Mit einer festen Religion kann ich mich nicht identifizieren, schon weil mir die Institutionalisierung des Glaubens (der eigentlich etwas persönliches ist oder sein sollte) suspekt ist. Diese Haltung ist dabei nicht zuletzt auch auf die größtenteils schlechten Beziehungen meiner Verwandten zur Kirche zurück zu führen.
Insbesondere monotheistische und dualistische Religionen stoßen bei mir deshalb eher auf Ablehnung, weil sie in sich selbst oft nur bedingt schlüssig sind und oft in eine Schwarz-Weiß-Betrachtung verfallen. Ich hielt deswegen bis vor einiger Zeit den Buddhismus als die meinen Überzeugungen am nahe stehendste Religion. Diese Haltung wurde aber letzten Endes, insbesondere auch durch meinen Thailand-Urlaub (über 90% Theravada-Buddhisten) diesen Sommer stark abgeschwächt. Neben den Erfahrungen unseres Reiseleiters (der selbst jahrelang Mönch war) brachte die Gleichsetzung Buddhas mit "The Good Law" (in der englischen Übersetzung der "Teachings of Buddha") auch den Rollenspieler (und Pally-Hasser ) in mir zu dem Entschluss, Siddharta Gautama nicht mehr als religiöse Figur zu sehen, sondern "nur" noch als einen praktischen Philosophen (wie ich auch Jesus, sofern die Überlieferungen über seine Taten Hand und Fuß haben, sehe).
Ich bin mir bisher nicht sicher, wie ich gegenüber dem Taoismus stehen würde, da ich mich IMO noch nicht hinreichend genug mit dieser Religion befasst habe, um eine Beurteilung zu treffen.
Mit dem Islam sympathisiere ich trotz eigentlich grundlegender Differenzen teilweise, was allerdings zu großen Teilen an der Dämonisierung liegt, die insbesondere nach 9/11 mit den Anhängern dieser Religion betrieben wird, sowie an meiner eher pro-palästinensischen Haltung im Nahost-Konflikt (die Rechtfertigungen der Zionisten für ihre Verbrechen sind IMHO ungenügend bis lächerlich).
Insgesamt fühle ich mich jedoch keiner etablierten Religion zugehörig. Meine Vorstellung vom Transzendenten geht in eine grundlegend verschiedene Richtung.

Allerdings ist mir auch, ausgerechnet durch einen konservativen Historiker , klar geworden, dass die Religion nur ein kleinerer Teil der eigenen Ideologie darstellt, die als Gesamtes ebenso wie im Kleinen auf Glauben basiert. Dieser Mann bezeichnete den Sozialismus und Kommunismus als Ersatzreligionen (wie sicher auch manche vor ihm), was angesichts Marx' These "Religion ist Opium fürs Volk" zunächst als ein glatter Schlag ins Gesicht erschien. Dennoch kam ich zu dem Schluss, dass dieser Mann in einer gewissen, von ihm womöglich gar nicht intendierten, Auslegungsweise durchaus recht hatte. Kommunismus, sowie der von Marx' als dessen Vorstufe bezeichnete Sozialismus gehen von überaus hohen Idealen aus, um eine auf gerechterer Verteilung basierende Gesellschaft zu errichten. Und meiner Ansicht nach lässt sich damit eine den eigenen Prinzipien stark entsprechende politische Haltung auch in gewissem Maße mit einer Religion gleichsetzen.
"Ziele setzen heißt Glauben" - Walther Rathenau
Dabei ist es noch nicht einmal bedeutsam, in welche Richtung diese Ziele gehen.
"Das Ziel aber, zu dem wir streben, heißt menschliche Freiheit" - Walther Rathenau

Politisch gesehen bin ich überzeugter Anarchosyndikalist (ich hätte jetzt auf einige durch den Datenverlust verlorene Posts verweisen können). Diese Gesinnung, die sowohl individuelle Freiheit, ein gemeinschaftliches und friedliches Zusammenleben und den gesellschaftlichen Verzicht auf Machtkonzentrationen fordert (gewissermaßen also eine Vermischung freiheitlicher mit sozialistischen Ideen darstellt), kann nur mit einem großen Maß an Idealismus vertreten werden. Auch wenn diese Haltung von einigen beispielsweise wegen ihrer schweren Realisierbarkeit (keine Machtkonzentrationen bedeutet auch keine Polizei, sondern höchstens Milizen; eine damit verbundene Instabilität gegenüber einer autoritären Regierung) als wirklichkeitsferne Utopie belächelt wird, bleibe ich bei meiner Auffassung, da ich mich nicht, weil das für mich höchste "Gut" schwer zu erreichen und aufrecht zu erhalten ist, einer weniger gerechten Herrschaftsform beugen will. Da diese Einstellung von Überzeugung, Wille und Hoffnung geprägt ist (und zwar nicht nur als von Nietzsche beschriebener "Neid der Zukurzgekommenen"), ließe sie sich mehr oder weniger mit einer Religion vergleichen. Der Unterschied liegt nur darin, dass Religionen grundsätzlich von übernatürlichen Phänomenen als Begründung für ihre Auffassungen ausgehen, während sich meine Ideologie durch die Menschheit erfüllen soll.

Doch nicht nur die "echten" Religionen oder politische und philosophische Ideale basieren auf Glauben, letztendlich gründet auch die Wissenschaft zu einem großen Teil auf diesem Fundament. Das geozentrische Weltbild der Antike, die "Scheibenwelt" des Mittelalters oder das heliozentrische Weltbild Kopernikus' basierten alle auf Vorstellungen und dem Glauben an diese, die sich trotz unternommener Experimente nicht beweisen ließen und für die es höchstens Indizien gab. Doch unsere heutigen Vorstellungen von den Gesetzen, auf denen die Natur basieren soll, sind immer noch stark von Überzeugungen und Glauben abhängig. Es besteht nicht grundlos ein Unterschied zwischen der europäisch geprägten und der östlichen Wissenschaft, er entstand u.a. durch unterschiedliche Grundvorstellungen über das Wesen der Natur.
Im Physikunterricht wurde uns die Einstein'sche Relativitätstheorie kritiklos als die einzige Wahrheit vorgestellt, obwohl sie noch heute nicht bewiesen ist (wobei die Induktion einer Aussage auch nur einen mangelhaften Beweis darstellen kann, insbesondere wenn sich die Aussage praktisch auf das gesamte Universum bezieht). Genau genommen sind selbst die einfachsten "Gesetze" nicht allgemein nachweisbar, wenn man ihre Wirkung nur auf einem kleinen Raum untersuchen kann.

"Religiosität" im Sinne von Glauben, Überzeugung und Hingabe ist also IMO nicht nur auf "echte Religionen" beschränkt, die von Göttern oder gottähnlichen Wesen ausgehen, sondern auf unsere allgemeine Weltanschauung erweiterbar. Auch wenn ich keiner religiösen Institution mit irgendeiner Hingabe dienen würde und nicht den kritiklosen Wissenschaftsglauben, der mitunter schon eine "Nachfolgereligion" der bisher etablierten Religionen darstellt, einiger meiner Mitmenschen teile, ließen sich meine politischen Ansichten somit tatsächlich auch fast auf die Stufe einer (äußerst idealistischen) Religion stellen.