Endlich erreichte Ravana die Stadt. Während sie am Wassergraben entlang auf die Zugbrücke zuritt, sah sie viele Menschen, die die Stadt betraten oder sie verließen.
Es war schon spät am Nachmittag und viele Händler verließen um diese Zeit die Stadt, um sich auf den Weg zum nächsten Ort, an dem sie ihre Waren feilbieten würden, zu machen.
Die Reise auf Sommerwind, der gemieteten Stute, war wirklich sehr angenehm gewesen. Nach einiger Zeit hatte sie dem Pferd auch einmal die Sporen gegeben und Sommerwind war in einen leichten Trab gefallen, doch die Belastung für Ravanas Bein war zu hoch gewesen, so dass sie Sommerwind schließlich wieder gezügelt hatte.

Mit dumpfen Schlägen ritt sie über die Zugbrücke, vorbei an den Wachen, die sie zur Abwechslung einmal nicht beachteten, sondern mit einem in Lumpen gekleideten Jungen diskutierten.
Ravana erreichte die Taverne, in der sie Milo zurückgelassen hatte. Vorsichtig schwang sie das verletzte Bein über den Rücken des Pferdes und ließ sich langsam aus dem Sattel gleiten. Hoffentlich komme ich auch alleine wieder hoch, dachte sie.
Neben der Eingangstür bemerkte sie einen eisernen Ring, der an der Mauer befestigt war, und knotete die Zügel an diesem fest. Sie hoffte, dass die Torwachen ein Auge auf ihr Pferd haben würden und humpelte mit Hilfe der Krücken, die sie vom Sattel losgebunden hatte, zur Eingangstür.

Da es langsam auf die Essenszeit zuging, saßen diesmal mehr Menschen im Schankraum als vor zwei Tagen. Durch die milchigen Glasscheiben der wenigen Fenster fiel ein wenig Licht, so dass das Anzünden von Öllaternen noch nicht nötig geworden war.
Anders als in der Taverne in Kakariko war hier die Stimmung jedoch nicht so ausgelassen. Hier wurde auch nicht so viel getrunken – bestimmt alles Reisende, dachte Ravana. Sie haben kein Interesse daran, andere Leute kennenzulernen und mit ihnen zu trinken.
Sie sah sich um, konnte jedoch nirgends Emma, die dicke Frau, die sich um Milo gekümmert hatte, entdecken.
Hinter dem Tresen stand ein kräftiger Mann mit gutmütigem Gesicht und füllte zwei große Becher mit einem Getränk.
Mühsam hinkte Ravana auf ihn zu. Als sie den Tresen erreichte, sah der Mann auf, zwinkerte ihr zu und fragte: „Wie kann ich Euch helfen, Herrin?“
Langsam gewöhnte sich Ravana daran, auf völlig unterschiedliche Weise von den Menschen behandelt zu werden. Die einen behandelten sie von oben herab und mit Verachtung, wie eine Diebin. Andere missachteten sie einfach, und wieder andere begegneten ihr schmeichlerisch oder auch sehr höflich, wie dieser Mann hier.
„Ich suche meinen kleinen Bruder, Milo, den ich vorgestern krank in Emma’s Obhut gelassen habe. Ist er noch hier?“ Bis jetzt war sie gar nicht auf den Gedanken gekommen, dass Milo vielleicht gar nicht mehr hier war. Sie hatte ihm versprochen, gestern wieder zu kommen, doch hatte sie gegen die Moblins gekämpft. Vielleicht war er abends gegangen, um sie zu suchen?
„Milo? Aber natürlich ist er hier. So ein freundlicher, hilfsbereiter kleiner Kerl! Hilft mir seit gestern hier in der Schenke. Fegt den Boden, wäscht das Geschirr, bringt den Gästen Getränke auf ihre Zimmer. Würde einiges darum geben, ihn hierzubehalten.“
Ungläubig vernahm Ravana seine Worte. Milo half hier aus? Hatte er seine Abenteuerlust verloren?
„Würdet Ihr ihn bitte holen, damit ich mit ihm reden kann?“ fragte sie.
Wieder zwinkerte ihr der Mann zu, drehte sich dann um, ging zu einer Tür, hinter der bestimmt die Küche lag und rief: „Miiiiiilooooo! Komm mal her! Deine Schwester ist hier! Milooooo!“
Einige Gäste sahen erstaunt zu dem Mann hin.
„He Krähenauge, musst du so schreien? Ich bin hier, um mich auszuruhen,“ sagte ein fein angezogener Mann ungehalten und wandte sich dann wieder seinem Essen zu.
„Schon gut, Cornelius,“ rief Krähenauge entschuldigend zu dem Gast hinüber. „Manchmal glaube ich, Milo ist ein wenig taub,“ sagte er achselzuckend zu Ravana. „Doch er macht sich hier wirklich sehr nützlich.“
Die Tür zur Küche wurde geöffnet, und heraus trat Milo, die Wangen gerötet, die Augen fröhlich blitzend. Krähenauge grinste ihn an und ging dann wieder hinter den Tresen.
„Ravana! Ich dachte schon, du kommst nicht mehr,“ sagte er freudig, als er sie sah. „Ich habe eine Arbeit gefunden, und sie macht mir auch noch Spaß!“
Seine grüne Mütze hatte er gegen eine weiße hohe Kochmütze umgetauscht, in der Hand hielt er einen Besen.
„Eine Arbeit? Du bekommst hier Geld? Aber wie geht es dir denn?“ fragte Ravana. Er bekam Geld? Würde er sie nicht mehr weiter begleiten wollen? fragte sie sich entsetzt.
„Ja, Willy bezahlt mir jeden Tag 5 Rubine! Das ist was, oder? Er hat mich gefragt, ob ich noch eine Weile hier arbeiten will!“
„Aber ich dachte, du wolltest Abenteuer erleben,“ sagte Ravana traurig. Sie hatte ihn verloren.
„Klar, Abenteuer sind toll,“ sagte Milo eifrig. „Aber Emma hat gesagt, dass es nichts ist für jemanden in meinem Alter, durch die Gegend zu ziehen und nichts zu lernen. Willy Krähenauge hat gesagt, dass er mir beibringt, ein guter Wirt zu sein, und er bezahlt mit Geld. Die Zeit mit dir war sehr schön, Ravana. Aber ich glaube, es ist besser für mich, ein Handwerk zu lernen. Hoffentlich bist du mir nicht böse..?“
Nein. Emma hatte ja Recht. Milo war noch so jung. Er konnte nicht Jahre durch die Gegend ziehen und seine Zeit verschwenden...
„Ach Milo... Du wirst mir aber sehr fehlen. War eine schöne Zeit mit dir!“ Niedergeschlagen setzte sie sich auf einen Stuhl. Erst jetzt bemerkte Milo die Krücken, auf die sie sich stützte.
„Was ist denn mit dir passiert?“ fragte Milo bestürzt.
Ravana erzählte ihm von der Schlacht um Kakariko, und wie sie sich verletzt hatte. Sie bemerkte Milo’s sehnsüchtigen Blick. Bestimmt wäre er auch gerne dabeigewesen und hätte allen bewiesen, wie tapfer er ist.
Doch die Entscheidung war gefallen. Er hatte sich für eine geregelte Zukunft entschieden – eine vernünftige Entscheidung.
„Und den Teppich hast du auch zum Reparieren bei der Hexe gelassen? Sieh mal, ich verdiene ja jetzt Geld. Du warst mir einige Zeit eine sehr gute Freundin, ich gebe dir einen Teil meines Geldes mit. Du kannst es bestimmt gebrauchen, oder?“
Immer wieder schaffte er es, sie zu überraschen. Er war so erwachsen für sein Alter!
„Oh Milo, das ist sehr nett von dir, aber das brauchst du nicht...“
„Doch doch!“ Schon nestelte er an seinem kleinen ledernen Geldbeutel herum und nahm einige Rubine heraus. „Hier, 100 Rubine. Du kannst das Geld besser gebrauchen als ich, und du kannst es mir ja irgendwann zurückzahlen.“
Widerstrebend nahm sie das Geld entgegen. Milo wird mir so fehlen, dachte sie betrübt und nahm das Geld. Und er hat Recht, ich kann es brauchen.
Gerührt umarmte sie Milo, flüsterte ein leises 'Danke', erhob sich und ging so schnell es ihr möglich war auf den Ausgang zu. Dort drehte sie sich noch einmal um. Milo stand vor dem Tresen, in der Hand immer noch den Besen, und sie sah, dass er über den Abschied zwar traurig war, sich jedoch auch bewusst war, eine richtige Entscheidung getroffen zu haben.
„Wir werden uns wiedersehen, Milo, das verspreche ich,“ sagte Ravana mit halblauter Stimme und verließ dann die Taverne.