Teil 2 – Der fremde Mann, der Hof und der Keller
Ich stehe hier und mein Atem scheint zu einem Hamsterfurz verkommen zu sein. Erstens weil er stinkt, und zweitens weil er kaum wahrzunehmen ist. Mir wäre zwar danach, in tiefen Zügen zu atmen, um meiner aufkeimenden Panik gerecht zu werden, aber ich kann nicht. Ich kann einfach nicht. Da steht sie vor mir, diese Tür, diese entsetzliche Tür. Sie ist schwarz lackiert, doch ist vom einstigen Glanz dieses Lacks wenig geblieben. An allen Ecken ist er abgeblättert, und direkt unter dem wabenförmig unterteilten Fenster, das in den oberen Teil der Tür eingelassen ist, löst sich der Lack beinahe völlig auf.
Dieses Fenster, durch das man die meiste Zeit nichts als Dunkelheit sehen konnte, lässt nun ein schwaches Licht durch.
Er ist da unten. Aber, um Himmels willen, er ist nicht alleine!
Die Zigarette des Fremden habe ich ohne Probleme bekommen, und er war so freundlich dabei, dass wir gleich ins Gespräch kamen. Er erzählte mir, dass er noch nie dieses Kaff verlassen hatte, nicht mal in seiner Kindheit, nie! Was muss das für ein Gefühl sein, nichts von der Welt zu kennen als einen einzigen Ort?
Er habe einen Fernseher, das war seine Antwort. Einleuchtend, das mag dem ein oder anderen genügen um die Welt kennen zu lernen. Ich erfuhr, dass er ein großer Filmfan ist, spezialisiert auf romantische Komödien. Er hat wohl jeden dieser Schinken gesehen, von X Hochzeiten bis zu tausend Todesfällen, fragen sie mich nicht, ich hasse Filme.
Aber dafür lese ich, und vor allem schreibe ich, und das interessierte ihn wiederum sehr. Natürlich kannte er nichts von mir, ein Seltenleser hält sich wohl eher an die überall bekannten Autoren. Er zumindest.
Als wir beide merkten, dass es auf der Straße zu kalt war für einen längeren Plausch, schlug er vor, Essen zu gehen. Im einzigen Gasthaus des Ortes.
„Sie wissen auch wirklich, was sie da tun, ja? Einem Wildfremden, der vorgibt, bestohlen worden zu sein, ein Essen auszugeben?“ Es viel mir schwer, mein Gegenüber nicht mit Bolognese Soße zu benetzen, aber ich wollte doch sicher gehen, nicht zum Tellerwaschen verurteilt zu werden.
„Ich finde, sie und ich, wir haben sofort einen guten Draht zueinander gehabt! Das sollte man feiern. Sie sehen aus, als hätten sie schon länger nicht mehr gefeiert! Ist das Leben als Schriftsteller so hart?“ Er musterte mich interessiert, aber auf eine freundliche Art! Alles an diesem Mann strahlte Freundlichkeit und Wärme aus. Was für ein Zufall, so jemanden am Ende des Pfads zu treffen.
„Nein, das Schriftstellerleben ist noch viel härter. Jetzt, da ich weiß, dass ich in wenigen Tagen, vielleicht in wenigen Wochen, sterben werde, geht es mir schon viel besser!“ Ich grinste ihn trotzig an, doch sein zutiefst entsetzter Gesichtsausdruck ließ mein Grinsen mit den Spaghetti zusammen den Hals runter laufen, um dort einen hartnäckigen Knoten zu bilden.
„Tut mir leid, Galgenhumor“, sagte ich leicht erstickt, und es tat mir wirklich Leid. Dieser Mann hatte es nicht verdient, mit meinem wehleidigen Sarkasmus bestraft zu werden. Es genügte schon, mich selbst zu bestrafen. Und mir eine weitere Zigarette anzuzünden.
„Wofür entschuldigen? Dafür, dass sie noch nicht sterben wollen? Da sehe ich keinen Sinn. Ich würde nicht anders reagieren. Ist es…“, er starrte kurz auf meine Zigarette, „…die Lunge?“
Während ich meine Zigarette anhustete, gingen mir schuldbewusste Gedanken durch den Kopf. Hatte ich ein Recht noch leben zu wollen? Ich arbeitete noch immer hartnäckig daran, das Ende zu beschleunigen.
„Ist nicht schwer zu erraten, oder?“
Er schwieg. Ich auch.
Ich sah aus dem Fenster neben mir und mein Blick fiel auf einige Kinder, die draußen Fangen oder etwas Ähnliches spielten. Ich konnte ihr Lachen nicht hören, aber man sah es in ihren Gesichtern. Sie jagten einem dickeren Jungen hinterher, der verzweifelt versuchte, eine Mauer zu erklimmen… erfolglos, denn schon lag er wie eine Schildkröte hilflos auf dem Rücken.
Das Leben wird weitergehen, überall, als hätte es mich nie gegeben.
Meine Exfrau hatte die „Lücke“, die ich hinterlassen haben mochte, schnell gefüllt mit einem Marktleiter der örtlichen Dschinghis-Filiale. Dschinghis – alles für die Frau. Hätte ich geahnt, wie weit diese Werbeslogan zu deuten ist, hätte ich ihr nie jahrelang Weihnachtsgeschenke dort besorgt. Egal… Vergangenheit, so wie ich bald Vergangenheit sein würde. Keine Kinder, keine Brüder und Schwestern. Die Eltern schon lange begraben.
„Es ist gut so, oder nicht? Dass sie immer ihre Spiele spielen werden, und das im Herbst immer die Blätter fallen werden!“ Ich sah ihn verloren an, denn ich fühlte mich verloren. Ich wollte, dass mich jemand findet und nach Hause bringt. Wo immer das sein mochte.
„Ja, ich denke das ist gut so.“ Ein freches Grinsen huschte über sein Gesicht.
„Was? Was ist so lustig?“
„Ich denke außerdem, dass man merkt, dass sie Schriftsteller sind! Sie denken zu viel!“
Ich lachte, ich lachte laut und herzlich, und bald fiel er mit in das Lachen ein, und ich ließ mir das Lachen auch nicht von meinem schmerzhaften Hustenanfall oder dem besorgten Gesichtsausdruck des Mahlzeitspenders vermiesen. Ich lachte weiter, bis mir die Tränen kamen, ob aus Schmerz oder Freude war mir egal, ich wollte lachen.
„Und hier soll ich wohnen? Sind sie sicher?“ Ich sah ihn zweifelnd an.
„So lange sie möchten! Der Hof hier gehört mir, seit meine Eltern vor 10 Jahren starben, und ich habe hier sonst niemanden. Sie sehen, wir haben einiges gemeinsam. Aber ich werde keinen namenlosen Mann hier wohnen lassen.“
Er streckte seine Hand aus, und ich ergriff sie ohne Zögern.
„Bill Vincent Waltersen, aber ich denke Bill reicht!“
„Friedel Jameson, aber ich denke Todgeweihter reicht!“
Er sah mich ruhig an. „Ich bevorzuge Friedel… auch wenn es ein ungewöhnlicher Name ist!“
Wieder musste ich lachen, und ich war froh, diesen Mann und diesen Ort gefunden zu haben.
Der Hof lag abseits des Dorfes, und es gab hier, jenseits der wenigen Felder, Wald so weit das Auge reichte. Ein schöner, ruhiger Platz, um mit den Dingen ins reine zu kommen, hoffte ich.
Die erste Nacht war großartig für mich, denn zum ersten mal seit langem schlief ich an einem Stück durch. Keine Alpträume, keine Ängste. Dieser Ort hatte etwas magisches an sich, etwas, das mir mein Leben erleichterte.
Bills Frage während des Frühstücks, ob mich in der Nacht auch kein Lärm gestört hätte, konnte ich sichtlich zu seiner Zufriedenheit beantworten.
„Schön, dass es dir hier gefällt! Wir werden gleich mal einen Rundgang machen. So kann ich dir alles hier mal etwas vorstellen!“
Ich aß mein Frühstück fertig, Rührei mit Bauernbrot… und raten sie was: Keine Bauchschmerzen seit langem!
Der Rundgang war sehr interessant. Es gab einen Schuppen, in dem Hühner ihre Arbeit verrichteten, und sogar eine Wiese mit einigen wenigen Kühen. Kein Schlachtvieh, wie er mir verriet, reine Milchversorgung. Ich probierte etwas frische Milch und musste mich übergeben. Ich glaube nicht, dass es an der Milch lag, viel eher wollte mich mein Körper wohl daran erinnern, das nichts mit mir in Ordnung war, so sehr ich es hier auch glauben mochte. Doch ich hörte meinem Körper nicht zu, genauso wenig wie ich auf die Schreie der Zigarettensucht achtete. Seit ich hier angekommen war, hatte ich keine Zigarette mehr berührt. Und darauf war ich auch etwas stolz! In meinem Leben hatte ich das bisher nur einmal geschafft, und das auch nur, weil es auf der sinkenden Fähre, auf der ich mich zu dem Zeitpunkt befand, und dem dazukommenden Rettungsboot keine Zigaretten gab. Aber das ist eine andere Geschichte.
Schließlich neigte sich unser Spaziergang dem Ende zu, als ich eine Scheune erblickte, die unter einem Haufen von Ästen versteckt und mit einer dicken Schicht von Moos überwachsen kaum zu erkennen war.
„Was ist das da für eine Scheune?“ Kein Husten? Ich machte Fortschritte.
„Ach das… ich hatte sie fast vergessen. Diese Scheune war… mein Bruder lebte dort. Aber das ist lange her.“ Der unruhige Tonfall und der verkniffene Gesichtsausdruck von Bill verrieten mir, dass ihm die Angelegenheit unangenehm zu sein schien. Trotzdem musste ich nachhaken. Diese Hütte schien so gar nicht zum Rest des Geländes zu passen. Sie beunruhigte mich, gleichzeitig zog sie mich auf eine finstere Art und Weise an… wie eine Schachtel Zigaretten, von der man weiß, dass sie einem den Rest geben wird.
„Dein Bruder lebte in einer Scheune? Ist das nicht ungewöhnlich? Wo ist er heute?“
Doch schon als ich ihm die Frage stellte war mir die Antwort klar.
„Er ist tot. Und er lebte dort weil… er anders war.“ Bill atmete tief durch und sah gedankenverloren zur Scheune.
„Heute ist dort nur noch der Eingang zu den Kellern. Aber da ist nichts. Ich gehe nicht mehr dort hin.“
Nun sah er mich direkt an.
„Und, nimm es mir nicht übel, ich rede auch nicht mehr darüber.“
Als wir weiter gingen, spürte ich ein Frösteln, das über meinen Körper kroch. Mir war, als würde uns die Scheune hasserfüllte Blicke nachwerfen.