Morgen ist schon Weihnachten

„Maria!“ rief ihre Mutter „Maria, wo bleibst du denn?“. Doch Maria war nicht aufzufinden. Ihre Mutter, vollgepackt mit Weihnachtseinkäufen, schlenderte über den Weihnachtsmarkt. „Maria!!“ rief sie jetzt noch lauter. Doch Maria kam nicht. Marias Mutter konnte nicht mehr weiter und stellte das halbe Dutzend Tüten und Taschen auf den Boden. Sie war verzweifelt. Maria war seit jeher ein aufgewecktes, neugieriges und, zum Leidwesen ihrer Eltern, ein Kind, welches immer das tat worauf es gerade Lust hatte. Marias Mutter schaute sich um:
Losbuden, glitzernde Stände mit Süßigkeiten, Bartwürsten, die im eignem Fett glänzten, Backwaren verschiedenster Art, Stände um die viele Leute herumstanden und Glühwein tranken. Ja – es waren dieses Jahr viele Leute auf dem Weihnachtsmarkt in dem kleinen Dorf gekommen. „Es hat doch keinen Zweck“ murmelte sie „Maria findet auch alleine wieder nach Hause. Bestimmt hat sie irgendetwas gefunden, was sie fasziniert und starrt es jetzt begeistert an“. So war es auch gewesen, als sie den großen Weihnachtsbaum gesehen hatte, letztes Jahr, auch auf diesem Platz. Sie hatte davor gestanden und ihn angestarrt, angestarrt aus ihren blitzenden Augen. Marias Mutter ging weiter. Sie war nun schon ein ganzes Stück entfernt von dem Trubel, des Weihnachtsmarktes. Sie blickte in ein Schaufenster: Eine kleine Kette, mit Edelsteinen versehen, so rot wie Blut. Sofort musste sie an das Märchen von Schneewittchen denken und daran, dass sie es Maria noch nie erzählt hatte. Sie ging die Hermannstrasse hinab und kam zu einem Buchladen. Im Schaufenster lagen viele Bücher im Sonderangebot. Und da! Da lag das Grimmsche Märchenbuch. Auf dem Einband war das Knusperhäuschen der alten Hexe aus „Hänsel und Gretel“ abgebildet. Sie wollte in den Laden gehen, doch dann erinnerte sie sich, dass sie gar kein Geld mehr in der Tasche hatte. Mit einem Seufzer ging sie weiter. Doch sie merkte sich den Namen der Bücherei: „Siggis´ Schmöker“. Nach einer Weile weiterem Gehen fing es an zu schneien. Erst eine kleine Flocke, die vor ihrer Nase tanzte, dann rieselte die weisse Pracht aus den Wolken. Marias Mutter betrachtete den Schnee, dann stellte sie erstmals bewusst fest: „ Morgen ist ja schon Weihnachten“.
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Maria blickte verträumt auf den Tannenbaum mit den bunten, funkelnden Kugeln dran. Ihre Mutter sagte immer so komische Sachen, wenn sie den Baum so lange anschaute. Doch sie fand ihn schön und so blickte sie weiter auf den goldenen Stern, der auf der Spitze des Baumes war. Einmal hatte Maria ihre Mutter gefragt, wer denn den Stern da oben dranmachte. Denn der Baum war riesig, mindestens zwanzig, fünfzig oder hundert Meter vermutete sie.
Und als sie dann ihr Mutter danach fragte, lächelte sie nur und meinte geheimnisvoll: „Ein Engel, vielleicht?“. Doch Maria war ganz sicher, dass es ein Stern war, der vom Himmel gefallen war und nun versuchte von dem Baum zurückzufliegen. SOCK!! Plötzlich lag Maria auf dem Boden, Schnee im Gesicht. Sie blickte auf und sah ein Paar Jungen, die mit Schnee auf Leute warfen. Maria weinte. Es tat sehr weh. Die Jungen lachten. Alles verschwamm. Sie rannte weg, weit weg, zurück zu Mama. Mama – die würde sie trösten. Also lief sie so schnell sie konnte an den Leuten vorbei, an den Glühweinbuden, wo Papa immer mit Kollegen saß und „sich einen genehmigten“, vorbei an den lachenden Jungen, immer in Richtung zu Hause. Sie rannte und rannte, immer weiter bis sie nicht mehr konnte. Maria wischte sich die roten Augen ab. Sie blickte sich um: Das war nicht ihre Strasse. Dies war eine dunkle Gasse. Die Häuser waren leer, dunkel und verfallen. Maria weinte noch doller und vergrub sich in ihren Handschuhen. Sie merkte nicht einmal, dass es anfing zu schneien.
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Marias Mutter war guter Dinge, denn ihr war die glorreiche Idee gekommen Weihnachtsplätzchen zu backen. Die Zutaten für diese hatte sie schon: Mehl, Mandeln, Zucker, Milch, Eier und Zuckerguss. Es dauerte nicht lange und die ganze, sehr spartanisch eingerichtete Einfamilienwohnung roch intensiv nach den Keksen. Marias Mutter verzierte die Kekse hie und da noch mit ein paar Smarties, dann dachte sie daran, dass Maria diese so gerne mochte und da fiel ihr ein: „Wo ist denn Maria?“ Nun war sie aufgeregt. Maria, ihr liebstes (und einziges ) Kind war verschwunden und das seit ein paar Stunden. Sofort eilte sie zum Telefonhörer um die Polizei anzurufen, als ihr einfiel, dass eine Vermisstenmeldung erst in vierundzwanzig Stunden in Auftrag gegeben werden kann. So legte Marias Mutter den Hörer wieder auf die Gabel, zog sich Jacke und Schuhe an und eilte aus der Wohnung, durch das Treppenhaus und schließlich auf die Straße. Schwer atmend hielt sie sich ihre Hüfte. „Bloß Seitenstiche“ dachte sie. Sie rannte weiter und weiter, bis sie am Weihnachtsmarkt ankam. Das vor ein paar Stunden noch so bunte Treiben löste sich mit der Zeit auf. Wie ein Bienenschwarm, der eine Blumenwiese besucht hat und nun weiter zur nächsten zieht. „Maria!!!!“ rief Marias Mutter, „Maria!! Wo bist du??!!“ Keine Antwort, auch nach dem nächsten Rufen nicht und auch nicht nach dem Dritten, Vierten und Fünften Mal. Marias Mutter war verzweifelt. Nun liefen ihr Tränen über das junge, gestresste Gesicht.
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Sie wollte aber sie konnte nicht mehr weinen. Maria fror und zog sich ihren Anorak fester. Lange hatte sie so dagesessen. Sie war komplett mit Schnee überdeckt, so lange hatte sie geweint. Papa meinte immer: „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ aber Maria glaubte, dass Indianer sowieso nur Jungs sein können und überhaupt fand sie das komisch, dass ein Indianer keinen Schmerz kennen sollte. Maria raffte sich auf und der Schnee rieselte von ihr herunter. Langsam ging sie in die Richtung, wo sie den Weihnachtsmarkt vermutete. Doch auf einmal hörte sie ein wimmern. Sie drehte sich um und sah in einem anderen Hauseingang eine kleine Gestalt sitzen, die so wie sie eben weinte. Vorsichtig ging Maria auf die Gestalt zu. Der frische Schnee knirschte unter ihr, nicht laut, nein – leise als ob sie über ihr Bett gehen würde. Nun war sie kurz vor der kleinen, in dem Hauseingang sitzende Gestalt herangetreten, als diese plötzlich den Kopf hob. Das runde, verweinte Gesicht eines Jungen starrte sie an. Er hatte eine Mütze auf und einen Mantel an, der viel zu groß zu sei schien. „W.. w.. was willst´e?“ fragte der Junge. Seine Stimme klang wie eine von den italienischen Jungen, die Maria im Urlaub gesehen hatte. „Ich wollte wissen, was los ist“ fragte Maria zaghaft. „Meine Eltern sind weg und Oma auch. Das ist los!“ antwortete der italienische Junge. „Ich hab meine Mutter auch verloren“ sagte Maria tröstend. „Is mir scheißegal, Tussi! Verschwinde!!“ rief der Junge so laut, sodass Maria zusammenzuckte. „Aber wir könnten sie doch zusammen suchen. Dann wären wir nicht mehr so alleine aber hör bitte auf zu weinen“ sie überlegte kurz, dann sagte sie: „Komm schon, ein Indianer kennt keinen Schmerz!“
„Schwachsinn! Das sacht mein Vater auch immer, doch selbst er hat geweint, als er seinen Job verloren hat, also hör auf mit diesem Mist!“ antwortete der Junge. „Aber morgen ist doch Weihnachten“ sagte Maria „freust du dich denn gar nicht?“ „Worauf denn? Meine Mutter hat kein Geld und mein Vater auch nicht, wie sollen sie da Geschenke kaufen?“ Maria stutze, warum war das so ein Problem? Der Weihnachtsmann hatte doch genug Geld, da war es doch egal, wie viel Geld die Eltern hatten. „Aber der Weihnachtsmann....“ fing Maria an. „Den gibt es doch gar nicht, Tussi! Hahaha an den Typen glaubst du noch? Hahaha ich lach mich tot!“ Maria konnte es nicht fassen: Dieser Junge glaubte nicht an den Weihnachtsmann und freute sich nicht auf Weihnachten. Da faste Maria einen Entschluss: Sie wollte dem Jungen beweisen, dass es den Weihnachtsmann doch gab. „Komm... wie heisst du eigentlich?“ „Giovanni heisse ich und du?“ „Maria! Los komm ich zeige dir den Weihnachtsmann!“ Da stand Giovanni doch auf und fasste Marias Hand. So gingen sie zusammen aus der dunklen Gasse heraus und kamen nach einigem Suchen auf dem Weihnachtsmarkt an. Einige Buden machten schon zu doch Maria hoffte, dass der Weihnachtsmann noch nicht gegangen war. Maria führte den staunenden Giovanni über den Platz. „Wer hat den denn dort oben drangemacht?“ fragte er. „Hmm...“ machte Maria „ich glaube das ist ein Stern, der vom Himmel gefallen ist.“ Giovanni verzog das Gesicht ungläubig, dann sagte er: „Aber wer hat ihn dort festgemacht?“ „Ein Engel vielleicht“ lächelte Maria. „DA!!“ rief Giovanni auf einmal „Da ist der Weihnachtsmann!!“ Und tatsächlich stand dort in seinem roten Mantel leibhaftig der Weihnachtsmann. „HOHOHO“ machte er „wer seit ihr denn?“ Doch die beiden starrten den Mann mit dem weißen Bart nur verwundert an.
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Marias Mutter hatte sich wieder gefasst und ging nun über den, sich leerenden Weihnachtsmarkt. Sie sah, wie die Menschen ihre Buden zumachten, Waren einpackten und mit zufriedenen Gesichtern nach Hause gingen. Marias Mutter guckte sich um: Keine Maria nur der Weihnachtsmannschauspieler, der mit zwei Kindern redete. Kinder??? „Maria!!“ schrie sie und die beiden Kinder drehten sich um und tatsächlich war das eine Kind Maria.

Einige Stunden später saßen Maria, ihre Mutter und Pablo zu Hause in der, nach Plätzchen duftenden Wohnung und tranken heissen Tee. Draussen war es dunkel geworden und Reklame der Geschäfte blinkte durch die Fenster. „Was wünscht du dir denn vom Weihnachtsmann?“ fragte Marias Mutter Giovanni. „Ich wünsche mir einen Fußball, dann könnte ich mit Maria draussen spielen“ antwortete Giovanni. „Und deinen Eltern ist es egal, wenn du nicht zu Hause bist?“ fragte Maria zum zirka hundertsten Mal. „Ich glaube schon“ meine Giovanni nur. „ So, nun müsst ihr beiden aber ins Bett“ sagte Marias Mutter freundlich. Zu ihrer Verwunderung gaben die beiden keine Wiederworte, schlüpften in ihre Pyjamas (Giovanni hatte sich einen von Maria geliehen) und gingen ins Schlafzimmer. Marias Mutter legte sich auf das Sofa, blieb noch lange wach, doch dann fielen auch ihr die Augen zu.
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Es war sieben Uhr, als sie alle von der Kirche wiederkamen: Marias Eltern, Maria, Giovanni und seine, über die Gastfreundschaft von Marias Eltern dankbaren eigenen Eltern. Sie gingen ins Wohnzimmer, dort, unter dem Tannenbaum lagen viele Geschenke: kleine, große, runde eckige, dicke und dünne. Alle in verschiedenen Farben. Maria wollte gerade eines aufmachen, als die anderen erstaunt aus dem Fenster blickten. Nun sah Maria auch aus dem Fenster, den winkenden Weihnachtsmann auf seinem Rentierschlitten anstrahlend. „Danke“ murmelte sie.


THE END