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Thema: Flashback

Baum-Darstellung

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  1. #1

    Flashback

    FLASHBACK


    ERSTES BLUT

    Das lautlose Fallen von Regentropfen ist ein Geheimnis, in dem sich tausend Facetten der Welt spiegeln. Aus einem dunklen Himmel ausgestoßen fallen sie, vom Wind getrieben und der Schwerkraft der Erde angezogen, dem Boden entgegen. Unter ihnen breiten sich die Wolken aus, zerfließen und geben den Blick auf eine Stadt frei, eine dunkle und große Stadt, die sich bis zum Horizont zu erstrecken scheint. Funkelnde Lichter durchziehen die Stadt wie ein Netz, Straßen führen durch Schluchten von Hochhäusern, und in der Nacht scheinen die Schatten zwischen den grauen Bauwerken undurchdringlich. Der Gestank des Wahnsinns liegt über dieser gepeinigten Welt, die Geräusche einer verängstigten und gehetzten Gesellschaft dringen zu den Wolken hinauf. Eine Gesellschaft, die unter dem ständigen Druck ihrer fordernden, geifernden und doch aus sich selbst entstandenen Verpflichtungen leidet. Eine kranke Mutter, die Monster gebärt.
    Der Tropfen fällt weiter herab, während die Stadt sich ihm entgegenzustrecken scheint, sich öffnend wie der Schoß eines dreckigen, verdorbenen Dämons. Als der Tropfen vom Dunkel der Schatten verschlungen wird, stürzt er an einem Hochhaus vorbei, gibt Einblick in dessen Fenster und damit auf die allgegenwärtige Gewalt, Enttäuschung, Angst und Verzweiflung. Auf Kinder, die sich beim Streit ihrer Eltern die Ohren zuhalten, um in eine bessere Welt zu flüchten, auf einen Mann, der eine Waffe anstarrt, und versucht, mit dem Leben in dieser Trostlosigkeit abzuschließen. Auf Liebende, die sich in dem Irrglauben trösten, das Glück in dieser erbarmungslosen Welt gefunden zu haben. Eine Liebe, die der Zeit und dem Untergang ebenso unterlegen ist wie alles Gute, das dieser Ort jemals hervorgebracht haben mag.
    Dann stürmt der Tropfen dem Asphalt entgegen, der schwarze, schmierige Belag und die Saat, aus der das steinerne Monster gewachsen ist, der ölige Grund, auf dem dieser Moloch der Verzweiflung errichtet wurde. Dann, kurz vor dem Aufschlag, spiegelt sich das Gesicht einer Frau tausendfach in dem Tropfen, eine hübsche und doch müde Frau, mit herabhängendem Haar, einsam auf einer endlosen, schattigen Straße, in der das Licht verschluckt zu sein scheint. Der Tropfen fällt weiter, und eine Silhouette hinter der Frau erscheint auf seiner Oberfläche, unauffällig, vorsichtig... und wahnsinnig.
    Der Tropfen zerspringt ebenso lautlos wie er gefallen ist, ohne von der Frau bemerkt zu werden. Doch wie hätte sie einen Tropfen bemerken sollen, wo sie doch nicht einmal den Schatten hinter sich bemerkte, den Mann, der ihr folgte?
    Sie bemerkte gar nichts, war verloren in der Eintönigkeit der dunklen Stadt, dem Gleichklang tausender zerberstender Regentropfen, der Erinnerung an einen beschissenen Tag.

    Womit hatte sie es verdient, von ihm verlassen zu werden? Henry hatte immer vorgegeben, sie zu lieben. Immer hatte von ihrer gemeinsamen Zukunft gesprochen, doch an diesem Samstag war alles vorbei. Mit einem Schlag, ohne Vorankündigung.
    Maria war noch immer zu geschockt, um wirklich weinen zu können. Henry wollte raus aus der Stadt, das war alles gewesen. Er wollte weg.
    Sie konnte nicht gehen, sie wollte nicht gehen, wie hätte sie auch die Kinder im Stich lassen können, die sie unterrichtete? An dieser Schule gab es fast nur noch demotivierte Lehrer, die sich einen feuchten Mist darum kümmerten, was aus den Kindern wurde. Es interessierte sie nicht, sie wollten nur ihr Geld, und was die Zukunft ihrer Schüler anging, da hielten sie es eins mit der Meinung von Henry, dass es in dieser Stadt keine Zukunft gab, also was solls?
    Aber nicht sie. Sie konnte so nicht denken, sie war noch jung, zu jung um aufzugeben.
    Die Kraft, die sie mit diesem Gedanken aufbrachte, war ihr nicht bewusst und dennoch gewaltig, denn es gelang ihr so etwas Positives der allgegenwärtigen Traurigkeit entgegen zu stellen. Sie war nicht nur jung, sondern auch hübsch, soviel Selbstbewusstsein musste sie zulassen, und sie war zu hübsch um nach Henry gleich aufzugeben.
    Und doch war es Henry, der ihr auf dem Weg die dunkle Straße entlang im Kopf rumspukte, der Grund, aus dem sie nicht merkte, dass sie verfolgt wurde. Und hätte sie es bemerkt, hätte sie gerade jetzt in dem Laden links von ihr, einem heruntergekommenen Beispiel für ein Cafe, einkehren können um ein Taxi zu rufen. Stattdessen ging sie weiter, wie ein nichtsahnendes Lamm dem Wolf in die Falle geht.

    Und ein Wolf... ja, es waren die Instinkte eines Wolfes, die ihn trieben. Nur eine verschwommene Sicht, verschwommene Gedanken, aber ganz klar das Bedürfnis nach Fleisch, nach Blut, nach Schmerz und Angst. Als hätte ihm die Stadt nicht genug davon geben können, dürstete es diese Gestalt nach Gewalt und Verzweiflung. Keine Menschen nahm sie war, nicht die Leuchtreklame des Cafes, das „French Coffee“ verkündete, nur die Frau, die vor ihr herging, ihr Geruch, ihre Hilflosigkeit.

    Maria wusste nicht genau, wie es jetzt weitergehen sollte. Nach dem Gespräch mit Henry, was man so als Gespräch bezeichnet, musste sie erst mal an die frische Luft, musste atmen, frei sein. Daher entschied sie sich zu Fuß nach Hause zu gehen, auch wenn es schon dunkel und regnerisch war. Der Regen tat gut. Er ließ sie spüren, dass dieser Tag real war, und dass sie trotz der Trennung von Henry noch immer lebte. Zuhause würde sie sich erst mal eine heiße Wanne einlassen und sich klar machen, was das Leben lebenswert machte. Zum Beispiel die Kinder ihrer Klasse. Ihre Gesichter, wenn sie sich darüber freuten, einen Ausflug zu machen.
    Wie sie immer mehr verstanden, was Sprache für den Menschen bedeutete.
    In den Kindern sah sie sehr wohl eine Zukunft, die diese Stadt doch noch bessern konnte. Das war es, was die anderen Lehrer nicht mehr sehen konnten. Die hatten resigniert. Wie vollkommen falsch.
    Maria lächelte gelöst, und freute sich darüber zu Leben, während hinter ihr jemand näher rückte, der nichts als Tod vor seinen Augen sah.

    Geändert von Lonegunman81 (25.08.2004 um 04:23 Uhr)

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