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Ritter
Sambikisaru
Sambikisaru
nichts Böses hören, nichts Böses sehen, nichts Böses sprechen
„Er schreibt es auf.
Schon lange vorgenommen, doch nie gewagt, soll es nicht länger bleiben.“
(aus: „Brücke“, von Andreas Martin Weber)
„Je länger einer lebt, desto aufdringlicher wird die Wirklichkeit und gleichzeitig umso uninteressanter, weil es soviel davon gibt.“
(aus: „Ein Lied von Schein und Sein“, von Cees Nooteboom)
Kapitel 1 – Die Heilung des Gelähmten
Erster Tag des betreffenden Monats:
„Warum? Warum?“, immer wieder dieses eine Wort: „Warum?“.
Ingolf lief kopfschüttelnd im Aufenthaltsraum des Erik-Reincke-Hauses, einer Nervenheilanstalt am Ende der Welt, eine halbkreisförmige Bahn zwischen Fernseher und Tür auf und ab. Dabei kratzte er sich abwechselnd an Kopf und Nasenrand, was ihn, zusammen mit seinem seit jeher weißen Haar, eher wie einen Wissenschaftler aussehen ließ, der gerade überlegte, wie er seine Rede über die Einstein-Rosen-Brücke beginnen sollte, als einen geistig Behinderten, der erst vor einer Stunde Beruhigungstabletten zu sich genommen hat. Der Rest der - zu jedem Zeitpunkt, seit Errichtung des Hauses - an die fünfzehn Patienten beachtete ihn nicht weiter. Es war mal wieder Zeit. Sein letzter „Zweifeltag“, wie ihn die anderen Patienten nannten, lag schon über einen Monat zurück. „Geh’ vom Fernseher weg!“, schrie ihn Paul, ein kräftiger, etwas übergewichtiger Kerl, mit scheinbar ständigen Schweißflecken auf seinem grauen Hemd, an. Ingolf bekam also doch noch Beachtung. „Warum? Warum?“ „Weil das meine Lieblingsserie ist, du Mond!“ „Mond“ war Pauls Lieblingsbeleidigung, die immer dann zum Einsatz kam, wenn er eigentlich guter Laune war, was er allerdings nach Kräften zu verbergen versuchte, da er mit seinem Image als rauer und gefühlsloser Irrer sehr zufrieden war. Nun wühlte auch er sich im Haar herum, das im Gegensatz zu dem von Ingolf schwarz wie die Nacht war. „Bitte, vertragt euch doch! Ich spüre schon ganz schreckliche Schwingungen in diesem Raum!“, warf Oskar, das Sensibelchen der Anstalt, ein blonder Winzling nach jedem Klischee, ein. Oskar war so harmonieversessen, dass ihn seine Frau vor Jahren rausgeworfen hatte. Was danach kam, war ein steter Abstieg in allen möglichen Bereichen seines Lebens, der im Erik-Reincke-Haus zum Abschluss fand. „Ich zeige dir gleich mal eine Schwingung!“ Paul hatte wie immer keine Lust auf Diskussionen. „Warum?“, schmiss Ingolf weiter in den kleinen Raum. Darauf konnte Oskar anspringen: „Weil er keine Liebe in sich trägt!“ Dieser Satz reichte aus, um Ingolf aus seiner Monotonie herauszureißen. Er war nie geistig abwesend genug, um nicht beim Wort „Liebe“, wenn es aus Oskars Mund kam, fluchtartig das Weite zu suchen. Mit einem halblaut vor sich hin gesagten „Oh, nein!“, lief er aus dem Zimmer, Richtung Küche. „Die Liebe wird uns alle erlösen!“, fuhr Oskar fort. „Nur mit ihr werden wir den Weg ins Paradies finden!“ Dabei fuchtelte er mit seinen Beinahe-Wurstfingern theatralisch in der Luft herum, was zunehmend den Eindruck eines mittelalterlichen Alleinunterhalters entstehen ließ. Paul fing laut an zu lachen. Oskar sagte so etwas zwar alle paar Tage, aber er konnte trotzdem jedes Mal wieder Belustigung daran finden. Auch wenn er es nie gestanden hätte, aber Paul mochte Oskar. Ihm kam es vor, als würden Oskars Ausbrüche einen gewissen Ausgleich in seinem Innern bewirken. Aber das war ihm nur im Unterbewussten klar und dessen Einfluss reichte nicht aus, um sich ein „Hallo Oskar! Lies von meinen Lippen!“ zu verkneifen. Danach formte er mit dem Mund langsam das Wort „Hass“. Im Nebenzimmer hörte man leise das keuchhustenartige Weinen von Ingolf.
Zweiter Tag des betreffenden Monats:
Frühstück. Er hasste Frühstück. Elmar würgte die Mahlzeit langsam herunter. Um diese Zeit zu essen, hatte schon immer Unzufriedenheit und Aggressionen in ihm geweckt. Nicht, dass er ein aggressiver Mensch war, ganz und gar nicht. Man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass er einer der friedliebendsten Menschen auf Erden war. Auch sah er immer sehr gepflegt und ausgeglichen aus, was ihm vor langer Zeit einmal den Spitznamen „Engel“ eingebracht hatte. Nur war er ein ausgesprochener Langschläfer, den nichts mehr störte, als früh aufzustehen. Wahrscheinlich hätten sich die Pfleger äußerst gefreut, wenn er herumgeschrieen hätte, man solle ihn gefälligst schlafen lassen, aber er hatte seit Jahren keinen Ton mehr von sich gegeben. Die einzigen deutlichen Zeichen, die man bei ihm erwarten konnte waren Kopfnicken und –schütteln, denn selbst seine Mimik sprach eher von einem angeborenen Grobmotoriker als von einem Feingeist, der er aber nichts desto trotz war. „Morgen, Mond!“ Paul setzte sich immer zu Elmar, weil es ihm gefiel, dass er nicht redete. Schließlich hatte er ja selber genug zu reden. Als „Prinz des Wortes“ würde er sich wohl vorstellen, wenn das nicht allzu offensichtlich von Humor zeugen würde und er überhaupt mal jemand unbekanntes hier zu Gesicht bekommen würde. Kaum hatte er sich gesetzt, war sein Teller auch schon fast leer. Wenn man ihn so sitzen sah, mit seinem grimmigen Blick und den dunklen Augenbrauen, die sein Gesicht stets finster hielten, hätte man ihn vermutlich eher für einen Sträfling gehalten, als für den Patienten einer psychiatrischen Einrichtung. „Was für ein schreckliches Zeug das ist.“, beklagte er sich noch halbherzig, während er die letzten Brotkrümel vom Teller pulte. Am Tisch hinter ihnen murmelte jemand eine Art Gedicht:
„Die Ohren rund, die Augen klein,
ja das ist mein Bärchilein.
Keine Sorgen, keine Pein,
denn du wirst immer bei mir sein.
Vieles hängt bei dir auf halb Acht,
doch warst du bei mir Nacht für Nacht.
Schöne Träume brachtest du mir,
dafür danke ich dir.
Bist als Freund immer bei mir,
bist Vertrauter stets hier.
Als Tröster der Not fängst' Tränen auf,
so nahm doch die Zeit ihren Lauf.
Und weiß ich mal nicht weiter,
drück' ich dich ans Gesicht.
Erst Tränen weggewischt,
dann bin ich wieder heiter.
Nur einmal wollt' mein Bärchilein
auf Reisen über Stock und Stein.
Es klemmte sich im Fenster ein
und ich pflegte mein Bärchilein.“
„Hörst du das, Elmar? Der redet von seinem Teddy! Durch Deutschland muss ein Ruck gehen! Und der redet von Teddies!“ Elmar hatte nicht die Spur einer Ahnung, wovon Paul da redete, ehrlich gesagt war es ihm aber auch egal. Dann, plötzlich ganz leise, lehnte Paul sich zu ihm herüber und flüsterte: „Aber ich durchschaue die. Wenn alles auf mein Kommando hört, dann kann nichts mehr schief gehen. Ja, Elmar. Der große Wurf kommt noch, warte es nur ab! Im Ausland haben sie Flieger. Und Türme! Du würdest dich wundern, was es alles gibt, mein Freund. Aber ich habe es gesehen! Im Wald war ich Pilze sammeln, als es plötzlich über mir erschien! Es war… Ich habe…“, er fing an zu schwitzen. „…ich habe das Wissen. Hörst du mich? Du musst nur auf mich hören. Dann wird alles gut. Nur auf mich hören musst du, genau wie alle anderen auch. Verstehst du mich?“ Elmar nickte gleichgültig. „Erinnere dich an meine Worte!“ Dann lehnte Paul sich wieder zurück in den Stuhl, nur um kurz danach aufzustehen und einem anderen Patienten, Frank, einem kleinen Kerl mit Brille, der glaubte, Flugzeugmechaniker des dritten Reiches in sowjetischer Gefangenschaft zu sein, seinen Teller wegzunehmen.
Dritter Tag des betreffenden Monats:
Frank hatte es nicht verkraftet, dass ihm der Teller geklaut worden war. Er war lauthals davongelaufen und im Aufenthaltsraum gestolpert. Sein Kopf wurde dabei mit voller Wucht in das kleine Aquarium, das sie seit ein paar Tagen hatten, gerammt. Am nächsten Tag erschien er nicht mehr zum Frühstück. „Habt ihr gehört, was mit Frank passiert ist?“, fragte Oskar, ohne sein Essen auch nur anzusehen. „Sie haben ihn wegbringen müssen.“ „Wohin?“, wollte Ingolf wissen, der beim Unfall dabei gewesen war und den anderen von einem roten Ritter, der Franks Hinterkopf entlang flog, berichtet hatte. Er wartete die Antwort aber nicht mehr ab und ging aus dem Raum. Oskar schien das gar nicht zu bemerken. „Weiß ich nicht, aber auf jeden Fall weg von hier.“ Paul sagte kein Wort. Auch wenn er es nicht offen zugeben wollte, hatte er so etwas wie Schuldgefühle.
Vierter Tag des betreffenden Monats:
„Petrus aber und Johannes gingen hinauf in den Tempel um die neunte Stunde, zur Gebetszeit. Und es wurde ein Mann herbei getragen, lahm von Mutterleibe; den setzte man täglich vor die Tür des Tempels, die da heißt die Schöne, damit er um Almosen bettelte bei denen, die in den Tempel gingen.“ Kathrin las wieder aus der Bibel vor. Elmar wusste nicht, wie lange sie das schon tat. Als er ins Haus kam, war es schon Gewohnheit, dass sie jeden Freitagabend vorbeikam. „Als er nun Petrus und Johannes sah, wie sie in den Tempel hineingehen wollten, bat er um ein Almosen. Petrus aber blickte ihn an mit Johannes und sprach: Sieh uns an! Und er sah sie an und wartete darauf, dass er etwas von ihnen empfinge.“ Auch Oskar hörte ihr zu. Elmar, Paul und er waren so etwas wie Kathrins Stammgäste. Sie hatte eine sehr weiche und ruhige Stimme. Ihm kam es vor, als würde sie für die Zeit, in der sie vorlas, selbige anhalten. Ihr braunes, halblanges Haar erinnerte ihn an eine Werbung, die er mal gesehen hatte. Worum es ging, war ihm schon wieder entfallen, aber immer wenn Kathrin freitags den Aufenthaltsraum betrat, musste er daran denken, wie die Frau in der Werbung dieses Haar geschüttelt hat, dieses zum Schütteln eigentlich zu kurze Haar. Günther, Oskars Zimmergenosse, hatte Kathrin einmal gefragt, warum sie jede Woche wieder ins Haus kam, um zu lesen und ob sie denn nichts Besseres zu tun hätte. Sie soll wohl rot angelaufen sein und das Zimmer verlassen haben. Oskar wusste jedoch nicht, wie weit er dem Glauben schenken sollte, da Günther ihm auch schon mal erzählt hatte, dass Kathrin ihn öfters nachts besuchen würde, während er, Oskar, tief und fest schlief. Als Günther das erzählt hat, hatte sich Oskar verkniffen gehabt zu fragen, warum sie denn nachts zu ihm kommen sollte. Er wollte ja keinen Streit. „Petrus aber sprach: Silber und Gold habe ich nicht; was ich aber habe, das gebe ich dir: Im Namen Jesu Christi von Nazareth steh auf und geh umher!“ Plötzlich tippte ihn jemand sanft von der Seite an. Es war Elmar. Nachdem Oskar ihn stirnrunzelnd eine weile anstarrte, deutete er in Richtung Paul. Tatsächlich war Oskar sehr überrascht von dem was er sah. Paul saß da, mit weit aufgerissenen Augen und schien absolut in der Geschichte gefangen zu sein. Bei jemand anderem wäre das nicht weiter verwunderlich gewesen, aber Paul hörte eigentlich nie wirklich zu. Oskar glaubte, dass er auch deswegen hier war. Weil er seine Umwelt nicht akzeptierte, sie nur soweit wahrnahm, wie er gerade wollte. „Und er ergriff ihn bei der rechten Hand und richtete ihn auf.“ Auf einmal sah Paul zu den beiden anderen rüber. Sein Schweiß floss wieder einmal in Strömen. Dabei riss er seine Augen noch weiter auf, als sie es ohnehin schon waren und deutete den beiden, weiter zuzuhören. Das taten sie. „Sogleich wurden seine Füße und Knöchel fest, er sprang auf, konnte gehen und stehen und ging mit ihnen in den Tempel, lief und sprang umher und lobte Gott.“ Langsam glaubte Oskar zu verstehen, was Paul so fesselte. „Und es sah ihn alles Volk umhergehen und Gott loben. Sie erkannten ihn auch, dass er es war, der vor der Schönen Tür des Tempels gesessen und um Almosen gebettelt hatte; und Verwunderung und Entsetzen erfüllte sie über das, was ihm widerfahren war. Als er sich aber zu Petrus und Johannes hielt, lief alles Volk zu ihnen in die Halle, die da heißt Salomos, und sie wunderten sich sehr.“ Noch denselben Abend beschlossen die drei, auszubrechen.
Geändert von Serpico (22.08.2004 um 07:35 Uhr)
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