Das perfekte Verbrechen
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Die Nacht brach herein. Bald würde Anton sich Gedanken über einen Schlafplatz machen müssen. Noch einmal würde er nicht im Bahnhof übernachten.
Sie hatten ihn vor zwei Tagen aus seiner Wohnung geworfen, er hatte keine Miete mehr gezahlt. Wovon auch? dachte Anton jetzt bitter, während er ziellos die einsamen Straßen seiner Heimatstadt durchwanderte.
Anton hatte kein Geld. Er hatte zwar Angehörige, an die er sich hätte wenden können; Eltern und Großeltern lebten noch, er war ja noch jung. Doch zu denen konnte er nicht gehen, sein Stolz ließ es nicht zu. Sie haben von Anfang an nicht an mich geglaubt. Weder an mich und Steffie noch daran, dass es mit der Wohnung gut gehen würde. Zu seiner Verwandtschaft würde Anton nicht gekrochen kommen, das stand für ihn fest.
Doch irgendwoher brauchte er Geld. Schon den ganzen Tag lang, während er kreuz und quer und ohne Ziel durch die Stadt marschiert war, hatte Anton sich Gedanken darüber gemacht, wie er welches auftreiben sollte, möglichst viel, ein ganzes Kapital. Denn das war es, was er wollte, ein Kapital. Er würde irgendwo ganz von vorn anfangen. –
Jetzt war es bereits dunkel, und nichts hatte ihm dieser Tag gebracht, keinen Plan, keinen Schlafplatz. Anton sah auf und bemerkte, dass er am Schlosspark war, in einer Seitenstraße. Er schaute sich um. Es war finster im Park, und niemand trieb sich dort um diese Uhrzeit mehr herum. Aber um auf einer der Bänke zu übernachten, hielt Anton in Gedanken fest, war es im Dezember entschieden zu kalt. Er überlegte weiter. Die Mietshäuser auf der anderen Straßenseite: in kaum einem Fenster hingen Gardinen. Das war nicht die feinste Gegend hier, und die meisten Appartements standen leer. Wenn er sich zu einem von denen Zutritt verschaffen konnte …
Anton wurde in seinen Überlegungen unterbrochen, als er es von irgendwoher laut niesen hörte. Er schaute die Straße hinunter. Eine alte Frau war um die Ecke gekommen und schnäuzte sich gerade; sie hatte ihn noch nicht bemerkt. Anton blickte sich um, niemand sonst war zu sehen. Er beschloss Nägel mit Köpfen zu machen.
Er erklomm die hüfthohe Parkmauer, unbeholfen, und schlug sich ins Gebüsch. Er stapfte einige Schritte durchs Laub, kämpfte sich durch das Gewirr von Ästen, bis er sicher war soweit im Schatten verschwunden zu sein, dass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte; schon gar keine alte Frau mit vor Kälte tränenden Augen.
Anton hockte sich hin und wartete. Schließlich hörte er Schritte. Dann sah er den Hut, oder was auch immer es war, was die alte Frau da auf dem Kopf trug. Sie befand sich nun genau an der Stelle des Fußweges, an der Anton soeben ins Gebüsch geklettert war. Er räusperte sich.
„Guten Abend, gnädige Frau“, sagte er mit verstellter Stimme, so dass sie tiefer klang; er hörte einen unterdrückten Schrei, das Klappern von Schuhen auf Bordstein riss ab. Anton konnte sich der Aufmerksamkeit der alten Frau nun sicher sein und fuhr fort: „Ich habe eine Waffe auf sie gerichtet.“ Sofort errötete er; er tat es immer, wenn er log. Doch hier im Dunkeln konnte ihn niemand sehen. „Ich möchte, dass Sie Ihr Portemonnaie hervorholen, es vor sich auf die Erde legen und dann verschwinden. Ihren Personalausweis können Sie von mir aus vorher rausnehmen. Aber das Geld bleibt drin!“
Ohne es zu merken hatte Anton die letzten zwei Sätze mit seiner normalen Stimme gesprochen. Außerdem hörte er nichts von der anderen Seite der Mauer her, es müsste doch zumindest irgendwie rascheln, wenn die Alte jetzt ihre Börse hervornestelte. Anton war sich nicht sicher, ob er genug Eindruck auf sie gemacht, sie ausreichend verunsichert hatte. Er holte, um sich selbst aus der Verlegenheit zu helfen – und Verlegenheit sollte er jetzt besser am allerwenigsten verspüren, das war ihm klar – sein Feuerzeug aus der Jackentasche, machte damit das erstbeste Geräusch, das ihm einfiel, und sagte: „Das war das Geräusch, dass ich meine Waffe entsichert habe.“ Das klang wenig überzeugend: Anton hoffte, dass die Frau genauso wenig von Waffen verstand wie er selbst. Noch immer keine Reaktion.
Die Frau war da, Anton sah ihren Hut zittern. Aber sonst schien sich jenseits der Mauer nichts zu tun. Vielleicht ist sie taub, fuhr es Anton durch den Kopf. Vielleicht steht sie jetzt da, schnäuzt sich lediglich und hat kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe.
Doch plötzlich kam Bewegung in die alte Frau. Anton hörte ihre Absätze aufs Pflaster hämmern und sah ihre Kopfbedeckung davontreiben. Er verharrte. Angespannt hockte er im Gebüsch und hoffte, dass die Alte tatsächlich ihr Portemonnaie auf dem Fußweg hinterlassen hatte. Als schließlich ihre hastigen Schritte nicht mehr zu hören waren, beschloss Anton nachzusehen.
Doch er würde nicht zurück über die Mauer auf die Straße klettern, das war zu auffällig; nachher hing doch irgendwo jemand am Fenster. Nein, er würde sich jetzt im Dunkeln zu einem der Parkausgänge tasten, dann gemütlich um die Ecke spazieren, wie zufällig in die Seitenstraße einbiegen und dort hoffentlich eine prall gefüllte Börse finden. Und dann würde auch schon sein neues Leben beginnen, frohlockte jetzt Anton, während er im dunklen Park den Lichtern der Straßenlaternen entgegenstolperte.
Er konnte immer noch nicht fassen, was er getan hatte. Er hatte sich genau dieses Vorgehen schon immer ausgemalt, selbst als er noch nicht in Geldnot gewesen war, sogar explizit in dieser Straße, in diesem Teil des Parks. Es war ihm immer als das perfekte Verbrechen erschienen. Und nun hatte er es begangen.
Als Anton schließlich den Ausgang erreicht hatte, schritt er betont langsam das letzte Stück Fußweg bis zur nächsten Ecke ab und bog noch genau rechtzeitig in die Seitenstraße ein, um zu sehen, wie ein kleiner Junge gerade etwas von der Erde aufhob.
„Oh Scheiße“; Anton biss sich auf die Lippen: Dieses kleine Drecksbalg hatte soeben seine Beute eingesackt. Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich, entschlossen begann er dem Jungen hinterher zu stapfen. Er war bereits zu weit gegangen, als dass es jetzt noch ein Zurück hätte geben dürfen. Er würde dem Jungen das Portemonnaie schon abzuknöpfen wissen.
Als er ihn fast eingeholt hatte, drehte der Kleine sich um, erschrak und begann zu rennen. Anton biss sich abermals auf die Lippen, fluchte, und lief hinterher.
Zunächst hielt er mit, der Junge schien nicht der schnellste Renner zu sein. Doch er hatte eindeutig die bessere Kondition. Anton ächzte und stöhnte, der Junge aber wurde nicht langsamer. Sie waren bereits einmal um den gesamten Park gerannt. „Wo will dieses blöde Kind eigentlich hin?!“ hätte Anton vor Wut beinahe geschrieen. Er konnte nicht mehr. Er blieb stehen. Der Junge rannte weiter. Doch Anton gedachte ihn nicht entkommen zu lassen.
Das Mauerwerk war an dieser Stelle brüchig. In einem Akt der Verzweiflung nahm Anton einen der lockeren Steine und warf ihn nach dem Kind. Der Stein flog durch die Nacht, ging nieder und traf genau zwischen den Schulterblättern. Der Junge fiel nach vorn mit dem Gesicht auf die Straße – ein dumpfes Klatschen erklang – und blieb liegen.
Entsetzt und immer noch stoßweise atmend stand Anton da und konnte wiederum kaum, was er getan hatte. Das Kind regte sich nicht. War es tot?
Plötzlich durchzuckte es Anton. Hektisch sah er sich in alle Richtungen um. Doch noch immer waren die Straßen leer. Nirgendwo schien ein Fenster erleuchtet. Vollkommen unbemerkt waren Anton und der Junge um den Park gerannt, vollkommen unbemerkt hatte Anton ihn mit einem Mauerstein totgeschmissen. –
Was, fuhr es ihm auf einmal durch den Kopf, wenn es nicht mal das Portemonnaie gewesen war, was der Junge vorhin aufgehoben hatte; wenn die alte Frau es nie überhaupt auf den Fußweg gelegt hatte? Vielleicht hatte der Junge sich lediglich nach einem Bonbonpapier gebückt, das ihm noch gefehlt hatte in seiner Sammlung. Und was, wenn es zwar das Portemonnaie gewesen war, aber die Alte kaum Geld drin hatte?
All das musste Anton sofort herausfinden.
Er war wieder etwas zu Atem gekommen und lief an die Stelle, wo der Junge lag, um ihm die Taschen zu durchsuchen. Zu Antons Glück war der Kleine genau unter einer Straßenlaterne zu Fall gekommen. Er griff ihm in beide Anoraktaschen und brachte tatsächlich eine Börse zum Vorschein, welche noch dazu eindeutig einer alten Frau gehörte; zumindest keinem kleinen Kind; sie war aus Schlangenleder.
Anton riss sie geradezu auf, einige Münzen fielen heraus; sonst war nichts drin. Er hatte das Kind umsonst getötet, für nichts und wieder nichts; für ein paar Münzen. Verächtlich sah er auf den Boden, wo sie lagen und das Licht der Straßenlaterne zurückwarfen. Auch die orangefarbenen Reflektoren am Anorak des toten Jungen warfen das Licht zurück …
Jetzt erst wurde Anton bewusst, was er getan hatte. Wie toll warf er seinen Kopf herum und unterdrückte Schreie der Verzweiflung. Voll Zorn biss er ins Kunstleder des gestohlenen Portemonnaies und zerrte mit den Zähnen daran. Und plötzlich riss es auf. Scheine flatterten heraus, segelten im fahlen Licht der Laterne sanft zu Boden. Anton hielt in seiner Raserei inne.
Er bückte sich, hob einen der Geldscheine auf: ein Hunderter. Er sah sich das Portemonnaie an. Im Innenfutter klaffte eine Öffnung, wo vorher noch keine gewesen war; drin steckten zahllose weitere Scheine, gebündelt. Anton hatte in seinem Anfall das Geheimfach aufgebissen.
Schnell stopfte er den Hunderter, den er soeben aufgehoben hatte, in die Innentasche seiner Jacke und machte sich daran, auch die übrigen Scheine, die auf die Erde geflattert waren, aufzulesen. Dabei bemerkte er noch etwas anderes, das offenbar aus dem Portemonnaie auf den Fußweg gefallen war: den Personalausweis der alten Frau. Anton lachte. Hatte die blöde Kuh ihn also doch nicht vorher rausgenommen. Was hatte sie dann überhaupt so lange hinter der Mauer gemacht?
Er hob den Ausweis auf und sah ihn sich an. Er schaute aufs Passbild. Er schaute auf den Namen. Er kannte die Frau. Sie war seine Großmutter.
Hobbygärtner Funke
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Beinahe andächtig spazierte Herr Funke durch seine ehemalige Wohngegend. Dass es ihm dabei im Herzen zog, hatte jedoch gar nichts zu heißen: Das mussten nicht zwangsläufig schmerzhafte Erinnerungen, konnte genauso gut irgendeine Krankheit sein. Er war ja immerhin nicht mehr der Jüngste.
Gut zwanzig Jahre, rechnete der alte Mann zurück, waren vergangen, seit es ihn damals in einen anderen Teil der Stadt verschlagen hatte. Kaum etwas schien sich geändert zu haben. Noch immer beleidigten dieselben hässlichen Reihenhäuser das Auge, eins grauer als das nächste. Trostlosigkeit ging hier in den Torwegen seit Jahr und Tag ein und aus.
Wie er so der alten, traurigen Zeiten gedachte, musste Herr Funke sich eingestehen, dass es wohl doch die Erinnerungen waren, die seinem Herzen zu schaffen machten. Doch da musste er durch. Schließlich war er heute ausdrücklich hierher zurückgekommen, um die Vergangenheit nicht ruhen zu lassen. –
Herr Funke hatte nämlich vor zwanzig Jahren im Hinterhof des Hauses, in dem er damals gewohnt hatte, einen Baum zu pflanzen geruht. Und ob aus dem etwas geworden war – um das herauszufinden, war der alte Mann heute hier sowie offensichtlich bereit, sich seelischen Belastungen auszusetzen.
Es würde sich auch nicht um irgendeinen Baum handeln.
Man wusste von Kindern, dass sie mitunter einen Pfirsichkern verbuddelten, in der Hoffnung, eines Tages die saftigsten aller Früchte von ihrem höchsteigenen Pfirsichbaum pflücken zu können; auch Kirsch-, Apfel- und Mandarinenkerne waren schon von zahllosen Jungspunden zu diesem Zwecke unter die Erde gebracht worden.
Doch Herrn Funke hatte seinerzeit eine weitaus originellere Idee beseelt, mit welcher sich das bloße Verlangen nach frischem Obst durchaus nicht messen konnte: einen Pudelbaum zu pflanzen. Was brauchte es dazu mehr als ein geeignetes Fleckchen Erde sowie des Pudels Kern? –
In der Nachbarschaft waren damals mehrere solcher Hunde vorhanden gewesen, er hatte sich einfach einen davon geschnappt. Aufgefallen war es keinem, die Viecher sahen eh alle gleich aus. Das Schwierigste an dem ganzen Unterfangen war für Herrn Funke gewesen, den leblosen Hundekörper – nachdem er das Tier höchst selbst eingeschläfert hatte – bis aufs Skelett abzunagen: Der damals noch nicht ganz so alte Mann hatte auf Nummer Sicher gehen wollen, mit einem Pfirsich verfuhr man schließlich genauso, man kaute sich durch das den Kern umschließende Fruchtfleisch. Geschmeckt hatte es nicht.
Als das Pudelgerippe dann fein säuberlich angenagt vor ihm auf dem Tisch gelegen hatte, war Herr Funke sich nicht sicher gewesen, was genau davon denn nun des Pudels Kern sein sollte. Vorsichtshalber hatte er den kompletten Knochensatz verbuddelt. Mutter Erde würde sich, davon war er ausgegangen, schon raussuchen, was sie brauchte, um einen Pudelbaum wachsen zu lassen. –
Tatsächlich, sie hatte es getan: Der alte Mann lehnte nun erschöpft in seinem alten Torweg, sah auf den Hof, und dort stand ein Baum. Er ging hin, stellte sich zu des Baumes Wurzeln auf und sah ihn sich an.
Doch der hölzerne Gesell trug keinen einzigen Pudel an seinen knorrigen Ästen.
Hilflos wandte Herr Funke sich um, wollte sicher gehen, dass dies auch der richtige Hinterhof sei: Er war es, der alte Mann erkannte die Schmierereien an den Hauswänden. Wieder sah er an seinem Baum hinauf.
Blätter hingen dort zwar – aber keine Pudel. Herr Funke verzweifelte. Ihm war ein Strich durch die letzte aller Rechnungen gemacht worden.
Er hatte heute hierher zurückkommen und einen Pudelbaum vorfinden wollen. Er hätte die Pudel von den Ästen gepflückt und mit ihren Knochen einen Palast gebaut, um sich in eben jenen die schönste aller Frauen als Gattin einzuladen, auf dass sie gemeinsam ein Kind hätten zeugen mögen. Die Früchte seines Pudelbaums wären ihm den Weg zur endgültigen Selbstverwirklichung zu ebnen imstande gewesen: Herr Funke hätte einen Baum gepflanzt, ein Haus gebaut sowie ein Kind gezeugt.
Doch nun war nichts aus alldem geworden. Der Faustschlag, der ein klaffendes Loch in die Mauer der Bedeutungslosigkeit seines Seins hatte schlagen sollen – dieser Faustschlag war ins Leere gegangen.
Die Wucht der Erkenntnis traf Herrn Funke so unvorbereitet und hart, dass er zwei schwankende Schritte zurücktaumelte. Voll irrer Verzweiflung gaffte er den Baum an. Gott wusste, wer ihn gepflanzt hatte; Herr Funke war es nicht gewesen. Wahrscheinlich hatte derjenige seinerzeit sogar das Pudelskelett ausgegraben und längst entsorgt.
Der alte Mann sah sein Lebenswerk zerstört. Ihm kamen heiße Tränen, voller Verbitterung weinte er sie. Dann schnäuzte er sich in seinen Schal, nahm ihn ab, machte hier einen Knoten, da einen Knoten, und erhängte sich an dem Baum, den er selbst nicht gepflanzt hatte. Und während sein lebloser Körper im Wind hin und her bommelte, tat sich plötzlich ein Astloch im Stamm des Baumes auf, zwei Dutzend Pudel sprangen heraus und nagten seine Leiche bis auf die Knochen ab, der Ironie des Schicksals wegen. Und auch Gerechtigkeit!
Schauergeschichte
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Die Nacht hatte bereits ihren rechtmäßigen Platz eingenommen. Am schattenschwarzen Firmament prangte der Vollmond wie die entblößte Brust einer sehr, sehr blassen Frau.
Auch Irene hätte etwas Röte vertragen können; sie war vor Erschöpfung totenbleich. Seit einer geschlagenen Stunde schon stapfte das Mädchen durch Dorf um Dorf auf dem Weg zum Haus seiner Gastfamilie. Es hatte den letzten Bus verpasst. –
Es galt in einem Nebel zu waten, welcher die Durchdringbarkeit eines mittleren Wohngebäudes besaß; jedoch keine Fenster hatte. Irene sah die Hand vor lauter Augen nicht. Das war nur logisch, denn ihre beiden Hände steckten sowohl in dicken Fäustlingen als auch kilometerweit in den Jackentaschen. Es war sehr kalt draußen.
Die Straßenlaternen schienen gerade hell genug, dass Irenes Augen sich nicht an die Dunkelheit gewöhnen, und gerade schwach genug, dass sie trotzdem nichts sehen konnten. Für den Sehnerv des armen Mädchens war es eine regelrechte Marter. Das Licht der Laternen war geradezu marterfahl.
Unter derlei Bedingungen also kämpfte Irene sich voran. Ihre zarten Füßchen klopften einen Rhythmus aufs Pflaster, zu dem der erbarmungslose Wind sein immerwährendes, altes Lied pfiff. Auch Wölfe stimmten mit ein.
Schließlich, endlich, zeichnete sich am Horizont das Anwesen der Gastfamilie ab. Irene hätte erleichtert aufgeatmet. Doch sie befürchtete mit einem Stoßseufzer die schmutzige Fantasie der sie offenkundig umzingelnden, wilden Tiere anzuregen. So unterdrückte das Mädchen zunächst noch seine Erleichterung und beschleunigte lediglich die ohnehin schon hastigen Schritte.
Nach vierhundert weiteren Metern schließlich stand Irene vor dem metallenen Portal. Plötzlich begann sich jenes ohne ihr Zutun zu öffnen. Sie erschrak. Ein jämmerliches Quietschen erklang, als kratze Satan persönlich mit seinen nachtschwarzen Fingernägeln an einer Tafel herum, auf welcher zuvor die vier Apokalyptischen Reiter französische Vokabeln konjugiert hatten. Irene trat nichtsdestotrotz ein.
Sie überquerte den Vorhof, der Kies knirschte unter ihren Sohlen. Plötzlich krachte ein Blitz. Irene sah nach oben, Regen fiel ihr ins Auge. Doch es war nur ein kurzer Schauer. –
Die Wege des Herrn
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Hank ging spazieren. Der Wind blies heftig wie eine übereifrige Bordsteinschwalbe. Plötzlich begannen sogar Mülltüten und gelbe Säcke durch die kühle Septemberluft zu segeln. Mehrere trafen Hank am Kopf. Der wusste nicht, wie ihm geschah, blieb angewurzelt stehen und konnte kaum den Geschossen ausweichen, die ihm geradezu gezielt um die Ohren zu fliegen schienen. Es war fast, als hätte Gott sich gegen ihn verschworen.
Als er wieder einer der Tüten ausweichen wollte, verfing sich diese in seiner Hand. Hank öffnete sie und sah hinein: lauter menschliche Gliedmaßen sowie unidentifizierbares Gekröse, alles war mit Blut verschmiert.
Hank wunderte sich nicht weiter darüber. Er war Serienkiller, spezialisiert auf Frauen, und zerstückelte seine Opfer nach der Tat und entsorgte ihre Einzelteile in exakt solchen Müllbeuteln. Der sich ihm bietende Anblick war Usus für Hank.
Doch Moment! Dieser hier war ja einer seiner Müllbeutel! Den Unterarm dort erkannte er, konnte sich noch genau erinnern, wie er ihn abgetrennt hatte. All die Müllbeutel, welche ihm um die Ohren flogen, waren seine höchst eigenen. Eine schreckliche Erkenntnis für Hank.
Also war doch Gott im Spiel. Zur Strafe, weil Hank die ganzen Frauen getötet hatte, haute Er ihm nun seine Müllbeutel um die Ohren wie die verärgerten Eltern ihrem ungehorsamen Sprössling dessen Spielzeug, welches er nicht anständig weggeräumt hatte.
Spielzeug, das ich nicht anständig weggeräumt habe …
Plötzlich kam Hank der Gedanke, dass Gott ihn vielleicht gar nicht hatte bestrafen wollen. Vielleicht hatte Er ihn lediglich darauf aufmerksam machen wollen, dass Hank die zerstückelten Leichen seiner Opfer nicht „anständig wegräumte“. Allzu gut konnten sie jedenfalls nicht versteckt sein, wenn es jedem dahergelaufenen Wind möglich war sie zu erfassen und ihm um die Ohren zu wehen. Und tatsächlich, fiel es Hank plötzlich wie Schuppen von den Augen: die letzten Müllbeutel hatte er allesamt bei sich vor die Haustür gestellt, auf dass die Müllabfuhr sie abholen möge.
Sicher würden diese jedoch entschieden Alarm geschlagen haben, wären ihnen die abgetrennten Köpfe und Gliedmaßen und das viele Blut aufgefallen – hätte nicht Gott eingegriffen und die Müllbeutel rechtzeitig aus den behandschuhten Klauen der Müllmänner entrissen und ihm, Hank, direkt in die Hände gespielt, um ihn mit der Nase auf seine fatale Nachlässigkeit zu stoßen.
Gott war also auf seiner Seite, schlussfolgerte Hank. Gut zu wissen. Sogleich würde er sich auf die Jagd nach seinem nächsten Opfer begeben und es nach allen Regeln der Kunst auseinander nehmen. –
Diese Geschichte hat bewusst auf einen Spannungsbogen verzichtet. Sie sollte in der Hauptsache dem Leser die Möglichkeit einräumen, an der kranken und verquere Psyche eines Schwerverbrechers teilzuhaben. Eine äußere Handlung hätte nur abgelenkt von dem, was im Inneren des Serienkillers vor sich geht: all jene realitätsfernen und entarteten Gedankengänge, die schließlich zu der grausamen Tat selbst führen.
Was hätte außerdem in diesem Zusammenhang eine äußere Handlung schon anderes hergeben sollen als die Zerstückelung einer Frauenleiche? Und wer so etwas lesen will, ist schließlich selbst krank genug und braucht sich nicht erst irgendwoher kundig machen über verkommene Psychen.
Ich danke dem Leser für sein Verständnis und hoffe, ihm mit dieser Studie über den verbrecherischen Verstand etwas Kurzweil bereitet zu haben und dass er das nächste Mal einen Serienmörder erkennt, wenn er ihm gegenüber steht, und die nötigen Vorkehrungen treffen kann. Denn meine Leser sind mir lieb und teuer und ich könnte es mir niemals verzeihen, stieße ihnen etwas zu.
Die Geschichte zweier Liebender
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Es war nachts, ein junger Mann ging in den Park, um sich die Sterne anzusehen. Er setzt sich auf eine der Bänke, die vor Finsternis kaum auszumachen waren, und schaute ins Firmament. Hunderte heller Punkte blitzten dort. Doch nur einem von ihnen gedachte der Jüngling seine ganze Aufmerksamkeit zu widmen.
Die junge Frau zitterte schon kaum mehr vor Kälte, als sie die grasbewachsene Anhöhe hinter dem Haus ihrer Gasteltern hinaufstieg. Trotz der nächtlichen Stunde und kalten Jahreszeit schien es hier draußen doch weitaus milder zu sein als sie zunächst angenommen hatte. Das Mädchen setzte sich auf einen Baumstamm und sah in die Sterne und wusste, dass der, den sie liebte, gerade irgendwo dasselbe tat.
Es fiel dem jungen Mann nicht schwer, den einen Stern am Nachthimmel auszumachen. Sie hatten ihn sich früher oft gemeinsam angesehen, seine Freundin und er, es war „ihr“ gemeinsamer Stern gewesen und er war es noch jetzt. Sie hatte ihm jedes Mal mit flüsternd-andächtiger Stimme erklärt, wohin er schauen und an welchen Sternbildern er sich orientieren musste; über die Sommer war ein Ritual daraus geworden. Und nun hatte der Jüngling die Worte seiner Freundin zur Position des Sterns am Firmament verinnerlicht und fand ihn auf Anhieb.
Die junge Frau wunderte sich ein wenig über sich selbst, während sie den Nachthimmel nach einem Stern absuchte und ihn noch immer nicht fand. Dabei hatte sie ihrem Freund früher unzählige Male gezeigt, wo und wie er zu finden war. Mit bewegtem Lächeln gedachte das Mädchen nun jener Sommernächte, in denen sie gemeinsam auf irgendeiner Wiese unterm Junimond gelegen hatten, um sich ihren Stern anzuschauen. Es war der jungen Frau die schönste aller Erinnerungen. Und wie sie eben jener nun nachhing, fielen ihr auch ihre eigenen Worte von damals wieder ein, als sie ihm die Orientierung am Nachthimmel erklärt hatte, und fand den Stern.
Der Anblick des Stern erfüllte den jungen Mann mit innigster Zufriedenheit, und zu wissen, dass jene, welche er liebte, gerade irgendwo dasselbe sah. Er fühlte sich ihr hier und jetzt so nahe, dass sein Herz zu zerspringen drohte. Doch gleichzeitig durchflutete ihn ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, als könne er es mit dem gesamten Firmament aufnehmen. Oh ja, er wollte für diese Frau die Sterne vom Himmel holen; zumindest diesen einen. Ganz fest wünschte es sich der Jüngling, fixierte dabei den Stern und gedachte seiner Freundin.
Der jungen Frau war, als leuchte der Stern direkt in ihre Seele hinein. Sie fühlte eine stille und zugleich überwältigende Euphorie sich ihrer bemächtigen, spürte, wie das Licht des Stern in ihr wuchs und sie schließlich ganz erfüllte und tief mit dem Einen, für den sie heute Nacht hier hergekommen war, verband. Plötzlich durchfuhr ein stechender Schmerz beide Augen. Das Mädchen blinzelte einige Male erschrocken und stellte dann fest, dass der Lichtpunkt dort am Firmament tatsächlich größer geworden war, er wurde noch immer größer und greller, so dass es ihren Sehnerv angegriffen haben musste: Der Stern schien sich ihr zu nähern. Doch die junge Frau starrte noch immer wie gebannt ins Zentrum seines Leuchtens und vermochte sich nicht zu rühren. Schließlich war er so weit herangekommen, dass sie vom Gleißen seines Lichts erblindete; im nächsten Augenblick fing die junge Frau von der Hitze des vom Nachthimmel rasenden Sterns Feuer, ging in Flammen auf, und schließlich zermalmte sie das einstige Symbol ihrer grenzenlosen Liebe gnadenlose unter sich.
Der junge Mann stand auf und ging. Der Stern war nicht mehr zu sehen, und war er sicher, den erhabenen Moment der Verbundenheit zu seiner Freundin ganz ausgekostet zu haben. Und noch etwas wusste er, vielmehr fühlte es: dass sein Wunsch in Erfüllung gegangen war. Er hatte ihr die Sterne vom Himmel geholt, den Stern. Das wusste er anhand der Wärme, die sein Herz erfüllte.