Der letzte Fehler
Ich konnte schon von weitem sehen, dass sie es war. Sie war seit Jahren meine beste Freundin… seit ich denken kann. Langsam ging sie über den Schotterweg, Steine knirschten unter ihren Schuhen.
Sie mochte es hier nicht, egal wie grün und hell es war, für sie war es immer noch ein Ort des Abschieds. Dennoch war sie hier, nur für mich.
Immer wieder sah sie sich um, schaute nach den anderen Menschen, die dort waren… aus Angst, sie sei die Einzige dort. Denn Strauß mit Blumen, den sie mir mitbrachte, drückte sie ganz fest an sich. Die meiste Zeit blickte sie zu Boden, doch wohl weniger, um dem Folgen zu können.
Je näher sie mir kam, desto langsamer ging sie, es tat ihr wirklich weh, hierhin zu kommen. Ich war mir sicher, es war das einzige Mal, dass sie hierhin kommen würde. Mit einem sanften streichen über ihren Rock setzte sie sich auf eine Bank direkt vor mir. Immer noch blickte sie zu Boden…
„Du hättest zu mir kommen können!“ Ich weiß… „Ich war immer für dich da.“ Das stimmt…
„Ich hätte sicher helfen können.“ Womöglich…
Endlich blickte sie hoch, ihre leicht vertränten Augen glänzten im Sonnenlicht. Mit einer Hand strich sie sich die kleinen Tränen aus den Augen.
„Hier ist es schön.“ Sie versuchte ein lächeln vorzutäuschen. „Nein wirklich. Schön hell hier… eine gewisse Idylle.“ Wieder blickte sie sich um… oder sie blickte einfach weg.
„Ich hab dir Blumen mitgebracht.“ Diese Alpenlilien, die ich so gerne mag. „Ich weiß jetzt, wie sie heißen: Herbstzeitlose… komischer Name, oder?“ Ja, wie unpassend…
Langsam legte sie die Blumen auf die Bank, direkt neben sich.
Eine halbe Minute lang schwieg sie, sie sagte einfach nichts, blieb stumm.
„Es hätte wie früher sein können…“ Ich weiß nicht, was du meinst… „Wir hätten wieder jeden Tag miteinander verbringen können… so wie früher…“ Das ging einfach nicht „Warum war das nicht möglich? Früher ging es doch auch…“ Das war früher „Und warum bist du statt dessen weg gegangen?“ Weil ich einfach nicht hier bleiben konnte.
„Du fehlst deiner Mutter… sie weint den ganzen Tag… ich höre es immer, wenn ich an eurem Haus vorbeigehe…“ Ich hab sie noch nie weinen sehen „…und deinen Vater habe ich auch schon seit langem nicht mehr gesehen… ihm soll gekündigt worden sein… Trunkenheit bei der Arbeit…“ Er hatte nie viel getrunken… „…nur dein Bruder hofft, dich wieder zu sehen…“ Dummer kleiner Bruder… ich werde nicht zurückkommen.
„Ich hab deine Freundin schon lang nicht mehr gesehen… wo ist sie?“ Weg… einfach weg…
„Hat sie dich verlassen?“ Ja… „War mir doch klar… sie wollte nie etwas Ernsthaftes mit dir.“
Aber ich von ihr… „Ich verstehe es nicht…!“
Nervös strich sie sich durch ihr Haar, atmete schwer durch die geschlossenen Zähne… sie versuchte nicht zu weinen. „Ich werde dich ewig lieben…“ Ich dich auch… „…aber das war wohl ein Fehler von mir! Wenn du den Tod als eine bessere Alternative ansiehst…“ Denke ich auch… „Na ja, ich muss wieder los, vielleicht komme ich morgen wieder.“ Du wirst morgen sicher nicht wieder kommen. „Wahrscheinlich nicht! Ich werde die anderen von dir grüßen.“ Mit diesen Worten stand sie auf, griff nach den Blumen. „Die gehören dir!“ Langsam legte sie die Blumen auf den Boden, direkt neben die Kerze. „Der Gärtner wird sie sicher in einen Topf stellen.“ Mir wäre es lieber, wenn sie liegen blieben…
„Ich gehe jetzt, vielleicht sehen wir uns ja mal wieder.“ Nur dieses eine mal streichelte sie den Grabstein. Dann ging sie dahin zurück, wo sie hergekommen war, diesmal allerdings schneller und sichtlich stärker.
Nein, wir werden uns nicht wieder sehen.