Milo und Ravana gingen auf das Stadttor zu - durch das Tor hindurch konnte man die Hylianische Steppe sehen. Die Steppe... Von allen Gegenden, die sie seit dem Verlassen der Wüste gesehen hatte, war die Steppe die Gegend, die sie sich als zweite Heimat vorstellen könnte. Sie empfand richtige Liebe zu der rauhen Schönheit der Steppe und freute sich jedesmal wieder darauf, durch das hohe Steppengras zu gehen und die schnellen Wolkenschatten auf der Steppe zu beobachten. Neben der Steppe kamen ihr Hyrule und Kakariko schon fast unangenehm vollgestopft, stickig und stinkend vor, obwohl sie es auch genoss, sich die Städte anzusehen und auf dem Markt herumzustöbern.

„Milo, findest du die Steppe nicht auch.. Milo?“ Milo war nicht da. Ravana blieb stehen und drehte sich um. Milo saß 20 Schritte hinter ihr am Boden, rieb sich den Bauch und sah mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihr hin. Erschrocken rannte sie zu ihm zurück und hockte sich neben ihn auf den Boden.
„Milo, was hast du? Hast du Bauchschmerzen?“ besorgt beugte sie sich zu ihm.
Seine sowieso schon großen Augen waren noch größer, und die vielen Sonnensprossen waren viel blasser als sonst. Er nickte. „Es sticht irgendwie. Ravana, ich glaube, ich habe ein scharfes Messer verschluckt... Das tut echt weh! Sowas hatte ich noch nie. Ich glaube, ich hab zu viel gegessen, oder das Fladenbrot war nicht mehr gut... Tut mir Leid, ich kann heute wohl nicht mehr laufen...“
Erschrocken sah Ravana sich um. Jemand musste ihr helfen, den Jungen wieder zurück in die Stadt zu tragen.
„Bleib sitzen oder leg dich hin, ich suche jemanden, der dir helfen kann, ja? Rühr dich nicht von der Stelle, ich komme gleich wieder!“
Der arme Kleine! Sie hatte selber schon oft Schmerzen gehabt und wusste, wie schlimm das ist. Und noch schlimmer ist es, wenn man niemanden hat, der einen tröstet...
Am Stadttor standen zwei Wachposten. Vielleicht würde einer der beiden ihr mit Milo helfen können... Ravana ging zu den beiden hin. Interessiert sahen die Männer ihr entgegen und musterten sie von oben bis unten.
„Könnt Ihr mir vielleicht helfen, Herr?“ sprach sie einen der beiden an. Der Mann zog die Brauen hoch und sah sie misstrauisch an. „Mein kleiner Bruder dahinten muss was Falsches gegessen haben, er hat schlimme Bauchschmerzen und kann nicht mehr gehen, könnt Ihr ihn vielleicht zu einem Gasthaus tragen?“
Interessiert sah der Mann zu Milo und dann wieder zu ihr zurück, schließlich zuckte er mit den Schultern. „Tut mir Leid, Mädchen. Bin im Dienst, darf meinen Posten nicht verlassen. Musst dich woanders umhören.“
Fragend sah sie zu dem anderen Wachposten hinüber, und auch der schüttelte gleich den Kopf. Ravana wurde wütend. Milo war doch nur ein kleiner Junge, sie konnten ihn doch nicht einfach auf der Straße liegen lassen, oder? Sie versuchte ihre Wut zu unterdrücken und sagte:
„Bei den Göttinnen, ihr beide seid doch dafür da, das Volk zu schützen, oder nicht? Jetzt liegt ein kleiner Schützling auf der Straße und ihr wollt ihm nicht helfen. In der kurzen Zeit, wo einer von euch beiden den Jungen zu einem Wirtshaus trägt, wird schon kein Krieg hereinbrechen.“
Hochmütig sah der Wachposten sie an. „Wir sind doch keine Diener, die anderer Leute Bälger durch die Gegend tragen, wenn sie sich den werten Bauch vergrimmt haben. Nein, meine Liebe, so geht das nicht. Auf Geheiß des Königs wurden alle Wachen angehalten, noch wachsamer zu sein, weil ein Mörder sein Unwesen treibt, und wir werden seinen Befehl sicher nicht missachten und womöglich unseren Arbeitsplatz deswegen verlieren. Dein Bruder wird schon selber die paar Schritte laufen müssen. Gleich hier hinter dir ist eine Taverne, da wird er gut unterkommen. Ist nicht mal teuer.“
Ravana drehte sich um, und wirklich, an der Mauer des Hauses hinter ihr hing ein Schild mit einer Krähe darauf. Die Taverne 'Zur Krächzenden Krähe', sie hatte Balon einmal darüber brummeln hören.
Also gut. Sie sagte den den Wachposten noch ein ironisches „Die Göttinnen mögen euch segnen“ und ging zu Milo zurück, der inzwischen ganz bleich im Gesicht war. Die Wachposten folgten ihr mit den Blicken.
„Milo, da drüben ist eine Taverne. Komm, stütz dich auf mich, ich helfe dir...“ sie zog Milo hoch und Milo lächelte dankbar. Er verzog zwar das Gesicht, doch tapfer machte er einige Schritte und nickte dann.
Kurze Zeit später öffnete Ravana die hölzerne Eingangstür und schob Milo vor sich her in das Innere der Taverne. Nur spärliches Licht drang durch die wenigen Fenster, doch der Schankraum machte einen sauberen Eindruck. Links von ihnen führte eine Treppe ins obere Geschoss, wo wahrscheinlich die Gästezimmer lagen.
„Hallo? Ist jemand hier?“ rief Ravana vorsichtig, in den leeren Schankraum.
Nach einer Weile kam eine Gestalt durch eine Tür hinter dem Tresen. „Was gibt’s denn?“ fragte die dicke Frau ungehalten und kam auf die beiden zu.
Ravana drückte Milo auf eine der Bänke an den Wänden und sagte: „Mein Bruder fühlt sich nicht wohl, wir brauchen ein Gästezimmer, wo er sich hinlegen kann. Was kostet das?“
Milo sah zu Ravana auf und schüttelte den Kopf. „Nein, ich bleib alleine hier. Geh du nur nach Kakariko, wie du es vorhattest, Ravana, ich komm schon zurecht!“
Ungläubig starrte sie ihn an. Allein lassen? Ihren Milo?
Währenddessen fing die dicke Frau an zu plappern. „Ooch, bist du krank, kleiner Mann? Lass dich mal ansehen... Oh, diese hübschen Augen! Und die süßen Haare! So ein niedlicher Kerl darf doch nicht krank werden, oder? Dich kriegen wir schon wieder gesund. Ich werde dir gleich einen eine gute Brühe machen...“
Ravana fragte Milo: „Bist du sicher, dass du alleine bleiben willst?“ Dieser nickte energisch, und sie fragte die Frau: „Würdet Ihr hin und wieder nach ihm sehen? Bitte sorgt dafür, dass es ihm gut geht hier, ich komme morgen wieder und nehme ihn wieder mit, wenn es ihm besser geht.“
Fröhlich nickte die Frau mit dem Kopf. Sie hatte rote Pausbäckchen und gutmütige dunkle Augen. „Aber natürlich passe ich auf ihn auf. Ihr braucht Euch gar keine Sorgen machen, junge Dame. Lasst ihn nur in Emmas Obhut, ich freue mich, wenn ich mal auf jemanden aufpassen darf! Nicht wahr, junger Mann?“
Milo nickte ergeben und Ravana klopfte ihm ein letztes Mal auf die Schulter.
„Lass den Kopf nicht hängen, Kleiner, ja? Das wird schon wieder. Hier bist du in den besten Händen!“
Schnell drehte sie sich um und verließ die Taverne. Sie hatte ein schlechtes Gewissen. Dort drin saß ihr einziger Freund, und sie verließ ihn in seiner Not...