Die Kammer, die Ravana sich in der Taverne gemietet hatte, war klein, aber sauber. Nachdem sie einen Blick in den Raum geworfen hatte, hatte sie ihn wieder verlassen und den Raum abgeschlossen. Sie wollte der Kräuterhexe einen weiteren Besuch abstatten, und die Gelegenheit dafür was günstig. Sie musste den Nachmittag sowieso noch irgendwie verbringen, bis zur Dämmerung waren es noch etwa zwei oder drei Stunden.

Ravana verließ die Taverne und versuchte sich zu orientieren. Sie war bisher nur einmal in Kakariko gewesen. Zwar hatte sie bei der Gelegenheit mit Milo zusammen auch die Hexe besucht, doch es war schon dunkel gewesen und sie hatten nicht den üblichen Weg genutzt.
Was hatte der Wirt damals gesagt, wie man zu der Kräuterhexe kommt? Das letzte Haus auf der rechten Seite am Tor Richtung Todesberg... Ja, das war es.
Sehr groß war Kakariko nicht, und nach kurzer Zeit hatte sie das Tor gefunden. Der Weg dahinter war felsig und steil und führte eindeutig bergauf in die Richtung des hohen Berges.
Es gab nur ein Haus auf der rechten Seite, ein bunt bemaltes Holzschild hing über der Tür. Ravana trat ein und fand sich in einem großen Raum wieder, der ganz und gar mit Regalen vollgestellt war und nur schmale Gänge freiließ. Auf den Regalen lagen und standen alle möglichen Gegenstände, die man kaufen konnte. Ravana wollte nichts kaufen, sondern ging leise durch die Gänge, um einen Durchgang zur Hexe zu suchen.
Hinter der großen Kasse auf der Ladentheke stand ein schlanker Mann, der sie freundlich ansah.
„Guten Tag, verehrte Dame, kann ich Euch dienlich sein?“ fragte er und lächelte sie zuvorkommend an.
Ravana war überrascht. Bisher war sie entweder unfreundlich abgefertigt worden oder wurde gar nicht erst beachtet, doch dieser Mann hatte anscheinend keine Vorurteile gegenüber Gerudos.
Sie lächelte zurück und sagte: „Vielen Dank, aber ich suche eigentlich nur den Durchgang zur Kräuterhexe.“
Der Mann sah ein wenig enttäuscht aus, deutete aber auf einen schmalen Durchgang neben der Theke. „Geht dort hinaus und dann in das angerenzende Haus, dort findet Ihr die Hexe. Vielleicht wollt Ihr Euch ja später nochmal umsehen? Ich habe ein breitgefächertes Sortiment, wie Ihr seht.“
Ravana bedankte sich höflich und verließ das Haus des Krämers. Ein netter Mann, vielleicht finde ich ja wirklich was bei ihm, das ich gebrauchen kann, dachte sie.
Wieder draußen, kletterte sie eine Leiter hinunter, stieg eine Treppe hoch und stand dann vor der Tür der Kräuterhexe.
Ach, Milo, dachte sie. Wie du mich belächelt hast, als ich Angst davor hatte, über den Zaun zu klettern.. Und wie du die Hexe heruntergehandelt hast... Wärst du doch nur bei mir...
Ravana öffnete die Tür und betrat das Haus der Kräuterhexe.

Innen war es genauso stickig wie das letzte Mal, nur schlief die Hexe diesmal nicht, sondern rührte mit einem langen Stab in einem der Kessel, der über einem bunt brennenden Feuer hing und heftig dampfte.
„Guten Tag, Madame,“ sagte Ravana zaghaft und die Hexe drehte sich um. Ihre Augen leuchteten fast genauso wie die der schwarzen Katze, die neben der Hexe am Boden saß.
„Aaah, die junge Dame mit dem Fliegenden Teppich!“ krächzte die Hexe und hinkte mühsam an die Theke. „Hast du es dir anders überlegt und willst mir den Teppich doch zur Reparatur überlassen?“
Gierig starrte sie auf Ravana’s Gürtel, wo sie den Teppich befestigt hatte.
Kann ich ihr trauen? Oder werde ich den Teppich nie wieder sehen, wenn ich ihn ihr gebe? fragte sich Ravana. Wäre Milo doch nur hier, ihm würde bestimmt was einfallen, wie er die Hexe behandelt, damit sie meinen Teppich nicht unterschlägt...
„Ja, ich möchte ihn doch reparieren lassen. Aber – bitte, es ist ein Erbstück meines Ziehvaters, und er ist sehr wichtig für mich. Ich brauche ihn so schnell wie möglich wieder.“
Die Hexe sah sie überrascht an. „Dein Ziehvater? Meinst du den alten Kamir, den Magiehändler in der Wüste?“
Ravana nickte mechanisch. Woher kannte die Hexe...
„Da guckst du, was? Kamir ist ein Cousin zweiten Grades von mir. Ihm zuliebe werde ich den Teppich zu einem Sonderpreis von 100 Rubinen reparieren, und du kannst ihn in drei Tagen wieder abholen. Sag mal – wie geht es denn dem alten Wüstenfuchs?“ Durchdringend sah sie Ravana an.
Ravana erschrak. Wenn sie hörte, dass Kamir tot war, würde sie das billige Angebot vielleicht wieder rückgängig machen.. Doch es war besser, bei der Wahrheit zu bleiben, bestimmt hatte die Alte auch ihre Quellen, und wenn sie erfuhr, dass Ravana sie anlog, wäre sie bestimmt nicht sonderlich erfreut.
„Es tut mir Leid, Kamir ist vor einigen Jahren gestorben – er war alt..“ sagte sie vorsichtig.
Die Hexe bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. „Es stimmt also,“ sagte sie. „Du bist wirklich Ravana, der kleine ausgesetzte Gerudobastard. Kamir hat mir hin und wieder von dir berichtet. Schön, gib mir den Teppich, du bekommst ihn in sehr gutem Zustand wieder. Bezahlen brauchst du erst bei Abholung.“
Bei dem Wort ‚Bastard‘ war Ravana zusammengezuckt. Es war schon schlimm genug, dass die Leute sie verächtlich ansahen, weil sie eine Gerudo war, aber dann noch Bastard genannt zu werden...
Aber es stimmt, flüsterte eine Stimme in ihr. Du bist ein Bastard. Also finde dich damit ab und jammere nicht.
„Danke, Madame,“ sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen und nestelte den Teppich von ihrem Gürtel los. Die Hexe streckte ihr die faltigen und krummen Finger entgegen, und Ravana legte den Teppich vertrauensvoll in die Hände der Hexe.
„Ich danke Euch,“ sagte sie, doch die Hexe sah sie gar nicht mehr an. Sie saß über den Teppich gebeugt und strich mit den Fingern über dessen weiche Oberfläche.
Also gut, dann gehe ich eben. Hoffentlich sehe ich den Teppich wieder, dachte Ravana, drehte sich um und verließ das Haus.