(Zur Kritik später nochmal was. )


Das kratzige, alte, Leder meines Sessels begann, mich zu nerven, als ich mich das erste Mal erhob, um aus dem Fenster zu schauen. Die Nacht war dunkel und klar, im krassen Gegensatz zu den Gedanken in meinem Kopf, irgendein Hinweis fehlte mir, aber dieser lag offensichtlich am Grund eines tiefen Sees mit besonders vielen, außergewöhnlich großen Haien. Das Telefon riss mich aus meinen Überlegungen, und müde antwortete ich seinem Ruf.
„Mullen…“, leierte ich die routinierte Gesprächsformel herunter, aber schon, bevor ich richtig begonnen hatte, unterbrach mich die andere Seite unsanft.
„Abend, Isaac. Kann ich vorbeikommen? Danke.“
Bevor ich realisiert hatte, wer am anderen Ende der Leitung war, hatte sie auch schon wieder aufgelegt. Mit einem genervten Gesicht starrte ich das Telefon an, und dieses beschränkt-phantasielose Läuten einer freien Leitung kam mir an diesem Tag besonders sinnlos vor. Tamara, die in letzter Zeit viel zu oft der Meinung war, ihre Wut auf Gott und die Welt an irgendjemandem auslassen zu müssen, sie nervte mich schrecklich, und wenn sie noch so schön war. Wenige Minuten später klackte das Schloss meiner Tür, und eigentlich erinnerte ich mich gar nicht daran, ihr meinen Schlüssel überlassen zu haben. Egal. Mit der Ruhe war es eh aus, noch bevor ihre breiten Absätze die Türschwelle übertreten hatten, begann der Redeschwall.
„Abend, Isaac. Alles in Ordnung bei dir? Gut. Kann ich deine Küche benutzen?“
Ohne mich umzudrehen, oder auch nur meine Gedanken zu unterbrechen, bejahte ich die rhetorische Frage, denn Tamara machte jeden Ort, an dem sie einige Sekunden war, zu ihrem Zuhause.
„Willst du auch was? Die Idioten vom Heizwerk haben mir das Gas abgestellt, ich schlaf heute hier.“
„Danke, gern. Soll ich das Bett neu beziehen oder reicht die Matratze?“
„Ich hab Schlafsack mit. Curry?“
„Ja.“
Ihre Penetranz hatte, zugegebenermaßen, auch ihre Vorteile.


Einige Zeit später betrat sie das Wohnzimmer mit zwei riesigen Tellern in den Händen, Gewürzmischung und Besteck in einer Tüte hatte sie sich zwischen die Zähne geklemmt. Das Geschirr schepperte vor mir auf den Tisch. Als ich aufblickte, fiel mir auf, dass sie die dämliche, blonde Haarfärbung weggelassen hatte, und ihr wunderschöner, schwarzer Schopf fiel endlich wieder glänzend über die Schulter.
„Oh, wieder Mediterran?“, meinte ich mit einem Grinsen auf ihre Haare, und sie warf mir einen bitterbösen Blick zu, drückte mir die Gabel in die hand, zeigte auf das Essen und zischte provokant: „Nein, Isaac, aber Indisch!“
Kochen konnte sie, was meine Unfähigkeit in diesem Fach glücklicherweise ausglich, und auch diesmal schmeckte das Gericht göttlich. Während des Essens ging mir die babylonische Geschichte nicht aus dem Kopf, und ich erzählte Tamara die ganze Sache, nicht ohne einige geschichtliche Hintergründe zu erläutern, obwohl das eigentlich unnütz war, immerhin war sie eine mehr als intelligente Kollegin, wenn auch chronisch arbeitslos, aufgrund ihrer suchthaften Reiselust. Sie hatte nicht einmal mehr eine Telefonnummer.
„Intereffant.“, meinte die Junge Frau mit einem Bissen Huhn im Mund, denn Tischmanieren waren ihr ebenso fremd wie absurd. Sie schluckte ihn herunter. „Wo ist das Problem?“
„Weißt du“, begann ich, „mir kommt das ganze so vor, als wäre mehr hinter der Sache, als nur der Turmbau. Herodot hat eigentlich kaum auch nur eine Metapher verwendet, und hier liest man die Irrealität zwischen jedem Satz.“
Tamara schien zu überlegen, und um diese Gedanken zu unterstützen, schob sie sich ein weiteres Geflügelstück in den Mund.
„Hast ja Recht, mir kommt das auch komisch vor. Kein Gott hat etwas gegen einen Turm, sonst wären ja alle Vögel Ketzer. Du hast das Zeug doch sicher nicht in Hochdeutsch gefunden?“
„Hermann hat es übersetzt, aber…“
„Aha. Gut, denk mal nach. Hermann hat jeden Satz mit absoluter Sicherheit wörtlich übersetzt. Kannst du altgriechisch?“
„Nein, nur die Grundlagen.“, meinte ich genervt, denn Tamara hatte schon wieder die Überhand in dieser Sache übernommen. Mullen, du bist ein Idiot, du hast ihr davon erzählt. Tamara schaute kurz auf die Übersetzung, warf sie über ihren Rücken, zuckte mit den Schultern und blickte mich mit ihren grünen Augen an.
„Hol mal das Original. Mir kribbelts in den Fingern.“
„Wo zur Hölle soll ich das Original…?“
„Tu nicht so, du hast dir doch sowieso eine Kopie gemacht, also leg nen Zahn zu.“
Ja, Herrin, summte es mir im Kopf, aber die Neugier trieb mich dazu, ihren Wunsch zu erfüllen. Unter einigen Büchern über Babylon und sumerische Religion zerrte ich den Wisch hervor. Sie kannte mich offenbar zu gut.
„Hier. Lauter Wörter, die man vielfach auslegen kann, das weiß sogar ich, und ich hab nie eine Lehrstunde in Griechisch gehabt.“
„Aber nicht bei Herodot, er hat immer nüchtern geschrieben.“
„Jaja, und darüber, wie der Höllenschlund den fetten König verschluckt hat.“
Verdammt. Sie hatte schon wieder Recht. Ich gab auf, und, wie ich abermals zugeben musste, unter dieser Sichtweise sah die Überlieferung wiederum komplett anders aus. Ich nahm ihr das Papier aus der Hand und ließ meine Augen über jene Wörter gleiten, deren Bedeutung ich kannte.
„Hier. Bab-ili. Hermann hat es mit Babel übersetzt, was nahe liegt.“
„Und?“, fragte Tamara genervt, und mir fiel auf, dass es sie wurmte, von mir belehrt zu werden.
„Bab-ili ist kein Altgriechisch, das Wort ist babylonisch.“
„Das ergibt keinen Sinn, Isaac, wieso sollte Herodot Wörter aus der Landessprache übernommen haben?“
„Ich verstehe es auch noch nicht ganz… Mir kommt es so vor, als wollte er irgendetwas… verschlüsseln.“
„Was bedeutet Bab-ili denn…?“
Ich schaute aus dem Fenster, herauf in die Nacht, und mir wurde einiges klar.
„Bab-ili ist das Tor zum Himmel…“
Tamara folgte meinem Blick und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Eine ungewöhnliche Ruhe schlich sich in den Raum, bis ich das Wort wieder ergiff.
„Und was findet man hinter dem Tor… das zu Gott führt?“
Ihre Lippen öffneten sich kurz, schlossen sich dann aber wieder.
„… die Ewigkeit.“
Dann verstand ich. Das „Mosaik“, diese „Idee“, von der jener Geschichtsschreiber berichtet hatte, waren Umschreibungen, auch der seltsame Umstand, der König wolle seine Hand aus dem Paradies zurückziehen, ergab plötzlich Sinn.
„Tamara, du bist wunderbar! Ich weiß jetzt, was Herodot hier beschreibt!“
Sie zog eine Augenbraue in die Höhe und betrachtete skeptisch, wie ich mit einem Bleistift etwas auf ein Papier zu krakeln begann.
„Überall aus der Welt hatte man Steine herangetragen!“, erklärte ich es ihr, „Dieser Satz steht für die Erkenntnisse, die man aus aller Welt gesammelt hatte, denn Steine gab es im Zweistromland eigentlich immer schon genug!“
„Erkenntnisse, um einen Turm zu bauen?“, fragte sie zweifelnd.
„Nein, es ging um etwas Größeres, etwas viel größeres.
„Spann mich nicht auf die Folter, Isaac.“
„Die Menschen, die dachten, sie würden ein Rätsel lösen, damit meinte Herodot wohl, dass die Leute damals ebenfalls nicht davon wussten, was der König tat. In Wirklichkeit bauten sie einen Turm in den Himmel, das bedeutet, dass die Arbeit dieser Menschen dem König den Weg ebnete.“
Warum war ich so blind gewesen? Nun verbanden sich die Indizien vor meinen Augen zu einer Kette, und ich musste lächeln.
„Er wollte auf einer Stufe mit seinem Gott stehen. Damit wollte uns Herodot nicht einfach sagen, dass der König bis in den Himmel bauen wollte. Tamara, sag mir etwas, was die Götter von den Menschen unterscheidet, was stellt diesen Gott über alle Menschenkinder?“
„Isaac, du machst mir Angst.“
„Die Unsterblichkeit! Der babylonische König wollte unsterblich werden!“
Die Frau öffnete den Mund abermals zu einer Kritik, aber schloss ihn dann wieder. Mit großen Augen schaute sie ihn an.
„Aber dann ergibt die Sache mit den Sprachen doch überhaupt keinen Sinn!“
„Doch, Tamara. Irgendetwas hat den Plan des Königs vereitelt, und Herodot meint eindeutig, es seien keine höheren Mächte im Spiel gewesen. Mit den Stimmen meinte er die anderen Völker, die diese Stimmen sprechen! Andere Ländern bekamen Wind von den Plänen des Monarchen und fürchteten um ihre Macht. Sie schlossen sich zusammen, vernichteten den König und sein Projekt, und um zu verhindern, dass so was noch einmal geschehen konnte, zerstörten sie alle Aufzeichnungen. Die Hebräer aber, von denen später in der Bibel berichtet wird, behielten das Ereignis gut in Erinnerung, und schrieben es mithilfe der Bibel in verschlüsselter Form nieder, um der Bestrafung zu entgehen! Auch Herodot verstand, um was es sich wirklich gehandelt hat!“
Tamara war geschockt, und ich konnte mir vorstellen, dass sich ihre Gedanken gerade überschlugen.
„Isaac. Wenn das stimmt, hast du soeben die antike Geschichte in den Grundfesten erschüttert. Die Menschen sollen ein Weg gefunden haben, unsterblich zu werden? Das wird niemand glauben.“
Das Telefon läutete erneut und wir schauten synchron zu dem herausfordernden Hörer. Schnell nahm ich ihn ab, um dieser Störung so schnell wie möglich ein Ende zu setzen.
„Mullen. Wer da?“
„Tag, Herr Mullen, hier ist Hermann…“
Seine Stimme war traurig, aber das registrierte ich in diesem Moment überhaupt nicht.
„Hermann? Hör mir zu, ich habe das Geheimnis…“
„Mullen! Lassen sie mich ausreden. Es gibt kein Geheimnis!“
Mir fuhr der Schrecken in alle Glieder, wenn Hermann schon so schrie, musste etwas Wichtiges geschehen sein.
„Vergessen sie das Pergament. Ich hab den Bericht des Labors. Nach dreimaliger Untersuchung sind sie zu dem Schluss gekommen, es sei gefälscht.“
„Wie bitte?!“
Tamara drehte sich um und hob eine Augenbraue in meine Richtung. Ich schaltete das Telefon auf Lautsprecher.
„Du hast richtig gehört. Das Pergament war weder von Herodot, noch aus dieser Zeit. Es ist… falsch.“
Ich bemerkte Hermanns Enttäuschung, und wollte deshalb nicht weiter darauf eingehen, aber mir ging es nicht besser. Alles war so sicher gewesen…
Tamara ergriff den Hörer und donnerte ihre Stimme in das Gerät.
„Dann haben sich die Idioten halt geirrt! Ich will sofort das Pergament sehen!“
„Oh, sie sind auch dort? Tut mir Leid, Tamara, im Labor scheint gleich nach der Untersuchung ein Malheur passiert zu sein, die… Fälschung wurde zerstört.“
„Wie bitte?!“
„Was?“, stimmte ich ein, „Das Pergament ist zerstört?!“
„Ja, ich wollte es auch erst nicht glauben, aber…“
Ich warf den Hörer auf das Gerät und schlug meine Faust gegen die Wand.
„Was geht hier vor? Dieses Pergament war echt! Und jetzt werden wir es niemals beweisen können!“
Tamara ließ sich auf meinen Sessel fallen und stützte ihren Kopf in die Hände.
„Die Sache stinkt. Aber wir können nichts machen. Die Geschichte über den Turmbau wird wohl noch eine Weile eine solche bleiben.“
Mir kamen Herodots Worte (Und ich war sicher, es waren die seinigen.) in den Sinn.
„Rätsel löst jeder Mensch einmal, doch die Gründe, warum es diese überhaupt gibt, sind zumeist weit mehr verworren.“
„Verdammt…“
„Komm, Isaac, ich brauch jetzt nen Schnaps. Kommst du mit?“
Ich folgte ihr wortlos bis an die Tür und schaute herauf in den Nachthimmel. Alles war ruhig und keine Wolke verdeckte den Mond.
„Nein, danke. Tor zum Himmel, Hm?“
Ich musste lächeln, aber eine einsame Träne lief mir über das Gesicht.
„Ich glaube nicht, dass es jemals einen Turm gab, aber ich wage auch bezweifeln, dass die ganze Geschichte erdacht ist.“
Tamara drehte sich noch einmal um und lächelte mir ins Gesicht.
„Wer weiß schon, was damals wirklich passiert ist. Die Christen wären niemals einfallsreich genug gewesen, um sich so etwas wie den Turm selbst auszudenken.“
Ich richtete mich auf, wischte die Träne aus dem Gesicht und lächelte.
„Das hast du wohl Recht. Wahrscheinlich wurde der babylonische König tatsächlich von den Göttern bestraft, für seinen törichten Wunsch, ewig zu leben. Er träumte vom Paradies, ohne daran zu denken, Buße für seine Sünden zu leisten, um diesen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.“
Kurz schwiegen wir, dann drehte ich mich um, um zurück ins Haus zu gehen.
„Auch ich werde mich jetzt meinen Träumen hingeben, Gute Nacht, Tamara! Und vielen Dank.“
„Kein Problem!“, lachte sie, „Träum schön! Unsere Träume sind die einzigen Orte, an denen uns kein Gott etwas anhaben kann.“
Ich erwiderte das Lächeln, als sie in der Dunkelheit verschwand. Noch lange stand ich da und schaute in den Himmel herauf.


Gott bestrafte nicht den Wunsch des babylonischen Königs.
Er bestrafte den Weg.



Ende