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Kapitel 2: Der Nachhauseweg

Vor einigen Minuten ist er aus dem Zug ausgestiegen. Mit großen schweren Schritten über den Bahnsteig gegangen. Ist die nächste Straße abgebogen und in Richtung der Stadt, direkt hinein gelaufen.
Nachhause tragen ihn seine Schritte schneller. Und er muss nicht mal nachdenken wie er laufen muss. Seine Schritte finden ihren Weg allein. Seine Beine sind sicher gelenkt auf ihrem gefährlichen Weg. Wie ein Cowboy fühlt er sich, der mit dem Sattel auf seinem treuen Pferd sitzt. Das Pferd trottet allein nach Hause, denn es kennt den Weg, folgt der Gewohnheit. So reitet er durch die Stadt, galoppiert durch die Wüste, durch die vollkommene Einöde, vorbei an Geschäften und Menschen.
Als er aus dem Zug stieg war ihm schlecht und jetzt ist ihm immer noch schlecht. Sehr schlecht. Am liebsten möchte er sich ein schönes Plätzchen suchen an dem er sich übergeben kann. Aber das geht nicht, dass weiß er. Er ist nicht in der Lage dazu. Er könnte sich den Finger in den Hals stecken, Würgen, an etwas ekliges Denken, alles würde nichts helfen. Denn es ist mehr ein Gefühl im Bauch. Ein Gefühl als ob jemand da drin sitzt und raus will, ja so fühlt sich das an denkt er sich. Dieses Gefühl wohnt schon so lange in ihm, und ab und zu bricht es aus. Wie ein Vulkan spuckt es dann, Eruptionen fordern Zweifel und Ängste zu Tage. Als ob einer mit knüppelnder Härte direkt in die Magengegend schlägt.
Es ist Abend und langsam wird es dunkel. Hier und da flackern in den Häusern Kerzen. Die kann man daran erkennen wie ihre Flammen an den Wänden lecken. Wellen von Wärme stranden in die Vorgärten. Aber die Wellen enden spätestens am Bürgersteig. Unter Null Grad haben die Meteorologen angesagt, und gefühlt sind es mindestens noch zehn Grad weniger. Die Hände in den Taschen frieren und Klammern sich mit letzter Kraft in den Stoff der Jacke, wollen nicht ertrinken in eisigen Fluten die von seinen Füßen ausgehen und durch den ganzen Körper schwappen.
Tief atmet er die kalt beißende Luft ein. Seine Lungen jauchzen und platzen fast. Vielleicht, denkt er sich, wird dann das Gefühl im Bauch fortgeweht.
Hart klacken immer wieder die Schuhe auf dem Teer. Eintönig, einschläfernd. Dann werden die Schritte leise, nur noch ein zähes Knirschen der Absätze ist zu hören. Erwacht, wie aus einem Traum, schaut er nun seinen Beinen folgend an sich hinunter. Sieht nasse braune Blätter die den Boden bedecken. Sieht seine groben Schuhe rücksichtslos auf sie treten. Blätter wie die die er vorher am Bahnhof gesehen hat. Zerfetzte, Kleine und Große. Baumes Lebenszeichen, die da sich hilflos im Graben sammeln. All diese Blätter sehen gleich aus. Und doch ist jeder einzelne Blatt etwas besonderes, wenn man es in die Hand nimmt. Es hat einen langen Weg hinter sich, so ein Blatt. Hat sein Blätterdasein bestanden. Jedes Blatt, so wie es jetzt da von uns nichtsahnend zertreten wird hat einmal Leben dargestellt. Es erzählt Geschichte. Im Frühling ging es auf, ganz zart in der Krone des Baumes. Erfreute uns mit seinem Hauch von grün im frühen Jahr, brachte Trost nach langen, offenwärmenden Monaten. Fror in den kalten Winden der ersten Tage, um uns dann im Sommer Schatten zu spenden. Später kleideten sie sich in den prächtigsten Farben, sie wollten uns den Abschied nicht allzu schwer machen. Im Herbst wurden sie dann in unaufhörlichen kräftigen Stürmen von den Bäumen gefegt. Groß, grün, vollkommen waren sie. Und jetzt? Jetzt liegen sie alle tot am Boden. Braun ist das Laub, was den Boden einhüllt. Tot, der Teppich über den wir auf unseren Thron zu schreiten. Nur weil sie nicht mehr hoffnungsvoll im Grün erstrahlen werden sie jetzt rücksichtslos von uns getreten, in Bergen zusammengefegt. Wie die leblosen Körper jüdischer Häftlinge, einfach verbrannt. Ihm schaudert bei dem Gedanken. Aber dann empört er sich. Was für ein Schicksal. Welch unrecht!
Die Bauchschmerzen sind nicht mehr vorhanden, sind wie weggeblasen im feuchten Abendwind. Wut wärmt sein Herz. Er bleibt stehen, dort wo er ist, inmitten eines Meeres von brauner, lebloser Hoffnung. Wild greift er hinter sich, zerrt den Rucksack nach vorn um ihn zu öffnen. Greift hinein und schlägt in der gleichen Bewegung schon sein Notizbuch auf. Atemlos schreibt er "braune Blätter".
Jetzt ist es besser, der Ärger, der vorher kochend, brühend heiß seine Augen netzte ist verflogen. Hitzewallungen schweben noch ahnungsvoll in dampfenden Schwaden um seinen Körper. Tränen treffen die unschuldigen Blätter hart.
Aber es ist vorbei. Nicht weiter aufregen, sagt er sich.