Grob peitschte Wasser in sein Gesicht, überspülte das liederlich zusammengebundene Floss und seine Füsse, die nach Halt suchten. Mit aller Kraft, was nicht mehr gerade viel war, paddelte er in Richtung Ufer. Doch er schaute nicht ein einziges Mal auf, um sich zu vergewissern, ob das Ufer tatsächlich vor ihm war. Vor den brennenden Augen flackerten wirre Bilder seiner Universität, der Familie, und ein erschlagend grosses Kalenderblatt mit dem heutigen Datum: 27. Juli. Seine aufgeweichten Füsse schmerzten und manchmal glaubte er zu sehen, wie sich unter ihnen Blut mit Wasser vermischte. In seinem Kopf pochte das Blut stechend, doch das war er mittlerweile gewohnt. Sein ganzer Körper fühlte sich kraftlos an und es schien ihm, als würde durch seine Anstrengungen direkt die Muskelsubstanz aufgebraucht. Doch diese ganze Szenerie und der Schmerz fühlten sich irreal an.
Sein Blick verliess den Körper und sah ihn nun von weit weg, gegen einen reissenden Strom kämpfen, der sich weiter vorne in die bodenlose Tiefe eines Wasserfalls hinunterstürzte. Ringsum war nur eine grüne Einöde, unwegsamer Urwald. Aber dennoch: festes Land. Solange man festes Land unter den Füssen hat, geht es weiter. Und solange es weitergeht, besteht Hoffnung. Gebannt starrte er sich selbst zu, wie er gegen die unbändige Macht der Wassermassen kämpfte. Nein, bändigen würde er sie niemals können, aber vielleicht konnte er ihnen wenigstens entkommen? Seine letzte Hoffnung, der letzte Halt zerschellte an einem Felsen, der scharf und beständig aus der Flut ragte. In hohem Bogen wurde er ins Wasser geworfen, von einem Strudel erfasst und er verlor sich aus den Augen. Irgendwo unter ihm wurde sein Körper von seelenlosen Gewalten hin und her und gegen Steine geworfen. Doch er tauchte nochmals auf, schlug wild um sich, doch ohne Hoffnung, ohne Ziel. Die Kraft verliess ihn beim Wasserfall. Ihm schwanden die unwirklich anmutenden Sinne vollends, als er in die Tiefe geschleudert wurde.
Blitzartig kommt er zu sich. Der Blick springt sofort auf die Uhr: zu spät. Benommen reibt er die brennenden Augen und vergräbt dann seinen pochenden Kopf in den Armen, wie um sich vor dem Chaos, das ihn umgibt zu beschützen. Dabei war dieses Chaos sein Zuhause. Schonend steht er auf, sucht sich wankend einen Weg durch benutzte Wäsche und unberührte Studienunterlagen zu seinem Computer und überprüft das Datum: 27. Juli. Beim nächsten Schritt in Richtung Badezimmer zerbricht eine CD-Hülle unter seinen nackten Füssen und er zuckt vor Schmerz zusammen. Nach einer halben Stunde unter der Dusche, wirft er noch einen Blick in sein Zimmer und wünscht, dass dieser sein letzter wäre. Mit Mühe widersteht er der Versuchung mit den Streichhölzern aus der Küche die Vergangenheit zu vernichten. Während ihn draussen die Helligkeit der Sonne quält, ist er froh darüber, kein Feuer gelegt zu haben: sein Kopf protestiert und ist alles andere als klar, aber er funktioniert noch. Er kann noch vernünftige Entscheidungen fällen. Seine nächste vernünftige Entscheidung ist ein wenig zu spazieren. Ohne sein Zutun bringen ihn seine Füsse direkt zur Uni. Er betrachtet sie, wie eine Sehenswürdigkeit. Ein wichtiges Gebäude aus vergangenen Zeiten. Da die Prüfungen bald vorüber sein werden, geht er weiter. Gegen Abend würde er einige Telefonate erledigen und wenn es ging schon morgen das Wichtigste aus dem Heim seiner Vergangenheit entfernen.
Zwei Wochen später betritt eine Räumungsmannschaft die verlassene Wohnung, flucht über das Chaos und befördert eine Menge Gerümpel und wenige nützliche Dinge hinaus.