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Thema: Deutschland

  1. #1

    Deutschland

    Deutschland

    "Da ist ja noch alles voller Scheiße."
    Meine Mutter ist eine hervorragende Schauspielerin, sie spielt die Tragödie wie keine andere.
    Die Zwanziguhrnachrichten flimmern kühl blau auf dem kleinen Fernseher, der Sprecher in Anzug und rosa Krawatte bemüht sich um Ignoranz gegenüber den vielen Erdbebenopfern. Ich stehe im Türrahmen. Es stinkt nach Mensch. Eben Scheiße. Im Gitterbett, Holzimitat, liegt ein fünfzigjähriger Mann. Eins der Seitengitter ist heruntergezogen, meine Mutter steht davor, den Kopf gen Zimmerdecke geworfen. Dort, wo schon so viele Löcher hineingeguckt wurden von meinem Vater. Ihr Gesicht ist gerötet, die Mundwinkel hängen, zittern, Tränen dürfen nicht laufen- ich stehe im Türrahmen. Langsam zieht sie die extragroße Windel zwischen den weißen Schenkeln meines Vaters hervor. Die weißen, nur zu dünnen Handschuhe schmerzen.
    Ich habe die Arme vor meiner Brust verschrenkt, als ich es bemerke ist es zu spät. Mein Vater schaut mir ins Gesicht. Zwei verstorbene Augen im toten Gesicht.
    Er hält mich fest. Seine Mundwinkel, wie die meiner Mutter, hängen beide. Eine schier komische Harmonie, nicht nur zwischen den beiden ehemaligen Partnern -meinen Eltern- sondern auch in seinem Gesicht. Die halbseitige Lähmung nach dem Schlaganfall hat es entstellt, die Wangen durch das Kortison rot gefärbt und aufgedunsen, den linken Mundwinkel zum Sabbern verdammt. Unter frühkindlich angsteinflössenden Augenbrauen, heute kaum mehr zu öffnenden Augenlidern, schaut er mich an. Die Arme, die ich nur kurz von meiner Brust genommen habe, grenzen ihn schon lang wieder aus. Ich weiß es, aber ich kann nicht anders. Ich kann sie nicht rühren. Ich will nicht.
    Sein Blick wird schwächer, schweift ab, er kann mich nicht länger fixieren.
    Meine Mutter spielt weiter, sie ist wirklich begnadet, fleht die Welt um Mitleid an. Der Lappen wischt schnell und hart über die entzündete Haut. Sein Gesicht verkrampft sich, verkrampft sich nur halb. Die Augen leuchten auf vor Schmerz. Das Fleisch an den Innenschenkeln ist durch den sauren Stuhlgang versehrt. Sie wischt schneller, kraftloser, mutloser. Dann entschwinden die Augen meines Vaters wieder- sie ist fertig und wirft die Decke über den Körper.
    "Nach vereinzelten Regenschauern am Vormittag folgt größtenteils Sonnenschein..."
    Größtenteils, die Nachrichtensprecherin lächelt und wünscht einen schönen Abend. Ich habe die Handschuhe in meiner Hand, umgedreht natürlich,jetzt braun nicht mehr weiß. Meine Mutter hatte ihren Abgang. Ich schaue auf meinen erloschen Vater.
    Dann fällt der Vorhang. Ich drehe mich um und gehe zum Mülleimer.

  2. #2
    Evil aber gut. Kritik wäre irgendwie unangebracht, und sorecht fällt mir auch nichts ein.
    Hebt sich angenehm von der Masse solcher Sachen ab.

  3. #3
    Wie in vielen deiner Geschichten ein toller, gefühlsbetonter, dabei jedoch kühler Stil. Durch die relative Kürze der Geschichte kommt deren tiefe Hintergründigkeit noch stärker zur Entfaltung.

    Zitat Zitat
    Die weißen, nur zu dünnen Handschuhe schmerzen.
    Häh? Die schmerzen, weil sie zu dünn sind? Versteh ich nicht...

    Zitat Zitat
    "Da ist ja noch alles voller Scheiße."
    Wieso "noch"?

    Und letztendlich: Wieso sind seine Handschuhe am Ende braun, obwohl er nur im Türrahmen gestanden hat?

    EDIT: Ach ja, erkläre mir doch bitte den Titel. Ist die ganze Geschichte am Ende eine Metapher für Deutschland? Dann würde ich aber von einem Mittfünfziger reden, statt von einem Fünfzigjährigen...

    Geändert von Cyberwoolf (05.11.2005 um 15:45 Uhr)

  4. #4
    Aeusserst duester! Aber irgendwie fesselnd. Muss schon sagen, Respekt.
    Nur den Titel kann ich nicht hundertprozentig nachvollziehen. Natuerlich hat man die Halbseitige Laehmung und das "Alles in Scheisse" Thema aber welche Rolle ist der Erzaehler und die Mutter?

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