencia betrachtete einen Spalt zwischen zwei Bodenbrettern, in dem bereits das Wasser glitzerte, die Frau dagegen schien ein wenig verwirrt über die Frage, lächelte dann aber.
„Ach wisst ihr…“, sprach sie in beinahe flüsterndem Ton, „…es ist der gleiche Grund, der die Venezianer schon immer hier gehalten hat. Es ist einfach unsere Stadt, und wir können sie nicht einfach sterben lassen.“
Die Ritterin nickte betrübt, auch wenn sie die Gefühle der Einwohner nicht ganz nachvollziehen konnte.
„Irgendwann werdet ihr gehen müssen…“, gab sie betrübt zum Bedenken.
„Gewiss.“, lächelte die Frau mit ein wenig Trauer im Gesicht, „Aber bis dahin bleiben wir hier, wie ein Kapitän das sinkenden Schiff nicht verlassen kann, werden wir mit Venedig untergehen.“
Ein langes Schweigen legte sich in den Raum und eine ungewisse Traurigkeit überkam Valencia. Erst, als die Beiden eine lange Zeit wortlos gegenüber gestanden hatten, erhob die Sängerin wieder die Stimme zu ihrem Requiem. Die Töne ergriffen das Herz der Silberblutgeweihten diesmal stärker als das letzte Mal, eine schreckliche Trauer lag darin, aber auch eine Zufriedenheit, eine gewaltige Ruhe. Valencia erhob sich, um der Melancholie des Augenblicks zu entkommen. Venedig war eine sterbende Stadt, und für ein solches Gefühl war in ihrem Auftrag kein Platz.
„Vielen Dank, ihr habt mir sehr geholfen.“, meinte sie noch einmal und wandte sich zum Gehen, als sich die dürre Hand der Frau auf ihre Schulter legte.
„Noch habe ich euch gar nicht geholfen. Sagt mir, warum ihr hier seid.“
Fortsetzung folgt...