Am darauffolgenden Mittag saß Ravana auf dem Dach der Festung und dachte nach. Lange hatte sie sich diesen Morgen mit Bumara unterhalten.
Ihre Mutter Nabira war die jüngere rebellische Tochter der früheren Gerudo-Anführerin Naboru gewesen und hatte im Alter von 18 Jahren das Gerudotal verlassen, sehr zum Unmut ihrer Mutter und der anderen Frauen. Bumara sagte, dass sie das Leben unter Frauen satt gehabt habe und die Welt sehen wollte. Drei Jahre später kam sie zurück, hochschwanger und vom Leben enttäuscht.
Sie war die Geliebte des letzten Königs Dardanos Gustavson I. gewesen und wurde von ihm verstoßen, als sie schwanger wurde. Die Menschen am Hof hatten sie verachtet, weil sie eine Gerudo war, und in Hyrule war sie auch nicht weit herumgekommen. Nicht mal in der aufstrebenden Stadt Kakariko war sie gewesen.
Das Kind kam zur Welt und Nabira war im Kindbett gestorben, wahrscheinlich wollte sie auch gar nicht mehr weiterleben und die Schande ertragen.
Der König war zwar ein freundlicher Mann gewesen, doch er war auch egoistisch und wollte kein Kind aufziehen, das nicht von seiner rechtmäßigen Gemahlin war. Schon gar kein Gerudo-Kind. Als Nabira ihn weinend anflehte, sie nicht zu verstoßen, wies er sie darauf hin, dass erst vor wenigen Jahrzehnten ein Gerudo seinen Vorgänger verraten hatte und die Welt in Chaos und Unglück gestürzt hatte. Niemals wollte er wieder Vertrauen in einen Angehörigen dieses Volkes setzen, und schon gar nicht wollte er ein Kind, das zur Hälfte seinen Ursprung bei einem Diebesvolk hatte.

Blass hatte Ravana sich diese Geschichte angehört. Niemals hatte sie sich Gedanken über ihre Eltern gemacht, und nun hatte sie erfahren, dass ihre Eltern egoistisch und närrisch gewesen waren.
Ihre Mutter war schon lange tot, und ihr Vater auch, wie Bumara sagte. Der neue König, Dardanos Gustavson II. sei nicht von solchen Vorurteilen behaftet und regiere Hyrule mit fester, aber gütiger und voraussehender Hand. Alle Völker seien vor seinen Augen gleich.

Ravana hatte Bumara den Grund ihres Kommens erzählt, von ihren Träumen über das Schloss und ihr Gefühl, dass mit dem Wüstenkoloss etwas nicht stimme.
Bumara war ebenfalls sehr besorgt. Sie wusste über einige Dinge Bescheid, und hatte Spione unter allen Völkern.
Ein Bote hatte ihr vor wenigen Tagen berichtet, dass auf einer großen Farm in der Hylianichen Steppe aus unerfindlichen Gründen alle Rinder gestorben waren, aber niemand wisse genaueres.
Sie erzählte Ravana auch, dass auch sie das Gefühl habe, dass sich in der Wüste etwas geändert habe.
„Vor vielen Jahren,“ hatte sie gesagt, „hatten wir einen Mann bei uns, der sich sehr gut mit Magie auskannte. Zunächst war er sehr wichtig für uns und genoss hohes Vertrauen, doch mit der Zeit zog er sich in seine Gemächer zurück, wo er seltsame Dinge mit seinen magischen Künsten bewerkstelligte. Unsere Frauen bekamen Angst vor ihm und mieden seine Umgebung, und schließlich verließ uns dieser Mann, er ging in die Wüste. Wir alle waren erleichtert, ihn los zu werden, doch ich hatte kein gutes Gefühl dabei, ihn unbeaufsichtigt herumstreifen zu lassen.“
Bis vor kurzem habe sie nichts mehr von dem Mann, den sie alle als „Wüstengeist“ kannten, gehört und hatte schon im Stillen gehofft, dass er einfach verschwunden war. Doch in den letzten Tagen dachte sie oft an ihn und wusste irgendwie, dass Wüstengeist nicht tot ist, sondern im Gegenteil, so mächtig sei wie nie zuvor und dass er seine Kräfte womöglich nicht für Gutes einsetze.

Ravana wurde immer bleicher, als sie das hörte. Sie hatte gleich an den Wüstenkoloss und dessen seltsame Aura der Angst gedacht... Bis vor kurzem hatte sie vielleicht nur wenige hundert Schritt entfernt von diesem Magier gelebt, und es war ihr nicht direkt aufgefallen. Sie hatte Bumara gefragt, ob die Gerudokriegerinnen nicht den Wüstenkoloss aufsuchen können und Wüstengeist dazu zwingen, seine Machenschaften aufzugeben, doch Bumara hatte den Kopf geschüttelt und traurig gesagt: „Nein. Niemand kennt den Weg zum Wüstenkoloss. Es gibt keinen Weg. Wir würden vielleicht alle verdursten, ehe wir dort ankämen. Wir kennen uns nicht so sehr in der Wüste aus wie du, Nichte. Und selbst, wenn wir bis zum Wüstenkoloss kommen würden, würde Wüstengeist uns wahrscheinlich nur auslachen und uns wieder zurück schicken. Nein, wir können nichts machen, und es ist auch nicht unser Schicksal, etwas zu tun. Die Götter haben das alles in der Hand und werden es so richten, wie es sein soll. Uns bleibt nur, abzuwarten.“

Zuletzt hatte Bumara ihr angeboten, bei den Gerudo zu bleiben und zu lernen, wie eine Gerudo zu kämpfen. Doch Ravana hatte abgelehnt. Sie wollte immer noch zum Schloss, und am nächsten Tag würde sie aufbrechen.
Bumara aber schenkte Ravana einen kleinen Krummsäbel, den sie vor Jahren einmal von einem dankbaren Goronen geschenkt bekommen hatte. Sie sagte, dass sie Ravana beibringen wolle, diesen Säbel todbringend zu nutzen, wenn sie das nächste Mal vorbeikäme, und Ravana dankte ihr.
Für den Teppich konnten die Gerudo jedoch nichts tun. Sie empfahlen ihr, bei einer Hexe in Kakariko vorbeizugehen und sie nach magischen Teppichen zu befragen.

Einerseits hatte Ravana Angst vor den Ereignissen, die vielleicht noch kommen mochten, aber andererseits fühlte sie sich lebendig wie schon lange nicht mehr. Hier hatte sie Menschen gefunden, die sich für sie interessierten, die ihr halfen und mit ihr wie mit einer erwachsenen Frau redeten.
Sie hob Bumaras Säbel auf, der neben ihr lag und sah ihn sich an. Er war aus sehr hartem Stahl geschmiedet, ein sehr gutes Stück eines sehr guten goronischen Schmiedes. Er lag leicht in ihrer Hand, und seine Klinge war so scharf, dass sie ein Stück Stoff allein bei Berührung zerteilen konnte.
Ehrfürchtig strich sie mit dem Finger über die flache Klinge und betrachtete ihr Spiegelbild. Man hatte ihr die Haare ein wenig zurechtgestutzt und ihr neue, saubere Kleidung gegeben.
Ravana war versucht, doch noch einige Tage bei den Gerudo zu bleiben und sich wenigstens die Grundkenntnisse anzueignen, wie sie mit einer solchen Waffe umgehen musste. Es war schade, diesen wunderschönen Säbel mit sich herumzutragen und nicht zu wissen, wie er zu verwenden ist – womöglich würde er ihr sogar gestohlen werden, da sie nicht wusste, wie sie ihn zur Verteidigung einsetzen könne..

Sie stand auf und ging mit langsamen Schritten wieder zurück zu der Öffnung zu ihrem Raum.