OK, eins vorweg zum dritten und letzten Akt: Ich bin mir nicht sicher, ob es besser gewesen wäre, das Ganze bei einem Teil zu belassen... Aber lest selbst.







Dritter Akt - Finale
Pontius Pilatus


Die Scheinwerfer des Thunderbird-Gleiters durchschnitten die Dunkelheit, als sich die Sondereinheit Aztecs durch die Straßen Seattles bewegte. In dem Gleitfahrzeug war von den Geräuschen der Straße nichts zu vernehmen. Senôr Oscuro hatte seinen Kopf auf den Armen abgestützt und blickte in die Dunkelheit. Der Körper des ersten Engels spielte nun keine Rolle mehr, dafür war es zu spät, zudem würde die Macht, welche durch das Zusammentreffen der Himmelswesen entstehen würde, eine weitaus größere Energie erzeugen als es der zierliche Bau des geflügelten Metamenschen jemals zugelassen hätte. Der Magier, der sich auch Darke nannte, lächelte und erinnerte sich an die zahlreichen Prophezeiungen, welche diesen Tag vorausgesagt hatten. Nicht nur der Kalender der Maya, auch ein Großteil der anderen Hochkulturen des vergangenen Magie-Zykluses hatten um jenes Datum gewusst. Gruumsh wich den umherschweifenden Blicken seines Arbeitgebers aus und kontrollierte zum wiederholten Male seine Ausrüstung. Die Einheit unterstand nun seinem Befehl, und auch über ihm gab es nur einen einzigen Mann, nicht, wie bisher, eine undurchsichtige Hierarchie aus geleckten Auftraggebern und Leutnants. Der Ork grinste, als der T-Bird nahezu lautlos um eine Straßenecke manövriert wurde. Die Einheit, bestehend aus den zwanzig besten Männern in den Diensten Aztechnologies, auf jedem ihrer Einsatzhelme glimmte das Symbol des Konzerns, ein goldener stilisierter Löwe aus der alten Inka-Kultur, machte kein Geräusch, ihre Gesichter verrieten Routine, von zahllosen erfolgreich abgeschlossenen Einsätzen. Die Bewaffnung jener Gruppe war ebenso atemberaubend wie der Anteil an Chrom in ihren Körpern, Gruumsh war sich recht sicher, noch der Menschlichste unter ihnen zu sein, nur mit einer Datenbuchse und elektronisch verstärkten Augen ausgestattet. Abermals musste er an den tätowierten Mann aus der Pyramide denken.
„Niemals die Hoffnung verlieren!“
Der Sicherheits-Ork war weit besser dran, als diese perfekten Kampfmaschinen. Er war nicht nur verheiratet, er war auch menschlich. Eine schlimme Welt, wenn ein zwei Meter-Mann mit überdimensional breiten Schultern und 10cm-Zähnen menschlicher als seine gewöhnlichen Pendants war. Aber er hatte das Leben gewählt, durch die Augen des fremden Ki-Adepten, die ihm gezeigt hatten, wie wichtig sein eigenes Dasein war, diese Soldaten, die zusammengepfercht und mit harten Mienen auf den kalten Bänken des Gleitfahrzeugs auf ihren Krieg warteten, konnten nicht länger zwischen Leben und Tod und wählen. Cyberarme haben keine Pulsschlagadern mehr. Verkabelte Gehirngänge fühlen keine unlukrativen Gedanken mehr.


Maria fröstelte, als sie dem Adepten auf der verwahrlosten Hafenpassage folgte.
„Wohin gehen wir?“, fragte sie verwirrt, aber ihr Gegenüber grinste nur.
„Keine Angst, Kleine, du wirst schon sehen, dass es das Beste ist.“
In diesem Moment brach der Thunderbird aus einer Gasse hervor, und Wisdom lächelte.
„Da sind sie schon.“
Das Mädchen konnte das 15 Meter lange Fahrzeug nur entsetzt anstarren, als ihr der Adept seine Hand hinhielt.
„Vertrau mir, sie sind gewiss nicht hier, um zu spielen.“
Maria griff nach der Hand und wurde von dem Mumifizierten auf seine Arme gehoben. Dann rannte Wisdom los, in dem Moment, als die ersten Mitglieder der Spezialeinheit das Fahrzeug verließen, um ihn zu verfolgen. Sein Weg führte den Adepten noch einige Meter weiter am Hafenbecken entlang, dann warf er einen Blick über die in der Nacht ruhenden Schiffe und nickte gedankenverloren, als er in eine düstere Seitengasse einbog. Über ihm stach der riesige, verlassene Bau des alten Nachrichtenzentrums von Seattle wie eine Nadel in die Nacht, hinter ihm kreuzten sich die Scheinwerfer der Spezialeinheit, die verstärkten Muskeln ihrer Beine donnerten auf den kalten Betonplatten des Geländes wie die Steine einer Lawine.


Zea war auf dem Weg zur Steuerung des Schiffes Chummerplode, als er über den letzten Tag nachdachte. Das gewöhnliche Piratenalltagsleben hatte einen gehörigen Knacks bekommen, als sie am Morgen das geflügelte Mädchen Sarah aus dem Meer gezogen hatten. Sie war hübsch, daran bestand kein Zweifel, zudem hatte sie etwas Faszinierendes an sich, dem sich der Piratenkapitän unmöglich entziehen konnte. Einen Tag zuvor hatte er nicht einmal mehr an Liebe geglaubt, wie die meisten Menschen in den Burrows von Seattle. Dann war eine seltsame Datei auf dem Deck von Demon.4ice, ihrem Decker, erschienen, ein gänzlich unbekanntes Programm mit dem Namen Balthasar.dat, welches niemand in der Matrix zuvor auch nur gesehen hatte. Zea erreichte die Zentrale und unterbrach seine Gedankengänge.
„Hey, Bart, starte den Motor!“, rief er Demon.4ice zu, als er den Raum betrat, „Es gibt was zu tun!“
Der Zwerg wirbelte auf seinem Stuhl herum, und einige Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
„Moment, Großer, in der Matrix ist gerade die Höhle los! Unser Balthasar duelliert sich gerade mit nem anderen Decker, und Beide wären im Stande, mich mit einem einzigen Befehl auszulöschen!“
Zea schluckte bei der Vorstellung eines Gigantenkampfes in der Matrix und war im gleichen Moment froh darüber, dass jener Krieg nur im Computernetz stattfand.
„Können wir trotzdem manövrieren?“, hängte der Pirat an seine Gedanken an.
„Nun ja…“, meinte Bartholomäus, „Ich denke schon, die Beiden können es sich eh nicht leisten, voneinander abzulassen. Aber was’n Drek ist so wichtig, dass wir die Plode mitten in der Nacht anfeuern müssen?“
„Vertrau mir einfach.“
Der Zwerg zuckte mit den Schultern und klinkte sich in die Matrix-gesteuerte Lenkung des Bootes ein, in seinen eigenen Prototyp. Zea fiel ein Stein vom Herzen. Noch vor einem Moment hatte er mit Sarah auf dem Deck verweilt und war der Meinung gewesen, dass dieser Augenblick niemals enden würde. Dann hatten sie einen Thunderbird beobachtet, der plötzlich am Hafen erschienen war, und das Engelsmädchen hatte den mumifizierten Menschen gesehen, welchen das Fahrzeug verfolgte. Obwohl sich das Geschehene noch gewiss 150 Meter vor den Beiden abgespielt hatte, erkannte sie die Gestalt, als er seinen Kopf drehte und zu dem Pärchen auf der Chummerplode herüberschaute. Auch Zea waren seine Augen aufgefallen, die im Dunkeln zu leuchten schienen. Sarah war sofort in heller Aufregung gewesen und hatte gemeint, man müsse dem Mann, den sie Wisdom betitelte, helfen, und der Piratenkapitän hatte eingewilligt. Im Nachhinein erschien ihm seine Entscheidung leichtfertig, denn Thunderbirds waren meist Konzerneigentum oder Schmugglergerätschaft, allerdings bereute er den Entschluss nicht. Nicht nur die Augen des Fremden hatten ihn beeindruckt, auch Sarah ging weit über seinen Verstand hinaus.
„Jose?“ rief er, als seine Stiefel wieder das Deck betraten. Die Schwester verließ kurz darauf den Lagerraum, mit einem synthetischen Hot Dog in der Hand.
„Was is?“, fragte sie mit vollem Mund und biss noch einmal ab.
„Mach unsere Waffen startklar, wir könnten sie bald brauchen!“
„Oh, ja, großer Kapitän, ich hoffe mal, du willst nicht nur Desperado spielen.“
Lächelnd beobachtete Zea, wie das pinkhaarige Mädchen wieder im Lagerraum verschwand. Das Team war gut eingespielt und an die Kommentare seiner Schwester hatte er sich längst gewohnt. Nun interessierte ihn, wer dieser Wisdom war. Sarah stand noch immer am Bug des Schiffes und schaute an Land, obwohl die Gestalt des Bandagierten längst verschwunden war, ebenso die Konzernsicherheit. Nur der leere T-Bird säumte noch das Hafenbecken, als sich die Chummerplode in Bewegung setzte.


Darke blickte auf das kaum noch lesbare Blechschild der Einrichtung, in die Wisdom geflüchtet war.
„Was hast du vor…?“, fragte sich der Magier gedankenverloren, bevor er seiner Spezialeinheit die Anweisung gab, dem Adepten in das Gebäude zu folgen. Er selbst wartete noch bis die Schritte verhallten, dann schaute er noch einmal zu der Spitze des Gebäudes hinauf. Beinahe beiläufig verließ sein Körper den festen Boden und begann, sich in die Luft zu erheben. Für Senôr Oscuro bedeutet dieser Zauber nicht mehr gedanklichen Aufwand als ein gewöhnliches Lachen. Der unbekannte Adept Wisdom hatte, sofern man Eels Informationen Glauben schenkte, eine Schwelle erreicht, die Grenze, welche gewöhnliche Magie von einem erzmagischen Akt unterscheidet, wie es ihn eigentlich noch nicht geben sollte. Er war nicht der Einzige.


Der Bandagierte schnellte durch die metallenen Gänge des Gebäudes, überquerte einige Treppen und achtete immer auf das Wohlergehen des Mädchens in seinen Armen. Die Anlage war zwar bereits seit sehr langer Zeit verlassen und geplündert worden, aber noch immer stapelten sich die Monitore des Nachrichtensenders in einigen Räumen über die halbe Wand. Viele Bildschirme waren zerstört worden, die noch verwertbare Technik hatte ihren Weg auf den Schwarzmarkt gefunden, aber letztendlich hatte sich doch kein Anarchistentrupp die Mühe gemacht, das Gebäude komplett auszuschlachten. Wisdom stoppte in einem bestimmten Raum. Er hatte den Plan de Einrichtung vor Augen gehabt, seit einigen Jahren, als ihm die Datei zufällig über den Monitor gerutscht war.
„Das ist eine …Sackgasse.“, meinte Maria, als der Adept sie sanft auf dem Boden absetzte, denn die Schritte der Aztecnology-Leute im Treppenhaus waren durch die ächzenden Metallgitter nicht zu überhören.
„Gemach, junge Dame, ich hole uns Unterstützung.“
Mit diesen Worten bewegte er sich zu den großen Konsolen, welche in der Wand verankert waren und begann, Dinge an der altmodischen Schaltfläche zu verändern. Als Wisdom den letzten Hebel umlegte, reaktivierte sich die elektronische Sicherheit des Nachrichtengebäudes. Gruumsh fuhr zusammen, als sich eine mit Staub bedeckte Kamera über ihm plötzlich bewegte. Ihre knallrote Energie-LED war gesprungen, aber die Linse blickte bedrohlich auf die Einheit herab. Neben den Schlägern aktivierten sich einige Bildschirme und zeigten das leer gekräuselte Standby-Bild. Ein Troll schaltete bedächtig den Scheinwerfer an seinem Maschinengewehr aus, als sich die Neonleuchten nach Jahrzehnten das erste Mal wieder erhellten.
„Geht weiter, Leute, wir werden uns nicht von ein paar Kameras aufhalten lassen!“
Gruumsh gefiel es, Befehle zu erteilen, vor allem für Leute, die nicht so hässlich wie er waren. Die Söldner nickten routiniert und donnerten weiter das Treppenhaus hinauf. Sie stoppten, als die erste Selbstschussanlage mit Fehlfunktion eine Löcherkette in das Gitter schoss. Die Männer waren Profis, aber dennoch überrascht, als sich das Gebäude gegen sie richtete, weshalb sich eine der Salven in das Bein des Ersten bohrte und ihn zu Boden schleuderte. Gruumsh und seine Einheit ließen den Getroffenen liegen und stürmten weiter voran. Nach einigen Etagen erreichten sie einen Raum, der wohl einmal die Nachrichtenzentrale des Senders gewesen sein musste, denn unglaubliche Wände aus Monitoren zogen sich an dem Grundriss entlang.
„Dort.“, flüsterte einer der Söldner und zeigte auf einen Schatten, der hinter einem Schaltpult hervor fiel. Als dieser im nächsten Moment verschwunden war, setzte sich die Spezialeinheit abermals in Bewegung. Die flimmernden Bildschirme im ganzen Raum hatten eine verwirrende Wirkung. Wisdom lugte unter seinen Bandagen hervor und beobachtete, wie die Söldner unter ihm hindurchliefen. Der Weg des Ki-Adepten war der Weg, Körper und Geist mithilfe von Magie auf eine Ebene zu bringen. Wisdoms einer Arm hielt seinen Körper an einem Wasserrohr an der Decke fest, der andere trug das Mädchen, wessen Herz vor Aufregung wie wild schlug. Nur der kühle Blick des Fremden beruhigte sie insoweit, dass sie nicht sofort losschrie. Maria hatte sich nicht zum ersten Mal über die Kraft des Adepten gewundert, denn sein Körper hatte nicht im Ansatz genügend Muskeln, um zwei Menschen mit einem einzigen Arm an die Decke zu hängen. Entgegen aller physikalischen Gesetze tat er es trotzdem. Als der letzte Sicherheitstroll unter ihnen entlang gegangen war, ließ sich der Adept zu Boden fallen. Sogar Marias Herzschlag verursachte ein lauteres Geräusch, und einen Moment dachte das Mädchen darüber nach, warum sie an diesem Ort war. Eigentlich konnte sie den Adepten nur behindern, zudem war sie gewiss nichts Besonderes. Wisdoms Handkante traf das Genick des Trolls, woraufhin dieser kurz röchelte und dann seinen Halt verlor. Der Arm des Bandagierten hinderte den Gehörnten daran, ein Geräusch beim Aufprall zu verursachen und verstaute diesen auch gleich hinter einer Ecke, ohne dass die direkt vor ihnen laufende Spezialeinheit etwas bemerkt hätte. Nach wenigen Schritten registrierten die mechanischen Gehör-Sensoren eines Aztec-Manns eine Veränderung in den Umständen. Die Schrittgeräusche waren weniger geworden. Er teilte Gruumsh seine Entdeckung mit, zudem auch das Atem-Geräusch eines Mädchens, von dem er sich kurz zuvor eingebildet hatte, es gehört zu haben, was aber natürlich Unfug sein musste. Der leitenden Ork drehte sich um und blickte durch seine Einheit. Eine Sorgenfalte bildete sich auf seiner Stirn, als ihm auffiel, dass, abgesehen von dem angeschossenen Mann im Treppenhaus, ein weiterer Troll verschwunden war.
„Hey! Wo ist John?“, fragte er in die nervenzerreibende Geräuschkulisse der Standby-Bildschirme. Als auch der Rest der Einheit sich umdrehte, bemerkte keiner von ihnen, wie der Mann, der den Trupp angeführt hatte, hinter Gruumsh von den Beinen gerissen wurde und geräuschlos aus dem Gang verschwand.


Demon.4ice beobachtete den Kampf zwischen dem Decker mit den Schlangen-Programmen und Balthasar. Die komplette Matrix in dem Kampfgebiet schien sich in ein Gitter aus schwarzen Aalen verwandelt zu haben, aber das Schwert des digitalen Engels versetzte dem Schlangenschild des Deckers einen Schlag nach dem anderen. Im Eifer des Gefechts war es Bart gelungen, die Persona des Fremden zu analysieren und die Ergebnisse behagten ihm überhaupt nicht. Die Persona des Deckers hieß Eel, und das Cyberdeck, auf dem er surfte, war Demon.4ice vollkommen unbekannt. Schlimmer noch, es hatte Fähigkeiten, welche die Kapazität des Analyseprogramms sprengten. Selbst die Gerüchte über Konzernprototypen hatten niemals solche Werte vorhergesagt. Plötzlich blickte der Zwergendecker auf, denn im lokalen Netz von Seattle war ein neuer Knotenpunkt erschienen. SNA, Seattle News Agency, das große Gebäude, welches in der Realität direkt neben dem Hafen lokalisiert war. Und das bereits seit 20 Jahren nicht mehr gesendet hatte. Demon.4ice entschloss sich, nicht an einen dummen Zufall zu glauben, und verlinkte die Informationen des Kampfes in das private Gitter der Agentur. In diesem Moment zuckte die Spezialeinheit Aztecs im Inneren der Anstalt zusammen, denn die hunderten Bildschirme in dem Raum visualisierten den gewaltigen Kampf zwischen den Personas.


„Was geschieht hier?“, fragte Maria fasziniert, als sie beobachtete, wie das virtuelle Schwert des Engels auf dem Monitor vor ihr durch die Matrix schnitt. Wisdom lächelte und schritt weiter den Gang entlang. Er hatte Zeit, denn die Aztecs würden gewiss noch ein wenig brauchen, eh sie sich wieder in Gang setzten.
„Es ist schon einmal passiert, meine Gute.“
Maria erwiderte nichts und folgte dem Adepten durch den metallenen Gang des Gebäudes.
„Damals…“, fuhr er fort, „…kam jemand vom Himmel herab und wollte den Menschen den richtigen Weg zeigen.“
„Den richtigen …Weg?“
Der bandagierte Mann lächelte und Maria dachte über seine Worte nach. Es waren nicht die Worten aus der hiesigen Welt. Es waren alte Worte, welche die Menschheit längst vergessen hatte.
„Aber was ist geschehen? Ich glaube nicht, dass mein Leben der…“
Kurz schien sie zu zweifeln und musste über ihre eigenen Worte lächeln.
„…der richtige Weg ist.“
Wisdom grinste und kichert in seine Mullbinden hinein.
„Gut erkannt, mein Mädchen. Die Menschen haben ihn damals umgebracht, haben den richtigen Weg korrumpiert.“
„Aber warum?“, rief sie in den Gang hinein. Ihr Gegenüber bedeutete ihr mit dem Zeigefinger, ruhiger zu sein und zuckte dann mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht.“, lachte er leise, „Und genau ist diesem Grund bin ich heute hier. Ich will…“
Maria erschrak. Die verschiedenfarbigen Augen des Fremden hatten abermals ein bedrohliches Aussehen angenommen, obwohl sie sich äußerlich nicht verändert hatten.
„Ich will alles wissen. Und ich verstehe nicht, warum sie ihn töteten. Es gab zahlreiche Theorien, manche begründeten es auf den Hass der Menschen, wiederum andere meinten, es läge an ihrer Machtgier. Aber daran glaube ich nicht. Ein göttliches Wesen, korrumpiert von Hass und Gier?“
Abermals lachte er, als sich weit hinter ihnen die schweren Stiefel wieder in Bewegung setzten.
„Nein, Maria, das war nicht der Grund, und ich will wissen, warum er wirklich gestorben ist.“
Kurz schaute sie dem Mann, dem sie erst wenige Minuten zuvor das erste Mal begegnet war, in die Augen. Das Kind in ihrem Bauch schien gegen die Wände ihres Körpers zu pochen. Wisdom war der Mensch, dem sie am meisten vertraute, auf einer Ebene, die normale Menschen nicht verstehen würden. Die bandagierte Gestalt nahm sie abermals in die Arme und rannte wieder los.
„Lass mich noch schnell unsere Verfolger abschütteln, sie werden für seine Ankunft nicht benötigt.“
In diesem Moment schloss sich hinter den beiden eine elektrische Schiebetür und wurde mit einem zischenden Geräusch elektronisch verriegelt. Gruumsh und seine Männer erreichten die Tür wenige Augenblicke nach dem Adepten und Maria. Der Verlust eines dritten Mannes ohne ersichtlichen Grund hatte selbst die hartgesottenen Aztecs unruhig werden lassen, und der anführende Ork bemerkte, wie sie ihr Tempo gedrosselt hatten.
„Kommt schon Jungs, wir können jetzt doch nicht mehr schlapp machen!“
Er befestigte einen Sprengsatz am Schloss der Tür und wich zurück. Kurz nachdem eine rasende Staubwolke, durchsetzt mit Metallsplittern und einem ohrenbetäubenden Lärm durch den Raum geschossen war, verließ die Spezialeinheit die Pforte an der anderen Seite. Gruumsh erkannte mit zusammengekniffenen Augen gerade noch, wie das Ziel, welches sie verfolgten, ungefähr 50 Meter weiter vorne einen weiteren Gang verließ. Der Ork hatte schon einmal darüber nachgedacht, wie mächtig dieser Mann wohl sein musste, wenn sowohl der Erzmagier Darke als auch das komplette Special-Ops Team auf ihn angesetzt wurden. Aber von hinten hatte er eher schmächtig ausgesehen, zudem war sein ganzer Körper bandagiert, wie bei einer Mumie. Der Ork und seine Mannschaft ließen abermals eine Wand aus Monitoren hinter sich, und die kämpfenden Gestalten waren noch immer in ihren eigenen Kleinkrieg verwickelt. So war es vielleicht auch besser, hatte Gruumsh im Raum zuvor gemeint, um seine Leute zu beruhigen. Er konnte nicht erklären, was in den weiten der Matrix vor sich ging, und eigentlich wollte er das auch gar nicht. Nach wenigen Schritten erreichten sie eine weitere Tür, aber der Adept war wie erwartet bereits verschwunden. Schon als sich die Tür öffnete, hüstelte sich einer der Trolle. Es war jener, welcher die Gegend mit seinen Infarot-Augen sondierte, seit sie der Bandagierte im Senderaum aus der Dunkelheit überrascht hatte.
„Entschuldigung, Leutnant, aber da drin gibt es ein Inferno aus Laserstrahlen, ich kann nichts erkennen.“
„Dann benutz halt deine Augen…“, herrschte ihn Gruumsh an, als sich die Pforte nach oben öffnete. Es war eine recht kleine Räumlichkeit und in ihrer Mitte fand sich eine Vitrine, dessen Glas bereits seit einer langen Zeit zersplittert war, denn über der Stelle, an der damals wohl irgendetwas Wertvolles gelegen hatte, hatte sich bereits dicker Staubfilm gelegt. Gruumsh schauderte, als er seine Leute mit einer Handbewegung zurückhielt. Hier war schon einmal geplündert worden, allerdings zu einer Zeit, in der die Bewegungsmelder nicht aktiv gewesen waren. Der Adept musste diesen Raum durchquert haben, was dem Ork unbegreiflich war, denn es war weder ein Alarm ausgelöst worden, noch konnte er die Leiche des Ziels irgendwo erkennen.
„Er kann doch unmöglich an diesen Bewegungsmeldern vorbeigekommen sein…“, dachte sich Gruumsh, als er das ineinander verwinkelte und vernetzte Lasergitter betrachtete. Der Anführer blickte in die Augen seiner Untergebenen und erkannte Zweifel.
„Wir gehen.“, meinte er fest, um die Sicherheitsprofis nicht noch weiter zu verunsichern, „Wenn das diese Mumie schafft, können wir das schon lange!“
Die Männer nickten. Eine Minute später war ein Dutzend von ihnen den Selbstschussanlagen in dem Raum zum Opfer gefallen, Gruumsh selbst hatte nur eine gehörige Portion Glück und vor allem eine gehörige Portion Troll davor gerettet, das gleiche Schicksal zu erleiden. Zusammen mit vier weiteren, noch bewegungsfähigen Mitgliedern des Squads schleppte er sich auf der anderen Seite aus dem Raum hinein in ein weiteres Treppenhaus. Er wollte nicht zurückschauen, und seinen Begleitern ging es ebenso. Aber an eine Umkehr war jetzt ebenso wenig zu denken. Weiter oben erkannte er den Schatten, der sich zwischen den Treppengittern und den allgegenwärtigen Monitoren bewegte. Gruumsh lief los und zog seine Beretta.


Darke blickte in die Straßen Seattles herab und seine außergewöhnlich schwarzen Locken wirbelten um sein dunkles Gesicht. Das Dach des Nachrichtensenders war ein seltsamer Ort, die zahlreichen Antennen, welche meterhoch in die Luft ragten, zeugten von der Informationswut der Menschen. Ein Lächeln lag auf seinem Mund, als er die Silhouette der gefiederten Schlange erkannte, die den Nachthimmel durchkämmte. Shiaranha würde die Medien auf den Plan rufen, welche die Machtübernahme des Magiers live und direkt aufzeichnen würden. Es war ein glorreicher Tag, das Einzige, was unkalkulierbar geblieben war, war der Adept Wisdom. Darke ballte seine Fäuste beim Gedanken an ihn, beruhigte sich dann aber wieder. Wisdom war mächtig, aber Darke war es auch, zudem stand ein Drache auf seiner Seite. Abermals dachte Senôr Oscuro über eine Frage nach, die er sich nicht beantworten konnte. Wisdom war in diesem Konflikt bereits einige Male dem sicheren Tod entkommen, und doch nahm er es wieder mit Aztechnology und Darke auf. Der Magier verstand nicht, für was der Adept kämpfte. Sein ganzes Dasein war dem Schwarzhaarigen ein Rätsel, seine Ziele ebenso wie seine Ideale. Darke lächelte, denn er musste an ein Buch denken, dass er Jahrzehnte zuvor gelesen hatte. Darin war die Sprache von einem Übermenschen gewesen, einer Person, die ihre Instinkte vollkommen überwunden hatte und nur noch durch ihre Emotionen gesteuert wurde, Emotionen, die über gewöhnliche Bedürfnisse hinausgingen. Dieses Buch entstammte einer mundanen Zeit, in der die Magie noch als Aberglaube bezeichnet wurde. Nun war die Magie real. Ein Magier wirkte diese Magie. Ein Magier, der eine Schwelle erreicht hatte, wirkte Magie, wie andere Leute ihre Beine bewegten. Ein Ki-Adept, wie Wisdom einer war, verwendete seine Magie, um die Seele mit dem Körper zu vereinen und so die absolute Kontrolle über das eigene Fleisch zu erlangen. Zu was würde wohl ein Ki-Adept im Stande sein, der eine Schwelle erreicht hatte? Darkes Lächeln verzog sich zu einem bösartigen Grinsen, ein Gesichtsausdruck, den er seit langem nicht mehr genutzt hatte. Der Gewinn des Konzerns Aztechnology, der zu einem großen Teil ihm gehörte, war natürlich die erste Priorität, aber an diesem Tag würde Darke zudem auch seinen Spaß haben, ein Privileg, welches ein Mann mit seiner Macht nur noch selten verspürte. Senôr Oscuro zog seine Robe fest und wippte ein wenig hin und her. Er konnte es kaum noch erwarten.


Die fünf Sicherheitsmänner des Konzerns stürmten das Treppenhaus hinauf, und ihre Rassenzugehörigkeit, es handelte sich um zwei Orks und drei Trolle, bewies die Statistiken über die Überlebensrate von Konzern-Schlägern. Gruumsh stoppte ruckartig, als ein Schemen von oben um das Geländer schnellte und sich an ihm vorbeibewegte, bevor er auch nur reagieren konnte. Ein bandagierter Fuß traf den ersten Troll am Kopf und zertrümmerte eines der beiden Hörner, die jeweils die Breite eines muskulösen Armes innehatten, der Rest des Körpers wurde von der Wucht des Aufpralls herumgerissen und fiel bewusstlos zu Boden. Gruumsh drehte sich um und sah die Situation. Der Adept war gebückt zwischen der Einheit gelandet und hatte noch vor seinem Aufkommen einen Ork an eine anliegende Wand geschleudert. Die Mullbinden des feindlichen Adepten hatten sich um die Beine des zweiten Trolls gewickelt und rissen diesen zu Boden, als Wisdom herumwirbelte. Auf diesem Weg hatte der Bandagierte bereits drei der Gegner ausgeschaltet, bevor sich der erste überhaupt bewegen konnte. Der verbleibende Troll hob seine automatische Waffe an, als der Adept aufsprang und seinen Kopf mit Schwung in den Bauch des Gehörnten rammte, während er sich an der Taille des Metamenschen festkrallte und die Füße mit einem Überschlag um den Kopf des Trolls legte. Gruumsh vernahm das Knacken des breiten Genicks und riss seine Kanone nach oben. Er drückte ab, als Wisdoms Kopf vor dem Lauf der Waffe erschien. Der Bandagierte ließ sich zu Boden fallen und die Kugel bohrte sich hinter ihm in einen toten Troll. Beiläufig schlug sein Fuß gegen das Handgelenk des Sicherheitsleiters und schleuderte so die Waffe aus seiner Reichweite. Wisdom ergriff Gruumsh und hob ihn in die Luft, was ein unglaubwürdiges Bild abgab, da der Adept nicht nur wesentlich zierlicher, sondern auch auffällig kleiner als der Ork war. In diesem Moment erkannte Gruumsh die Augen des Fremden und musste schweißüberströmt schlucken.
„Sorry.“, meinte er ehrlich mit seiner verbleibenden Luft.
Wisdom grinste und setzte ihn ab.
„Keine Angst, mein Lieber, ich weiß, wann du stirbst, auf die Sekunde genau, und es ist noch nicht jetzt. Auch nicht in nächster Zeit und auch gewiss nicht mehr durch meine Hand. Du hast noch eine Aufgabe zu erfüllen.“
Wisdom redete die Wahrheit, was ihn selbst verwunderte. Er hatte es sich angeeignet, die Gedanken der Menschen zu lesen, aber er zweifelte daran, dass sich Gruumsh seines Todestages bewusst war. Und doch sah er das Dahinscheiden des Orks vor seinen Augen. Es war ein friedlicher Tod. Wisdom spürte die Magie in seinem Körper, wie er es noch nie zuvor getan hatte. Vor seinen Augen verschwammen die reale und die Astralwelt, und er musste grinsen. Er riss sich die Bandagen vom Körper, als er realisierte, dass die Wunden vollkommen verheilt waren. Wisdom erkannte plötzlich die Antwort auf einige Fragen, die ihm durch den Kopf gegangen waren. Dann schloss er die Augen und sah den Augenblick seines eigenen Todes. Und doch lächelte er. Als er weiterging, beobachtete Gruumsh, der verblüfft auf dem Boden saß, wie die ausgebrannten Tätowierungen des Adepten wie von Zauberhand wieder auf seinem Körper erschienen. Das rote Auge erinnerte den Ork an das Lodern einer Flamme, das gelbe Auge dagegen ließ ihn an pures Gold denken.
„Kommt mit, Gruumsh und Maria.“, meinte Wisdom, ohne sich umzudrehen, als sich die letzten Schrammen auf seinen Armen schlossen und die kleinsten Details der Symbolik auf seiner Haut wieder Gestalt annahmen. Das Mädchen, welches eine Etage weiter oben gewartet hatte, starrte ungläubig auf den nackten Körper des Adepten. Sie hatte das verbrannte Fleisch gerochen und die Muskeln gesehen, die sicher unter den verglühten Hautfetzen gezeigt hatten. Sie schnappte nach Luft und folgte ihm. Es gab Gerüchte über Adepten, die im Stande waren, ihre Wunden ziemlich schnell zu heilen, aber gewiss nicht innerhalb weniger Sekunden.
„Ich will die Antwort wissen…“, raunte Wisdom und öffnete die Klappe, welche zum Dach des Gebäudes führte.


Die Chummerplode erreichte den Hafen und die Piraten verließen zusammen mit Sarah das Boot.
„Was nun, Engelchen?“, fragte Zea und wendete sich an das Engelmädchen. Er erkannte, dass Sarahs Augen auf einen Punkt in der Luft gerichtet waren. Als er ihnen folgte, musste er schlucken. Direkt über dem Gebäude des alten Nachrichtensenders hielt sich ein gefiederter Drache in Gestalt einer riesigen Schlange mit kräftigen Flügelschlägen in der Luft. Jose fiel auf die Knie, und ihr ganzer Körper zitterte vor Angst.
„Ein …Drache!!“, schrie das Mädchen, aber Zea bemerkte, dass Sarah nicht auf die Echse starrte. Auf dem Dach des Gebäudes bewegten sich noch weitere Gestalten, und obwohl die Entfernung es nicht zulassen sollte, erkannte auch er den Mann, der schon zuvor im Hafen zu ihnen geschaut hatte. Wisdom. Seine Augen schienen noch greller zu leuchten und die Mullbinden waren von seinem Körper gefallen, um Platz für eine beeindruckende Landschaft aus Tätowierungen zu machen. Zea schluckte. Im nächsten Moment entfalteten sich Sarahs Flügel und das Mädchen erhob sich in die Luft. Der Piratenkapitän wollte sie aufhalten, aber er war zu überrascht gewesen. Ihr Körper verschwand in der Dunkelheit, auf dem Weg zur Spitze des Gebäudes. Zea fluchte und rannte los. Er kannte Seattle wie seine Westentasche, und auf seinen Streifzügen war ihm auch die Feuerleiter nicht entgangen, welche gewiss 100 Meter in die Höhe hinauf zu dem Gebäude führte. Als er einige Augenblicke später die Leiter erreicht hatte, zog er sein Messer und nahm es beim Hinaufklettern zwischen die Zähne. Das Ganze roch nach verdammtem Drek.


Eels Persona war eine eingefallene und dürre Gestalt, aber die Schlangen, welche sich wie ein Mantel um seinen Körper legten, gaben ihm den Anschein von Eleganz. Seine Augen waren weit aufgerissen, als er mit einem markerschütternden Kreischen einen weiteren Angriff auf den digitalen Engel Balthasar startete. Das Himmelswesen blockte den Strom aus schwarzen Aalen mit einem mächtigen Schwerthieb und setzte sofort zum Konter an. Ein Kampf in der Matrix war eine nüchterne Sache, da die Programme in ihren Grundzügen meist äußerst identisch waren. Allerdings beherrschten so ziemlich alle Decker eine gewisse Kreativität, um den Angriffen ein imposantes Äußeres zu verpassen. Die Klinge schnitt tief in die Wesen, welche sich um den Körper des Deckers schlängelten. Eel schrie vor Schmerzen auf und schleuderte den Engel von sich. Balthasar rempelte sich auf und hob sein Schwert abermals. Das Gesicht des Traumdeckers war in irrer Wut verzerrt, als er die Hände hob und die unzähligen Schlangen seinem Beispiel folgten.
„Verschwinde, BALTHASAR!! Seattle gehört mir!!!“
Das Engelprogramm konnte den Angriff nur mit Mühe abwehren, aber es lächelte trotzdem.
„Seattle gehört dir? Du hast es nicht verstanden, Decker. Ich werde dein Deck zerstören.“
Eel schluckte und lachte dann wieder laut.
„Whahaha!! Dan tu’s doch, du Himmelswesen!! Zerstöre mein ‚Deck’, du wirst schon sehen, was du davon hast!!“
Die Klinge und der Schlangenstrom trafen sich abermals, als der Engel seine Stimme erhob.
„Dieses Programm wird deine Hardware vernichten, Traumdecker!!“
Eel erkannte den Angriff. Und er hatte nicht damit gerechnet. Die Zeit würde nicht für eine Verteidigung ausreichen.
Die Persona erstarrte.
„NEIN!!“
Der echte Eel zitterte und rollte sich im Traum auf dem Boden zusammen.
„Nein…“
Dann traf das Schwert Balthasars die Persona und ging durch sie durch, als hätte es nicht getroffen. In der Matrix wurde Eels Deck vollkommen zerschmettert. In der Realität wich die Energie in ganz Seattle aus den Stromleitungen und die Stadt wurde von einem Moment auf den anderen in Schatten getaucht. Die Lichter, welche sonst die Nacht zu einem zweiten Tag machten, erloschen zusammen mit Eels Persona. In der ganzen Stadt wurden Decker aus ihren Verkabelungen gerissen, der ein oder andere überlebte diesen Auswurfschock nicht.


Wisdom erreichte das Dach des Gebäudes, mit Maria in den Armen. Er setzte sie sanft ab und erhob sich lächelnd. Darke stand auf der anderen Seite und abermals umspielte Magie seine Aura. Der Adept erkannte, dass der Magus einen Zauber wirkte. Er verstand nicht, wie es ihm möglich war, aber er wusste sogar, um welchen Zauber es sich dabei handelte.
„Warum lest ihr meine Gedanken, Senôr Oscuro?“, rief er über das Dach und lief weiter auf ihn zu, ungeachtet der wilden Böen, die über den Untergrund fegten. Darke lächelte.
„Wer weiß, vielleicht möchte ich an deinem höheren Wissen teilnehmen?“, fragte der Schwarzhaarige sarkastisch. Wisdom erwidert das Grinsen.
„Meint ihr wirklich, ihr könntet in meinen Gedanken herumforsten, wie es euch gefällt?“
„Meinst du, du kannst mich daran hindern?“
„Nein!“, lachte Wisdom, „Aber wer weiß, ob das, was ihr seht, wirklich meine Gedanken sind?“
Darke erblasste. Er hatte sich bis jetzt tatsächlich in den Gedanken des Adepten befunden, aber nun veränderte sich das Gewissen des Tätowierten und verwandelte sich in schreckliche Alpträume. Schnell brach er den Zauber ab.
„Bemerkenswert.“, fauchte er lächelnd, „Selbst der große Harlekin, und auch niemand anders, gegen den ich kämpfte, war im Stande, sein Unterbewusstsein zu verändern.“
Darke hatte genug gesehen. Das Heilen der Wunden, das Entstehen der Tätowierungen, die Tatsache, das Wisdom seine Zauber identifizieren konnte, nicht zuletzt den Kampf wenige Sekunden zuvor. Wisdom hatte die Schwelle überschritten. Und er war nur noch zehn Meter von ihm entfernt und lachte.
„Was habt ihr denn, Senôr Oscuro? Wo bleiben sie denn, unsere drei Weisen?“
„Sie sind hier.“
In diesem Moment erhob sich die geflügelte Schlange Shiaranha hinter dem Magus in die Luft. Wisdom lächelte noch immer, obgleich die Präsenz des Drachens sogar Darke in wenig ängstigte. Plötzlich landete Sarah zwischen den beiden Erwachten auf dem Dach und rannte auf Wisdom zu.
„Hey, Große!“, lachte der Adept und schloss sie in die Arme. Tränen lagen in ihren Augen.
„Wisdom…“, weinte sie, „Du weißt du sonst alles! Was geschieht hier?“
Dann fielen ihr abermals seine Augen auf. Seit sie das letzte Mal in die bunten Prismen gesehen hatte, waren sie noch greller geworden. Das rote Auge schien Lava in die Luft vor Wisdoms Gesicht zu spucken, während das Goldene ein eigentümlich warmes Licht ausstrahlte. Darke lächelte, als die Luft knisterte und die Gestalt Balthasars formte. Das Matrixwesen materialisierte sich in der realen Welt, und in diesem Moment fielen in ganz Seattle die Lichter aus. Die Spitze des SNA-Gebäudes war der einzige erhellte Fleck in der ganzen Stadt, denn die Flügel der Engel begannen mit Leuchten. Maria brach zusammen. Wisdom warf dem Mädchen einen lächelnden Seitenblick zu und grinste Sarah an.
„Hey, Engelchen, die Kleine da hat ihre Wehen, und so was ist ja letztendlich doch Frauenkram.“
Sarah schaute ungläubig auf das Mädchen herab. Sie wirkte unpassend auf dieser Dachkappe, zwischen den beiden Erwachten, dem Drachen und ihr, einem Engel. Wisdom lief an ihr vorbei und ging weiter auf Darke zu.
„Was habt ihr vor, Senôr Oscuro? Was wollt ihr mit dem Kind anstellen?“
Der Magier lächelte.
„Lass mich das mit einer Gegenfrage beantworten, Wisdom. Was willst du mit dem Kind?“
Darke hob eine Hand und öffnete sie ruckartig. Unter dem Adepten schossen Flammen in die Luft, aber Wisdom rollte sich mit einem Sprung lachend aus der züngelnden Magiequelle heraus. Seine Füße qualmten noch kurz, dann erloschen auch sie. Im nächsten Moment hatte er Darke erreicht. Der Magus riss die Augen auf und schuf mit einem Gedanken eine Flammenaura um seinen eigenen Körper, die den Adepten zurückdrängte.
„Ich will nur wissen, warum sein Vorgänger getötet wurde!“
Darke lachte aus voller Kehle.
„Du willst wissen, warum Jesus umgebracht wurde? Das kann ich dir sagen, mein Freund! Auch wenn ich dir nicht glaube, dass diese Frage das Einzige ist, was dich bewegt!“
„Sprecht, Oscuro, ich höre, ich höre!“
Wisdoms Lächeln war hinterhältig, als er einem weiteren Flammenausbruch auswich und sich abermals abrollte.
„Ganz einfach, Schwellenadept! Die Herrscher wollten ihm nichts von ihrer Macht abgeben! Es ist eindeutig!“
„Falsch!“, schrie der Tätowierte und schleuderte den Magier mit einem Drehkick mehrere Meter über das Dach. Der Magus fing sich mit einem Schwebe-Zauber ab und versuchte verwirrt, zu ergründen, wie der Adept seine Flammenwand durchdrungen hatte. Die Antwort war leicht. Er hatte sie ignoriert und die Verbrennungen an seinem Bein heilten bereits wieder.
„So leicht ist es nicht, Oscuro! Das hätte der Gottessohn mit seinen Wunderkräften gewiss nicht zugelassen!“
Abermals brach Wisdom in ein Lachen aus, das Kichern eines Irren. Er hatte die Antwort gefunden, die letzte Antwort, die er nicht verstanden hatte.
„Soll ich es euch verraten, großer Magier, soll ich eure kleine Welt vernichten?“


Maria hatte die wahrscheinlich leichteste Geburt seit vielen Jahren, die Wehen dauerten kaum einen Augenblick, dann war das Kind auch schon da. Sarah blickte das Mädchen verwirrt an, und Marias Blicke ruhten ebenso erstaunt auf den Flügeln des Engels.
„Was geschieht hier?“
„Glaub mir…“, hauchte Sarah sie fasziniert an, „Ich wüsste es auch gerne.“
In diesem Moment erschien Shiaranha über den Mädchen und das Fauchen der Schlange zwang Beide dazu, sich die Ohren zuzuhalten.
„Das Kind!“, ertönte die telepathische Stimme der geflügelten Schlange in den Köpfen der Beiden, „Mein Vater will dieses Kind!“
Die Drachenfrau schnellte auf die Mädchen zu, als sie urplötzlich von einigen Kugeln getroffen wurde. Zwei Geschosse prallten einfach von den Schuppen des jungen Drachens ab, aber der Dritte bohrte sich tief in den einen Flügel. Gruumsh sprang aus der Dachluke und zielte mit der winzigen Beretta auf den Drachen.
„S-s-stehen bleiben!“, rief er zitternd, „O-o-oder ich schieße!“
Der Flammenatem der Schlange züngelte wütend auf die Luke zu und zwang den Ork zu einem waghalsigen Ausweichsprung. Sarah ergriff Maria und ihr Kind und rannte auf Wisdom zu. Der Adept war der einzige sichere Platz auf diesem Turm. Shiaranha folgte ihr kreischend, auch wenn sie die Schusswunde nur noch in der Luft torkeln ließ.
„Das Kind! Vater will das Kind!!“


Wisdom spürte inzwischen der Auren aller Anwesenden, selbst wenn er sich nicht darauf konzentrierte. Er hätte seine Augen schließen können und hätte sie immer noch gesehen. Selbst wenn alle seine fünf Sinne versagten, hätte ihn das doch nicht am Kämpfen gehindert. Er erkannte Sarah, die auf ihn zulief und entschied sich, zu handeln. Seine Seele schnellte kaum sichtbar auf die Gestalt des Magiers zu und rollte an dessen von Feuer umfangenen Körper vorbei, Wisdoms Körper folgte der Seele. Sie waren eins geworden. Als er sich aufrichtete, realisierte Darke, was passiert war und lachte.
„Beeindruckend, Wisdom! Aber getroffen hast du mich trotzdem nicht!“
„Das wollte ich auch nicht.“, meinte der Adept ausdruckslos und hob den Opferdolch an, den er aus Darkes Robe entwendet hatte. Der Magier schnappte nach Luft, denn er hatte den Körper des Tätowierten nicht einmal mehr gesehen.
„Was willst du damit?“, fragte er misstrauisch. Wisdom grinste.
„Keine Angst, er ist nicht für euch.“


Shiaranha wollte ihren Schweif gerade um Sarahs Leib schlingen, als abermals Kugeln durch die Luft schossen und die Schlange erwischten. Die Geflügelte kreischte und schnellte herum. Zuerst sah sie Gruumsh, der noch immer auf sie schoss, danach erkannte sie Zea, der mit erhobenen Dolch auf sie zusprang, aber es war bereits zu spät. Es ist selten, dass ein Drache stirbt. Allerdings ist es auch selten, dass ein Drache, der noch 700 Jahre von Erwachsensein entfernt ist, unter Menschen erscheint. Shiaranhas Träume, eine Göttin wie ihre Mutter zu sein, verblassten und die Seele löste sich vom Körper. In der Astralwelt erkannte die tote Schlange Wisdoms Seele. Das goldene Auge strahlte den Astralleib an und in diesem Moment verstand Shiaranha, das Quetzacotl nie ihre Mutter gewesen war. Dann verblasste auch die Seele. Zea und Sarah umarmten sich. Wisdom ergriff Marias Kind und schlenderte zu der Mitte des Daches, sein rotes Auge flammte in die Dunkelheit der Nacht. Darke erschauderte, als der Adept mit Schreien begann. Der Engel Balthasar beobachtete das ganze Geschehen mit einem Stirnrunzeln. Dann verschwand er. Seine Aufgabe war gelöst. Wisdoms Lächeln war zu einem Grinsen mit traurigen Augen geworden.
„Ich habe meine Väter verstanden, Herr im Himmel!“, schrie er laut und lachte daraufhin.
„Sie haben das Richtige getan! Wenn du zu stolz bist, um zu uns zu kommen, können wir nur deinen Nachlass dafür leiden lassen!!“
Er rammte den Opferdolch in den Magen des Säuglings und ließ den toten Körper zu Boden fallen.
„Komm selbst, du feiger Idiot!!“, schrie er in den Himmel hinauf.
Sarah blickte entsetzt auf das erdolchte Kind herab, das Blut vermischte sich mit den Flammen, die das Dach ergriffen hatten.
„Wisdom… was hast du getan?“
Tränen traten in ihre Augen. Darke ging es ähnlich, aber er war nicht traurig, er war nur wütend, schrecklich wütend.
„Wisdom!!“, schrie er, „Ist das deine Antwort, Schwellenadept?“
Der Tätowierte grinste den Magus an, ließ den Dolch fallen und lief auf ihn zu.
„Ja, Magus. Solange der Oberste nicht bereit ist, sich auf unsere Höhe herabzulassen, kann er auch nicht erwarten, dass wir uns auf die Seine erheben!“
Darkes Locken wirbelten vor magischer Energie umher, als das komplette Dach Feuer fing. Sarah schrie, ergriff Zeas Hand und breitete die Flügel aus, einen Moment, bevor oben alles in einem Inferno versank. Gruumsh blickte noch einmal entsetzt zu der Kindeleiche, dann nahm er die bewusstlose Maria in seine Arme und kletterte die Feuerleiter hinunter.
Wisdom lachte, als die Flammen zum wiederholten Male seine haut verbrannten. Darkes Magie drängte die Flammen unter ihm zurück, aber der Adept befand sich mitten in dem riesigen Flammensturm.
„Selbst wenn ich heute sterbe!“, begann Darke zu schreien, „Du gehst mit mir unter, Wisdom!!“
Der Schemen des Adepten war neben Oscuro, bevor dieser den nächsten Atemzug getan hatte. Der Tätowierte legte ihm seinen brennenden Arm auf die Schulter und seine Augen wirkten im Schein der lodernden Flammen noch bedrohlicher.
„Ich sterbe jetzt, Oscuro, da haben sie wohl Recht. Aber ihre Zeit ist noch nicht gekommen.“
Darke schauderte, als er die Stimme des Adepten vernahm, und er fühlte sich außer Stande, irgendetwas zu tun.
„Ich, Senôr Oscuro, habe die Welt verstanden, ich habe meinen ‚Frieden’ mit Gott gemacht. Ich bin bereit für den Tod. Sie dagegen werden um ihr Leben betteln. 2057…“
Wisdom flüsterte etwas ins Ohr des Magiers, und kurz darauf verbannte das Gesicht des Tätowierten. Darke zitterte am ganzen Leib, denn der Adept hatte ihn ein Datum genannt. Und eine Uhrzeit. Wisdoms Körper wurde im Zentrum der Flammen immer kleiner, bis er und mit ihm auch sein Lachen endgültig verschwand. Die riesige Fackel, zu der das Nachrichtenzentrum geworden war, erhellte Seattle in dieser Nacht.


Zea und Sarah lagen fest umschlungen an Bord der Chummerplode. Jose brachte den Beiden heißen synthetischen Tee und lächelte sie an. Sie schliefen fest und ruhig, ihre Gesichter lächelten. Jose musste an irgendein Buch denken, dass sie irgendwann mal überflogen hatte. Darin ging es um zwei Menschen, die sich wirklich geliebt hatten, irgendeine altmodische Geschichte von irgendeinem langweiligen Engländer. Sie zuckte mit den Schultern und verließ das Zimmer.


„Hey, Mädchen!“
Gruumsh weckte Maria sanft und erkundigte sich nach ihren Zustand.
„Mir geht es gut, und ihnen?“
Gruumsh zuckte zusammen.
„Du fragst mich, wie es mir geht?“
Das Mädchen blickte ihn ein wenig verwirrt an.
„Wieso nicht?“
„Nun ja…“, meinte Gruumsh zögerlich, „Ich bin ein Ork.“
„Und?“, fragte Maria beiläufig, „Ihr seid doch nicht schlechter als jeder andere hier.“
Gruumsh lächelte.
„Vielen Dank. Komm jetzt, ich bring dich nach Hause, zu deinen Eltern.“
Maria blickte zu Boden.
„Ich habe …keine Eltern mehr.“
Der Ork legte ihr die Hände auf die Schultern.
„Tut mir Leid…“
Die Beiden schwiegen kurz. Dann blickte Gruumsh auf und grinste.
„Hey! Du kannst mit zu uns kommen!“
„Wirklich?“, fragte Maria zögerlich, „Aber nur, bis ich was Richtiges gefunden habe.“
„Na klar!“, meinte Gruumsh, „Meine Frau wollte schon immer eine Tochter haben!“
Das Mädchen lachte und zusammen gingen die Beiden nach Hause.




2 Tage später.



Darke blickte auf den zusammen gekrümmten Körper Eels herab. Er hatte sich seit zwei Tagen nicht mehr bewegt.
„Wie geht es ihm?“, fragte er den Doktor.
„Nun ja…“, antwortete dieser, „Ich habe so etwas noch nie gesehen. Rein biologisch ist der tot, allerdings zeigt das Nervenstromgerät an, dass er träumt!“
Darke nahm die Hand vom Mund und nickte langsam.
„In Ordnung. Sorgen sie gut für ihn. Vielleicht hat er schlechte Träume.“
Der Doktor nickte, als Darke den Raum verließ. Der Magus dachte über Wisdoms letzte Worte nach. 2057. Das Datum hatte sich in seine Gedanken gebrannt wie ein Schüreisen. Leise verfluchte er den Adepten dafür. Niemand sollte wissen, wann seine Zeit gekommen ist.
„Nun gut, Wisdom. Wir werden sehen, ob du Recht behältst.“
Gedankenverloren kümmerte sich Senôr Oscuro um andere Projekte.


„Der Gewinner heißt Demon.4ice!!!“
Die digitale Stimme des Lautsprechers dröhnte durch die Besuchermengen des dritten illegalen Matrix-Straßenkampfes.
„Mit einer einzigen geheimnisvollen Attacke hat der Decker seinen Gegner, Jane-in-the-Box, die Gewinnerin des Vorjahres fertig gemacht!“
Auf Barts Bildschirm leuchtete ein Textfenster auf. Jane-in-the-Box stellte ihm eine Frage.
„Was zur Hölle war das?“, lautete die knappe Nachricht. Demon.4ice schmunzelte.
„Geheimnis.“, war die Antwort.






Ende.




...



OK, Nachwort zu den Charas.. (<-- Ego, ich weiß, muss aber jetzt mal sein)

Gruumsh: ich mag ihn. Natürlich zuerst als dumme Nebenfigur gedacht, ist wieder aus dem Ruder gelaufen.
Zitat Zitat
Zu Gruumsh: Mir fehlt die Hochzeitsbeschreibung sehr, bitte nachreichen. Er ist der erste sympatische Shadowrunork abseits der Klischees. Niemand is so cool wie Gruumsh.
Ich mag ihn ja auch, aber das würde zu weit gehen. Schrieb doch nen Fanfic.

Wisdom: Ich mag ihn. Die Augen haben was, sein Ende gefällt mir auch. Wie immer in meinen Geschichten zuviel 'kreischen', 'lächeln' und 'kichern'
Zitat Zitat
Zu Wisdom: Er erinnert mich an einige deiner D&D Chars, lass ihn bloß nicht so enden!
Tja, er hat sich halt in die große Reihe meiner Charas eingereiht, die zwischen Genie und Wahnsinnn pendeltn.

Sarah: Langweilig, als Juliette noch wesentlich interessanter. Hätte man vielleicht mehr draus machen können.

Zea: Total fürn Arsch, son langweilien Chara hatte ich selten.

Demon.4ice: Hat eigentlich irgendjemand den dreifachen Wortwitz des Namens verstanden? Sonst mag ich ihn, halt der ruhige Kern.

Jose: Halt ein knuddeliges Erdhörnchen, mag ich auch.

Darke ist nicht mein eigener Charakter, tiefe Verbeugung vor Jak Koke.
(Schleichwerbung: Lest Die Shadowrun-Bücher 29, 31 und 33 (Drachenherz-Saga))

Shiaranha: Sowas von aus den Fingern gezogen, irgendwie hätt ich sie weglassen können. ;_; --> Fürn Arsch.

Eel: Mein geheimer Lieblingchara, absoluter Uberstyl0r, ich liebe den Mann. Ich find sein Ende auch sehr schön ebenso wie den Sprachstil.



Wem der dritte Teil nicht gefällt, muss den zweiten halt auch ignorieren.
Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich den ersten Akt als Einzelgeschichte besser finde oder das Ganze. Das Ende des Ganzens hab ich besser hingekriegt, als ich erwartet hab, aber die ganze Sache mit drei Engeln und so kommt aus den Fingern gezogen rüber. Letztendlich muss sich jeder sein Bild drüber machen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit!



PS: Werd das Ganze an FanPro schicken, man kanns ja mal versuchen, wünscht mir Glück!