Ich habe mir mal erlaubt, die Geschichte selbst weiterzuspinnen. Sorry Andreas, du hast mir einen inspirativen Kick gegeben.
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Die Sonne warf ihre letzte Strahlen gen Terra, es wurde langsam düster und kühl. Wie von Geisterhand berührt, erwachte der Mann, der auf der Parkbank wie im Koma lag. Seine Augen waren unnatürlich weit aufgerissen, das von Falten zerfurchte Gesicht zu einer Fratze verzogen. Es schien ein Alptraum gewesen sein, den er durchlitten hat. Verdutzt setzte er sich auf, schaute sich um, der Blick rat- und hilflos. "Wo bin ich hier?", hörte man ihn leise stammeln, "Wie bin ich hierher gekommen?".
Unbeeindruckt von der Grübelei des Mannes pfiff der Wind immer stärker und stärker, wirbelte spielerisch Blätter auf, die an diesem nebligem, unreal wirkenden Herbsttag gefallen sind, und immer liess er wissen: binnen Sekunden könnte er gewaltige Kräfte entfesseln. Mittlerweile stand auch der Mann wieder auf den Beinen, leicht benommen schwankte er zunächst, konnte sich jedoch nach kurzer Zeit stabilisieren. Langsam gelang es ihm, wieder ungetrübte Gedanken zu fassen. Ohne zu wissen, wie er agierte, was sein Ziel war, wohin ihn dieser Kieselweg führen möge - er lief einfach gemächlich los und tapste unsicher in den dichten Nebel. Immer wieder wurde sein Blickfeld milchig, immer wieder rang er mit sich selbst - immer wieder behielt er dennoch die Oberhand.
Es mochten Stunden vergangen sein, er wusste es nicht. Der Nebelschleier lichtete sich während er den Pfad hinab gewandert war, und weiterhin war er nicht in der Lage zu erahnen, wohin ihn sein unfreiwilliger Spaziergang führt. Er hat nur eine Intuition, dass er nicht falsch sein kann, dass er einen Ort finden würde, an dem er geborgen und geschützt war. Natürlich versuchte er in seiner misslichen und apathischen Situation kontinuierlich den Tag zu rekonstruieren, doch es glich einem Kampf gegen Windmühlen. Immer wenn er sicher war, auf einer Fährte zu sein, die Hoffnung hatte, eine Erinnerung könne sich manifestieren, immer dann rissen neue Löcher in seinem Gedächtnis auf. Auch wenn er nie erfolgreich war, er gab nicht auf. Die Farbe Schwarz hätte am ehesten seine Reminiszenz symbolisiert, trotzdem liess ihn das unbeeindruckt.
Weitere Stunden mochten vergangen sein, als er an einem kleinen See saß und sein Spiegelbild betrachtete. Der Nebel der Dämmerung hatte sich aufgelöst, die Nacht war klar. Sterne funkelten wunderschön am Firmament und der Mond entfaltete seine ganze Helligkeit und Pracht. Still blickte er in das Gewässer, sog die Geräusche der Nacht in sich auf und durfte sogar eine Eule beobachten. "Wahnsinn", dachte er, "ich habe keine Eule mehr gesehen, seit ich als kleiner Junge mit meinem Opa zelten war." Ergriffen beobachtete er das Tier, konnte den Blick nicht abwenden, bis der König der Nacht sich mit einem kleinem, widerspenstig klingendem Ruf auf die Jagd machte. Müde richtete sich der Mann auf, er hatte genug gerastet. Die Sonne kündigte sich wieder an, eine leichte Rötung am Himmel liess auf einen baldigen Aufgang des Feuerballs schliessen.
Es war nur eine Ahnung, doch der Mann spürte, dass seine Odysee bald ein Ende haben würde. Er kam mittlerweile auf einer Hauptstraße an; die ersten Wagen rauschten an ihm vorbei. In der Nacht hatte er mehrere Dinge in seiner Tasche entdeckt: Einen Schlüssel, Taschentücher, eine Visitenkarte eines Versicherungsvertreters. Dürftig, aber es war ausreichend. Die aussichtslose Krämerei in seinen Memoiren hatte ein Bild eines beschaulichen Wohnblocks in ihm hervorgerufen. In der Gedankenwelt wusste er genau, dass sein Schlüssel diese Tür öffnen würde, er wusste genau, wieviele Stufen zu erklimmen waren um nach Hause zu kommen. Er wusste nicht ob dieser Ort sein Zuhause war, er war sich nicht sicher, doch er verliess sich weiter auf seinen Instinkt.
Endlich hatte er es erreicht. Seine Füße trugen ihn tatsächlich zu dem Haus seiner Fiktion. Hastig und aufgeregt stöberte in seiner Jacke nach dem Schlüssel. Ihm kam es vor wie eine Ewigkeit, bis er das Objekt seiner Begierde in seiner schweissnassen, glitschigen Hand gekrallt hatte. Zitternd versuchte er den Schlüssel zu benutzen - und tatsächlich, die Tür schwang auf. Keuchend kämpfte er sich Stufe für Stufe immer höher, fast bis in den letzten Stock. Sein Hinterkopf pochte merkwürdig, die Torturen der Nacht hatten Spuren hinterlassen - er war der Ohnmacht nahe.
Er stand vor der Tür. War dies sein zu Hause? Es musste es einfach sein! Ihm fiel auf, dass er hierfür aber keinen Schlüssel hatte. Der einzige Schlüssel seines Besitzes war der Haupttürschlüssel. Blinzelnd las er das Namensschild auf der Klingel. Nach einem kurzen Schütteln betätigte er jene auch endlich. Es passierte ... nichts. Verzweifelt klingelte er nochmal. Aber nichts regte sich. Tränen stiegen ihm in die Augen, er malträtierte den Knopf ein weiteres Mal, ausdauernder in seinem letzten Versuch. Enttäuscht wendete er sich ab. Er war im Begriff zu gehen, als er aus dem Hausflur Schritte vernahm...
Ein gellender Rington liess sie aufhorchen. Die beiden vorher, waren diese gar kein Traum gewesen? Ihr Blick huschte instinktiv auf die Digitalanzeige ihrer Armbanduhr. 5:24 Uhr am Morgen, konnte er das sein? Sofort sprang sie vom Sessel auf, in dem sie während des ungewissenen Wartens in der Nacht erschöpft eingeschlafen war. Doch alle Müdigkeit war auf einmal wie weggewischt. Sie war in Rage. "Wo hat er sich herumgetrieben? Wieso ist er abgehauen? Ich sterbe hier vor Sorge, während dieser egozentrische Idiot mich hier einfach zurücklässt!". Die Gedanken, die Wut, die Sorgen, die Ängste die sie die ganze Nacht angesammelt hatte, putschten sie auf, brandeten in ihr wie eine riesige Welle. Mit Tränen in den Augen lief sie zur Tür, bereit diese sofort aufzureissen und ihren Mann anzubrüllen, bereit, die Emotionen die sich angestaut hatten, mit einem Mal zu entladen.
Schwungvoll knallte die Tür auf, er drehte sich ruckartig um. Müde erkannte er eine Person, die verängstigt und fertig aussah. Das Gesicht eingefallen, als hätte große Furcht an ihm gezehrt. Doch er erkannte sie wieder: es musste seine Frau sein. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, er drehte sich und gab seine gebückte Körperhaltung mit einem Mal auf.
Das war er! Sie wollte ihn sofort anschreien. Ihm fiel wahrlich nichts besseres ein, als sich umzudrehen und zu lächeln! Sie war bitter erbost über diese Dreistigkeit. Sie öffnete den Mund als er sich zu ihr drehte, doch sie brachte kein Wort heraus. Das vertrocknete Blut an seinem Hals raubte ihr die Worte. Kraftlos stand sie da, der Mund immernoch geöffnet und wie vom Blitz getroffen. "Du, du, du blutest!". Sie nahm ihn in den Arm, befühlte seinen Hinterkopf. Als sie die Wunde berührte, zuckte er zusammen. Hilflos wie zwei Kinder umarmten sie sich, beide froh sich wieder zu haben. Sie führte in herein und zwang ihn sanft, sich auf der Couch nieder zu lassen. Danach stürzte sie an ihr Telefon, um die Nummer ihres Spitals zu wählen.