Das Haus der Forlokken
I
Hoch oben auf einem Baum saß er und fürchtete, dass sie ihn finden würden. Mit letzten Kräften war er hinaufgeklettert, nachdem er scheinbar ewig in eine ihm völlig unbekannte Gegend gerannt war. Er klammerte sich fest an die Äste des alten Baumes, der ihn in seinem dichten Vorhang aus Blättern aufnahm und doch fühlte er sich ungeschützt, wie auf einem freien Feld. Die Wesen, die ihn verfolgten, sahen nämlich alles: sie bestanden aus einer Unzahl von Augen.
Beim Gedanken an die hektisch umhersuchenden Blicke verschloss er seinen vor der Umgebung und lauschte angespannt nach seinen Verfolgern. Doch er hörte nur das Rauschen des Windes und spürte wie die zarten Blätter über seine Haut strichen. Wie lange würde er verharren müssen, um es wagen zu können, wieder herabzusteigen? Die Zeit zeitigte Minute um Minute und als sein Herz nicht mehr raste und seine Lunge wieder in den normalen Trott verfallen war, döste er ein.
Lange blieb er so im Geäst und was ihn aufweckte, war nicht etwa die unbequeme Position, in der er sich befand, sondern ein Affe, der einige hundert Meter entfernt von ihm plötzlich aufschrie. Auf den Schrei folgten Klagelaute, die sich schnell näherten. Es war mittlerweile tiefste Nacht, doch seine Augen konnten im hellen Mondschein trotzdem mehr erkennen, als ihm lieb war.
Der Affe rannte ungebremst in dem Baum, auf welchem er sass und blieb dann wie tot liegen, das augenlose Gesicht zum vom Grauen gepackten Beobachter gerichtet. Totenstill starrten sich so beide an, während unter ihnen ein Rascheln und Knurren zu hören war, das nicht enden zu wollen schien. Er sass auf seinem Baum fest und konnte nur hoffen, dass er da oben auch in Sicherheit war.
Als die Geräusche unter ihnen verstummt waren und sich das, was dort gewütet hatte, davon gemacht hat, fing der Affe leise zu sprechen an.
"Man kann ihnen nicht ewig davonlaufen. Keiner entkommt ihnen."
Dann, nach einer Pause: "Ich bin Riffo, aus dem Haus der Forlokken.", worauf er fragend, ja fordernd die Augenbrauen hob.
Nach einer Weile fragte Riffo: "Du kennst die Forlokken nicht? Nun, ich werde dich hinführen... Nein, du wirst mich hinführen. Ich beschreibe dir die Bäume an denen wir vorbei müssen. Aber sag mir erstmal wie du heisst und woher du kommst."
Der Junge sah durch die ihm halblang im Gesicht hängenden braunen Haare zur Seite und antwortete "Gregg Mumford. Ich konnte entkommen."
Mit diesen Worten kehrte das Leben in Greggs Glieder zurück und flink kletterte er zu Riffo hinunter.
"Es hat mich am Bein erwischt. Kannst du mich tragen?", fragte der blinde Affe, während er auf dem Weg, der sich unter dem Baum kreuzte und in jeder Richtung identisch schien, wartete, dass Gregg herab kam. Gregg nahm die dürre Gestalt huckepack und blickte sich ratlos um.
"Wolang muss ich gehen?" fragte er, doch Riffo schwieg zunächst nur.
"Weisst du noch in welche Richtung ich geflohen bin?", fragte er dann. "Ich denke schon", antwortete Gregg. "Gut. In diese Richtung müssen wir."
Also drehte sich Gregg in die entgegengesetzte Richtung des Schreies, den er vorhin von Riffo gehört hatte, als der von diesem knurrenden Ding angegriffen wurde und schritt den Weg entlang.
Unterwegs gab Riffo Anweisungen wie "Siehst du vor uns eine knorrige Archel" - "eine was?" - "einen knorrigen Baum, mit einem Vogelnest, da wo der dritte Ast aus dem Stamm wächst?" - "Ja." - "Dann stimmt die Richtung noch."
Der Weg machte viele Biegungen und hier und da zweigte ein anderer ab oder kreuzten sie einen größeren, gepflastert mit weißen kleinen Steinen. Riffo nannte sie die "weiten Pfade", schwieg sich ansonsten aber über sie aus. Über das hinaus erwies er sich aber als ziemlich redselige Persönlichkeit für einen Affen, der vor kurzem fast gestorben wäre.
Langsam bevölkerten sich die Bäume unter deren Kronen sie hindurchgingen. Die Affen darauf gebärdeten sich den beiden Wanderern gegenüber mit grosser Ehrfurcht, was zwar nur Gregg sah, wovon er aber sicher war, dass es nicht an ihn gerichtet war. Riffo schien seine Artgenossen entweder nicht zu bemerken oder ignorierte sie. Stattdessen erzählte er ihm von den Pflanzen, an denen sie vorbeikamen. Er erklärte ihm, vor welchen er sich hüten müsse und welche hilfreich sein konnten.
"Am Wegesrand stehen oft kleine blaue Sträucher, aus denen violette Kugelfrüchte zu den Seiten an Trauben heraushängen. Das ist Ressenklerch. Fasse niemals die Früchte an, sie zerlaufen bei der kleinsten Berührung und brennen wie Feuer auf der Haut."
Gregg war froh, dass er auf einem festgetrampelten Pfad gehen konnte, auf dem nichts lebte. Doch plötzlich wuchsen haarige Beinchen und Fühler aus etwas direkt vor ihm, was er für einen Stein gehalten hatte, und das kuriose Tierchen flitzte ins Gebüsch davon. Erschrocken fuhr Gregg zusammen.
"Keine Panik", beruhigte ihn Riffo. „Verglichen mit den Oftalmen, das sind diese Augenwesen, ist hier alles harmlos."
Wie um das zu unterstreichen, ging in der Richtung ihres Weges langsam die Sonne auf. Das war der erste Sonnenaufgang, den Gregg in Freiheit sah. Wenn die anderen drei, die zusammen mit ihm geflohen sind, doch nur hier wären.
Tränen flossen ihm das Gesicht herab, doch er lief weiter und versuchte sich nichts anmerken zu lassen.