Als Ravana die Eingangstür des Hexenladens hinter sich geschlossen hatte, stand sie eine Weile einfach nur dort und überlegte, was sie jetzt noch machen könnte. Noch immer war einige Zeit bis zum Sonnenuntergang übrig, und sie war in einer fremden Stadt, in der sie niemanden kannte. Sie wollte nicht wieder in ihre Kammer in der Taverne gehen, aber sie hatte auch keine Lust darauf, im Schankraum der Taverne zu sitzen und sich dumme Kommentare anzuhören.
Was also könnte ich tun? ... Eigentlich ist es klar. Ich hatte mir auf dem Weg nach Kakariko erst vorgenommen, wieder mit dem Säbel zu trainieren. Gute Idee.
Ravana entschloss sich, sich doch nicht im Laden umzusehen und stattdessen über den Zaun zu klettern, wie sie es vor kurzem zusammen mit Milo getan hatte, um den Krämerladen zu umgehen.
Diesmal klappte es auch schon besser. Sie durfte einfach nicht nach unten sehen, dann war das Klettern kein Problem mehr.
Kurz darauf stand sie vor dem Brunnen. Ein unheimliche Gefühl ging vom Brunnen aus, und Ravana ging vorsichtig näher. Als sie einen Blick in die Tiefe warf, war nichts zu sehen, wie sie es erwartet hatte. Doch trotzdem bekam sie eine Gänsehaut. Der Brunnen war kein guter Ort, das spürte sie.
Links auf einer Anhöhe stand eine große Mühle, deren Flügel sich langsam, dafür laut knarrend, im Wind drehten. Rechts war die Taverne, doch gradeaus vor sich gab es keine weiteren Häuser. Ravana ging in diese Richtung und erreichte schließlich einen Durchgang, der sich nach links durch den Felsen grub. Davor hing an einem Pfahl ein Holzschild mit der verwitterten Inschrift 'Friedhof von Kakariko'.
Der Friedhof. Dort war sie wahrscheinlich ungestört und konnte trainieren, ohne sich darum zu sorgen, etwas in ihrer Reichweite kaputt zu machen oder bei ihren Übungen beobachtet zu werden.
Der Durchgang mündete in eine enge Schlucht mit hohen Seitenwänden, und niemand war zu sehen.
Nach etwa einer halben Meile wiechen die Wände der Schlucht zurück und Ravana war auf dem Friedhof angekommen.
Es war ein weites Gelände, übersät mit teilweise schiefen Grabsteinen, mit Zäunen unterteilt. Auf der rechten Seite am Eingang des Friedhofes stand eine kleine Holzbaracke, wo wahrscheinlich ein Friedhofsaufseher wohnte, vielleicht waren dort aber auch nur einige Gerätschaften untergebracht.
Eigentlich wollte Ravana sich den Friedhof gar nicht näher ansehen, doch inzwischen war sie doch neugierig geworden. Direkt hinter dem Tor zum Friedhof stand eine riesige Steintafel mit der Inschrift:
R.I.P.
Hier ruhen die Seelen derer, die
der Königsfamilie von Hyrule
ewige Treue geschworen haben.
Über ihre Seelen wachen
in Ewigkeit die Shiekah,
Beschützer der Königsfamilie und Erbauer Kakarikos.
Dahinter stieg das Gelände an und die Felswände verengten sich ihr gegenüber langsam wieder. Auf einer Erhöhung stand ein sehr großer Grabstein.
Langsam schritt Ravana durch die Reihen der stummen Grabmale. Der Wind, der ihr auf in der Steppe immer so frisch und frei vorkam, strich um die Zäune und Steine des Friedhofs und stöhnte leise vor sich hin. Ein beklemmendes Gefühl überkam Ravana. Bisher hatte sie noch nie einen Friedhof oder Gräber gesehen, geschweige denn einen solchen Ort des Todes betreten. Am Liebsten wäre sie umgekehrt, zurück nach Kakariko, die Stadt der Lebenden, doch sie ging weiter, wollte sich das größte Grabmal des Friedhofs, das gegenüber des Eingangs stand, ansehen.
Als sie dort ankam, waren über ihr am Himmel graue Wolken aufgezogen und verdeckten die von Ravana so sehr geliebte Sonne.
Sie zog ihren Säbel – nur zum Notfall, denn das Gefühl der Angst vor den stummen grauen Grabsteinen... und den – Dingern, die unter den Steinen lagen... war stärker geworden. Hin und wieder war ihr, als hörte sie ein leises Kichern, das jedoch immer gleich darauf vom Wind davongetragen wurde.
Ravana stand auf einem verblassten Triforce-Symbol, das in den Fels am Boden eingemeißelt war und konnte leicht die in den Stein gemeißelte Inschrift auf dem großen Stein lesen.
In dieser Gruft ruhen die alle früheren Könige von Hyrule seit
Anbeginn der Zeit, und ihre engsten Angehörigen.
Möge niemand ihren Frieden in der Ewigkeit stören.
Und darunter die Namen der hier Begrabenen – alles Könige und deren nächste Verwandte.
Ob hier auch mein Vater liegt? Wahrscheinlich schon, dachte sie. Doch ihr leiblicher Vater interessierte sie nicht. Er hatte ihre Mutter und damit auch sie selbst verstoßen, und sie kannte ihn nicht. Doch trotzdem war Ravana ein wenig traurig bei dem Gedanken. Was wäre gewesen, wäre nicht ER ihr Vater gewesen, sondern ein anderer? Würde sie bei ihrer Familie leben? Würde sie von ihren Eltern geliebt werden? Hätte sie gar Geschwister? Eine Schwester, oder einen großen Bruder...
Ravana riss sich aus ihren Gedanken. Sie wollte mit dem Säbel trainieren und hatte sich zu sehr von ihrem eigenen Schicksal hinreißen lassen.
Sie kehrte um und ging mit schnellen Schritten zurück über den Friedhof, weg von all den verblichenen Leben.
Zwischen dem Gräberfeld und dem schmalen Durchgang nach Kakariko fand sie eine breite Stelle, an der sie die nächste Stunde ihren Säbel schwingen konnte.