Goethes Erben - Zimmer 34
Grau in Grau -
die Warteschleife im Hotel und das Hotel.
Grau in Grau.
In der Halle warten Menschen.
Brauchen keine Münder, keine Augen.
Uninteressierte glasige Blicke.
Vergeistigt - farbenblind.
Betretenes Schweigen.
Kein Blick verfolgt mich.
Keiner grüßt und kein Gast fragt.
An der Rezeption gebe ich über eine Tastatur meinen Wunsch ein:
Ein graues Zimmer ohne Frühstück.
Ich zahle mit Plastik.
Meine Hand entnimmt einem sich öffnenden Schubfach einen Schlüssel.
Zimmer 34.
Dritter Stock.
Die zweite Tür links, oder war es rechts?
Was stand eigentlich sonst noch auf dem Display, als meine Buchung bestätigt wurde?
Sicher nichts Wichtiges.
Der Drucker hätte es sicherlich ausgespuckt.
Gleichzeitig mit dem Schlüssel.
Meinem Schlüssel.
Die Aluminiumtür des Aufzugs öffnet sich.
Ich betrete den Fahrstuhl allein.
Als einziger Gast.
Die Unentschlossenen bleiben Back.
Sie sehen nicht.
Sie sprechen nicht.
Sie denken nicht.
Machen keine Fehler.
Zumindest glauben sie das.
Der Fahrstuhl bewegt sich.
Einen halben Gedanken weiter öffnet sich das Aluminium.
Ein leerer Gang .
Ich zähle die Schritte
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf...
Leider in die falsche Richtung.
Es hieß doch links.
Fünf Schritte.
Den Weg Back.
Mit zehn weiteren erreiche ich mein Zimmer.
Nr. 34.
Vor der Tür.
Der Schlüssel...
Hinter der Tür.
Kein Teppich. Nur hellgraue Kacheln.
An Boden und Wänden.
Leicht zu reinigen.
Der Raum ist viel zu grell.
Unangenehm hell.
Aber leicht zu reinigen.
Neonlicht macht häßlich.
Obwohl mich keiner sieht.
Es macht unvorteilhaft.
Es ist zu ehrlich.
Das Neonlicht.
Aber praktisch.
Für das Reinigungspersonal.
Kein Fenster.
Kein Tageslicht.
Kein Lebendlicht.
Im Bad geht gar kein Licht.
Im Spiegel sehe ich besser aus als befürchtet.
Das Licht bleibt vor der Tür des Badezimmers.
Die Wahrheit wartet ab.
Verliert ihren Schrecken.
Ich ziehe mich aus.
Nehme ein Bad.
Bis auf das warme Wasser fühle ich nichts.
Wie angenehm
Wieder im Zimmer.
Die Wahrheit wartet.
Lässt sich nicht verscheuchen.
Ein Stuhl aus Plastik.
Kein Tisch.
Ein Bett mit Plastiklaken
Keine Decke.
Aber ein abwaschbares Kissen.
Für Menschen die es bequem haben wollen.
Typisch eingerichtet.
Eben ein graues Zimmer ohne Frühstück.
Ein dunkelgraues Telefon.
Am Boden neben dem Bett.
Für die Unentschlossenen.
Von Außen nicht erreichbar.
Daneben eine graue Schachtel.
Es ist zu hell.
Ich stelle mich auf den Plasikstuhl.
Drehe zwei der drei Neonröhren aus der Halterung.
Angenehmer.
Aber bei weitem nicht gemütlich.
Effektiv.
Leicht zu reinigen.
Ich setze mich auf den Stuhl.
Schaue zum Telefon.
Fixiere die Schachtel.
Atme bewußt ein und aus.
Blicke Back auf einen Abschnitt Leben.
Noch einmal bewußt erleben.
Vielleicht auch genießen.
Die Schachtel.
Ich stehe auf.
Öffne die Schachtel.
Setze mich auf den Stuhl.
Schlucke einen bunten Cocktail.
Tabletten und Kapseln.
Geschmacklos.
Sie waren das einzige bunte in diesem Raum.
In diesem Hotel.
Die Wirkung färbt den Verstand.
Sind Farben schön ?
Machen sie Spaß?
Ich warte während ich denke.
Ich höre auf zu denken.
Warte weiter.
Der Raum wird größer.
Grau schimmert grün.
Ich werde unruhig.
Kann meinen Herzschlag spüren.
Die Unordnung in meinem Körper.
Die Decke schimmert bläulich.
Irgendwie angenehm.
So blau.
Der Raum verliert jede Form.
Jede Wand, die Decke.
Alles scheint zu leben.
Meine Augen verirren sich.
Ich schließe sie.
Habe Probleme zu sitzen.
Spüre keinen Stuhl.
Keinen Boden.
Keine Füße.
Ich merke wie ich falle.
Mein Kopf schlägt auf.
Schmerzfrei.
Der Boden ist doch noch anwesend.
Aber nicht spürbar.
Nicht für meinen Kopf.
Mein Blut ist leuchtend Rot.
Irgendwie künstlich.
Leuchtend Rot.
Leicht zu reinigen
Geändert hat sich nichts
Goethes Erben - Fleischschuld
Auch wenn dieser Raum sicherlich schon unzählige Schreie beheimatet hat, so sind es immer wieder die wimmernden Laute von Kindern, die das Grauen, der bei der Bestrafung anwesenden Zeugen, geistig überwuchern.
Kleine Finger umfassen vorsichtig das dreieckige, rasierklingenscharfe Messer und treiben es in das eigene Fleisch. Jedes Kind versucht zuerst sich schonend zu bestrafen, doch das Gesetz fordert immer die korrekte Einhaltung des Tributes an eigenem Fleisch.
Was zählt ist jene blutige Masse bestraften Lebens, welches auf der Waage zu Protokoll genommen werden kann. Schürfwunden wiegen nichts, nur rohes Fleisch, Haut, Knochen und Fettgewebe gelten als Sühneopfer. Je schwerer die Tat im Angesicht der Staatsgewalt, um so tiefer muß der Delinquent die Dreieckklinge in den eigenen Körper treiben. Die Selbstverstümmelung ist neben unterschiedlichen Formen der Todesstrafe die einzige Form der Sühne.
Egal ob Mann, Frau, Kind oder Greis, das Gesetz trifft jeden.
Bei Diebstahl von Lebensmitteln, oder Konspiration ist die Fleischsühne oft so groß, daß der Verurteilte an seinem eigenen Körper Amputationen vornehmen muß.
Es ist schon ein bizarrer Anblick, wenn Kinder ihre kleinen Ärmchen vom Körper abtrennen um für ein gestohlenes Stück Brot oder eine Konserve Obst zu sühnen.
Schon so manch Zwölfjähriger mußte mit seinen Unterschenkeln für eine unbedachte Äußerung auf dem Hof einer Erziehungsanstalt bezahlen.
Gerechte Schreie gab es nur selten, denn eine Schuld nachzuweisen fiel den Behörden viel leichter, als es den Delinquenten möglich war, ihre Unschuld zu beweisen.
Die Gesellschaft wollte Sühne, und viele Menschen genossen es sogar, den Bestrafungen beizuwohnen. Bei Kindern mußten die Menschen fast immer gezwungen werden, der Tilgung der Fleischschuld beizuwohnen. Die Menschen betrachteten lieber die blauen Bilder, die das Grauen mundgerecht und steril frei Haus lieferten.
Und das alles in einer Gesellschaft von Vegetariern, denn Tiere gab es seit Jahrzehnten nicht mehr. Es war irgendwann unmöglich geworden, mit der vorhandenen pflanzlichen Nahrung, Mensch und Tier das Überleben zu gewährleisten. Das Tier starb vor dem Menschen aus, wer hätte das gedacht, doch ein Großteil der Bevölkerung trat dafür an seine Stelle.
Amputationen überlebten nur wenige Erwachsene und kaum ein Kind, es sei denn die eigene Mutter oder ein sonstiger naher Verwandter übernahm einen Teil der Fleischschuld, durch Verstümmelung des eigenen Körpers. Eine Gnade, die aber nur Kindern und Schwangeren gewährt wurde. Letztere konnten ihre Schuld auch mit dem Fleisch ihres ungeborenen Lebens sühnen.
Mit Schmerzen zu bezahlen? Ein Stück Fleisch eigenhändig aus dem eigenen Körper schneiden. Mit seinem Leib zu sühnen, für Taten oder auch nur ausgesprochene Gedanken.
Ethisch degenerierten Kindern gehen irgendwann mit ihrem Kollektiv zugrunde.
Samsas Traum - Angst II
Angst II
Sie fragen mich, was Angst ist? Angst kann sehr vieles sein, ich kann
mich allerdings nicht mehr daran erinnern, wann ich das letzte Mal
eine Angst in der Art gefühlt zu habe, wie ich sie in der Zelle Nr. 47
empfand. Wenn ich mir meine Aufnahmen von damals anhöre, habe
ich das Gefühl, dass zwischen mir und meiner Vergangenheit Welten
liegen; Welten, von denen ich nur in den seltensten Fällen einen
Eindruck erhaschen oder eine Erinnerung behalten durfte. Das einzige,
was ich vom „Damals“ mit ins „Heute“ genommen habe, sind allen
Anscheins nach die Zigaretten.
Ich erinnere mich noch genau an die Worte von S., die er bei seinem
einzigen Besuch im Suicide Apartment äußerte: „Und das da ist die
Ecke, in der Dein Gehirn hätte kleben sollen“. Er deutet mit dem
Zeigefinger auf die weiße Betonwand und grinste verlegen. „Keine
Ahnung, mit diesem Haus stimmt etwas nicht. Das merkt man schon,
wenn man durch den Flur mit dem kalten Licht geht“. „Ja, Du hast
recht“, erwiderte ich und bekräftige damit beide seiner Aussagen. Ich
weiß nicht, ob er mir damals meine Verwunderung über diesen Beweis
seiner Empathie angemerkt hat, aber S. hat am frühen Nachmittag
eines Tages im Sommer 2002 ein einziges Mal jenes Bild gesehen, das
jeden Abend vor meinen Augen aufgestiegen ist.
Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich dieses Haus jemals lebend
verlassen würde. Ich habe gefühlt, dass es mich töten wollte; selbst
nachdem ein Nachmieter gefunden und die Wohnung der
Hausverwaltung übergeben worden war, zweifelte ich noch daran,
dass ich es unbeschadet aus der Tür hinaus ins Tageslicht schaffen
würde. Ich habe mich ans Treppengeländer geklammert und bin Stufe
für Stufe ganz langsam und vorsichtig hinuntergegangen; ich
befürchtete, im letzten Moment zu stolpern und mir das Genick zu
brechen. Als die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war, wusste ich
intuitiv, dass es mit meinem Leben noch bis zu einem gewissen Punkt
weiter bergab gehen würde, deshalb konnte ich mich nicht freuen. Ich
habe mich bis zum heutigen Tag nicht mehr in die Nähe dieses Hauses
getraut, obwohl es das Naheliegendste wäre, um meinen Erinnerungen
auf die Sprünge zu helfen.
Gegenwart. Ich steige aus der Dusche und sehe mir im Spiegel dabei
zu, wie ich vergeblich versuche, meinen strubbeligen, nassen Haaren
Eine Frisur zu verpassen, die auch nur ansatzweise gut aussieht. Das
Augenpaar, das mir aus dem Badezimmerspiegel entgegenblickt, kenne
ich ganz genau. Ich habe in den letzten 500 Tagen unzählige Male in
diese Augen geblickt, und ihre Blicke haben Bände gesprochen, Janis
holt mich aus dem Narrenkästchen zurück auf den Planeten Erde; sie
springt auf den Schrank neben dem Waschbecken und bettelt mit
ihren Pfoten um meine Hände. Ich öffne das Badezimmerfenster und
lasse neben der Katze eine Wolke heißen Wasserdampf hinaus ins Freie
steigen. Das Bad ist 100%ig angstfrei; das einzige, was mich an früher
erinnert, sind die negativen Emotionen, die sich kurzzeitig in mir
aufbäumen, als ich mit der kalten Luft zwangsläufig auch die Geräusche
anderer Menschen in meinem Lebensraum hineinlasse. Ich hasse es
immer noch, die Anwesenheit von mir nicht geduldeter Lebewesen
in meiner Nähe ertragen zu müssen. Ich unterdrücke einen kurzweiligen
misanthropischen Ausbruch; ich unterdrücke ihn, ich bewältige ihn
nicht. Ich will ihn nie und ich werde ihn nie bewältigen können.
In dem Wirtshaus, in dem wir uns gezwungenermaßen an diesem
Abend befinden, sitzt uns am Tisch ein Ehepaar in den mittleren
Jahren gegenüber, das damit beschäftigt war, salzige und vor Fett nur
so triefende Nahrung in schmatzenden Münder zu schaufeln. Der
Mann zerreißt ein gebratenes Huhn mit den Händen und leckt sich
die Finger ab. Die Frau schnappt hastig nach einer Gabel, auf der sich
wässriger Krautsalat befinden. Die beiden erzählen uns stolz von ihren
Blutwerten und behaupten, dass man, wenn man mit der Nahrung zu
viel Salz aufnimmt, einfach mehr trinken müsse. „Ich trinke sowieso
viel Bier“, sagt der Mann und beißt in seine Hühnerkeule. Ich
kontrolliere kurz ein paar Register in meinem Kopf und komme
schließlich zu der Feststellung, dass er den Satz, den er eben sagte,
todernst gemeint hat und von der Richtigkeit dessen Inhalts überzeugt
war. In meiner Phantasie schreie ich den beiden „Salz bindet das Wasser
in den Zellen, verdammt noch mal!“ und „Alkohol gilt nicht als
Flüssigkeit!“ ins Gesicht; in der Realität halte in meinem Mund und
versuche, mir de Ekel, den die beiden in mir verursachen, nicht
anmerken zu lassen. Auf ihren hochroten Köpfen bilden sich über den
zusammengekniffenen Schweinsaugen die ersten, kleinen
Schweißperlen. Angst beschleicht mich in dieser Situation lediglich
in dem Augenblick, in dem ich mir eingestehen muß, dass diese beiden
Menschen keinen blassen Schimmer davon haben, was in der Welt um
sie herum passiert und dass sie die Grenzen ihrer Köpfen niemals
überschreiten werden.
Im Bett beschleicht mich kurz ein Gefühl, das mich an Angst erinnert.
Ich habe dieses Gefühl an diesem Ort oft empfunden, es war eine
Form von Angst, die ich vorher noch nicht kannte und die sich
mittlerweile auf ein Minimum reduziert hat bzw. so gut wie gar nicht
mehr vorhanden ist. Ich habe den Eindruck, dass unter der
Zimmerdecke negative Energie hängt, die auf mich herabschaut. Sie
wartet darauf, mich anfallen und auffressen zu können. Ich weiß, dass
es mir eines Tages gelingen wird, sie bis in alle Ewigkeit aus diesem
Raum zu vertreiben; falls sie nicht schon längst fort ist. Ich missachte
völlig, dass es sich bei ihr möglicherweise um meinen eigenen Hass
handeln könnte. „Eines Tages werde ich dieses Haus abreißen lassen“,
denke ich müde. Ich zünde eine Kerze an und schlafe langsam ein.
Am anderen Morgen muß ich mir eingestehen, dass ich nicht wirklich
davon ausgegangen bin, während der Nacht von einem Klumpen
Antimaterie gefressen zu werden.
Das Telefon klingelt. Wenn jemand so früh anruft, kann es sich nur
um meine Plattenfirma handeln. „Hallo A., hier ist K.! Ich habe Dir
etwas zu sagen… etwas, das Du noch nicht wusstest.“ Ich bin froh,
diese Worte nicht zu hören. „A., willst Du mit Samsas Traum
noch erfolgreicher werden? Willst Du noch mehr Platten verkaufen?
Ja?“ Die Stimme meines Plattenbosses preist mir durch die
Hörermuschel meinen eigenen Erfolg wie ein Fischverkäufer Aale auf
einem Wochenmarkt an. Angst macht mir in solchen Augenblicken
ausschließlich die risikofreudige Selbstsicherheit und die meiner
Leistungsfähigkeit von mir entgegengebrachte Ignoranz, die mir Sätze
wie: „Sicher, kein Problem. Wir verwirklichen alle Pläne, so kurzfristig
sie auch gefasst sein sollten“ über die Lippen gleiten lässt.
Ich habe festgestellt, dass es sich bei diesem Leben im allgemeinen.
bei all seinen Problemen, ihren Lösungen, ihren Ursachen und den
Auswirkungen diverser Handlungen lediglich eine Folge von
logischen Zusammenhängen handelt. Wenn ich „A“ ausführe, wird „B“
passieren. Wenn ich „C“ unterbinde, wird „D“ niemals geschehen; man
kann dieses Spiel das ganze Alphabet, hinauf und hinunter, kreuz und
quer, durchspielen. Hierbei handelt es sich um keine Annahme, sondern
um eine Tatsache, die nicht nur das Phantom der Angst fast völlig
verblassen lässt, sondern die auch dabei hilft, die Natur etlicher
Gedankenverkettungen zu durchschauen. Das eigene Leben, sogar
der eigene Kopf verwandelt sich durch dieses Denkmodell in ein
Schachbrett, auf dem man seine Taten wie Figuren bewegt; und man
bewegt sowohl die weißen als auch die schwarzen Figuren. Angst
hingegen ist ein Zustand, in dem man der Fähigkeit, bewusst in die
eigene Geschichte einzugreifen, beraubt wurde oder sich freiwillig hat
berauben lassen. Ich hatte das Glück, dass ich vor der Blütezeit dieser
Entwicklung komplett zerstört wurde und für mich nur noch die Wahl
zwischen Tod und Leben bestand, mir die Entscheidung also ziemlich
leicht gemacht wurde. Vielleicht habe ich einfach nur darauf gewartet,
dass mein Leben endlich auf zwei Richtungen reduziert werden würde,
die mir nicht immer eindeutig sichtbar vor den Augen lagen.
Zusammenfassend würde ich sagen, und ich betrachte diesen Satz als
Wiedergutmachung für das, was mir u.a. von mir selbst angetan wurde,
dass Angst kein Bestandteil meines Lebens mehr ist.