[FONT=Times New Roman]2
Der Junge mit der Zipfelmütze
Er war den ganzen weiten Weg hierher nach Alexandria gekommen, nur um sich dieses Theaterstück anzusehen ... Immer wieder bestaunte er das Ticket, dieses wertvolle Stück Papier, schon etwas vergilbt und wellig, auch wenn er eigentlich nicht genau wusste, was er nun eigentlich damit anfangen sollte. Aber das interessierte den Jungen mit der Zipfelmütze auch nicht weiter, als er durch das Stadttor Alexandrias trat und das erste Mal in seinem Leben eine Großstadt erblickte: überall Menschen; hier und da spielende Kinder; eine beständige Geräuschkulisse, bestehend aus dem Lachen und Tuscheln der Einwohner, den hektischen Schritten der Besucher, dem Knarren sich drehender Windmühlen und dem seichten Geplätscher des Wassers, welche die Burgstadt umgab. Vollkommen von diesem Treiben eingenommen, blieb der Junge auf der breiten Hauptstrasse stehen, die dicht an dicht stehenden Häuser links und rechts bestaunend, welche mit ihrem liebevollen, auch etwas groben Baustil aus robusten Holzgerüst, Felssteinen und den rot-bräunlichen Ziegeldächern eine große Wärme ausstrahlten. Die meisten Menschen und Tierwesen, die hier lebten, waren arm und trotzdem glücklich. Kein Wunder, bei einer so schönen und belebten Stadt, welche jedem etwas bot ... man musste nur richtig danach suchen.
Nichts ahnend und noch immer vertieft in seine Faszination spürte der kleine Junge einen leichten Stoss hinter sich, verlor daraufhin sein Gleichgewicht und fiel zu Boden. Als er sich langsam wieder aufrichtete und dabei seine verdrehte Zipfelmütze zu Recht zog, erblickte er eine Gänsefrau. Ihre Federn schimmerten hell und sahen sehr gepflegt aus. Auf ihrem gelben Schnabel trug sie eine Brille, durch die sie den bis zu ihrer Hüfte reichenden Jungen musterte.
„Oh, entschuldige, kleiner Mann ... hast du dir wehgetan?“ Sie schien sehr betroffen. Der Kleine schüttelte energisch den Kopf. Jedenfalls sah es so aus - denn viel konnte man nicht erkennen: der enge, hohe Kragen seines dunkelblauen Jacketts und die Krempe seines Hutes bildeten einen dunklen Schlitz, in dem nur seine gelben Knopfaugen auffielen.
„Dann bin ich aber beruhigt! Ich hab dich gar nicht gesehen – und da du weder stinkst noch schreist, wie diese anderen Proletarierkinder, die einem ständig vor die Füße laufen, war ich wohl unvorbereitet.“
Der Junge wandte seinen Blick, fast peinlich berührt, auf die rauen Pflastersteine der Strasse. Hat die Dame das jetzt nett gemeint...? fragte er sich, fand jedoch keine Antwort darauf.
„Wie auch immer, nimm dieses kleine Präsent als Entschädigung an!“, mit diesen Worten warf sie eine Münze vor seine Füße und schlenderte an ihm vorbei. Ihr hellrotes Kleid war mit verschnörkelten Mustern bestickt und roch nach frischen Blumen. Der kleine Junge blickte der Gänsefrau und ihrer Begleiterin noch ganz verwirrt nach, während er die Münze aufhob und einsteckte.
„Diese Proletarierkinder werden auch immer ungewöhnlicher, findest du nicht auch, Sieglinde...?“
„Seit wann beschäftigt sich eine Frau von Adel mit solch langweiligen Angelegenheiten! Lass uns lieber schnell zur Burg eilen ... schließlich wollen wir zwei gute Plätze in der ersten Reihe.“
„Das glaubst wohl nur du – wenn die berühmte Theatergruppe ‚Tantalus’ aus dem westlichen Herzogtum auftritt, sind die besten Plätze sowieso schon reserviert. Und das hast du ja mal wieder vergessen, liebste Sieglinde...“
„Ein Blaublüter macht auch mal Fehler. Weißt du überhaupt, ob das Theaterschiff schon-“
Um den kleinen Jungen wurde es dunkel. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinab, als ein lautes Knarren und Brummen durch die Strassen Alexandrias fegte. Die Menschen schauten mit offenem Mund gen Himmel. Über den Dächern der Burgstadt erschien ein pompöses Luftschiff, welches seinen Schatten auf die Häuser warf, als ob sie winzige Holzmodelle wären, der man mit der Handfläche des Lichtes beraubt.
Überall um ihn herum fing es an zu tuscheln:
„Da ist es!“
„...die Prima Vista…“
„-ein prächtiges Theaterschiff!”
„Das kann nur eins bedeuten: das Stück beginnt bald...“
Der Junge nahm von alledem nicht viel wahr: die Größe der aus gewaltigen Holzstreben gefertigten und breiten Unterseite des Schiffskörpers, welches schwerelos über der Stadt schwebte, verunsicherte ihn. Sogar Angst bemächtigte sich seiner, Angst davor, dass das gewaltige Gefährt plötzlich auf den Boden kracht, das Holz berstet und der Boden bebt. Nichts von alledem geschah. Dagegen lenkte eine etwas anders geartete Überraschung seinen Blick wieder auf den Boden der Tatsachen: Von einem Moment auf den nächsten bewegten sich die vorher noch recht ziellos umherlaufenden Menschenmassen sehr zügig in Richtung Schloss, der Prima Vista folgend, und vermischten sich zu einem reißenden Strom, der sich auf den Marktplatz ergoss. Das kreisförmige Zentrum Alexandrias, um den sich die wichtigsten Läden und das einzige Hotel in der Stadt anordneten, war übervoll mit bunten Ständen, aufdringlichen Marktschreiern und zwielichtigen Gestalten, die die begehrten Eintrittskarten für die heutige Vorstellung weit unter dem Standardpreis verkauften. Wenn man vom Marktplatz nun weiter die Hauptstrasse in nordöstlicher Richtung entlang ging, folgte zugleich die "Brane-Brücke", die das gemächlich fließende Wasser des Burggrabens überspannte und vor dem mächtigen Haupttor des Schlosses endete.
Der kleine Junge wurde von den Menschen und verschiedenartigsten Tierwesen einfach mitgerissen. Es war nicht verwunderlich, denn seine übergroße Leder-Zipfelmütze, dessen Spitze schlaff nach unten hing, reichte den Meisten gerade bis zur Hüfte. Er wurde einfach übersehen und somit blieb ihm nichts anderes übrig, als sich der Geschwindigkeit der stampfenden Masse anzupassen, was ihm nicht leicht fiel: die zu kurzen Beine auf dem kugeligen Bauch vollbrachten nun mal keine Wunder. Auf dem Marktplatz angekommen, zerstreute sich die dichte Struktur und der Kleine sah sich Salven aus Marktschreien und neuartigen Gerüchen ausgesetzt. Blumen-, Obst- und Fischstände boten ihre frischsten Waren an, alles roch so intensiv, alles drehte sich so schnell, so als ob die ganze Welt an diesem einem Ort, dem runden Hauptplatz Alexandrias, konzentriert war, als ob der Rest der Welt außerhalb dieses Kreises nicht existierte. Und vielleicht stimmte das sogar. Jedenfalls heute, an diesem glorreichen Tag für Alexandria.
Seiner Kräfte beraubt suchte der Junge einen Weg aus dem Chaos. Hektisch entfloh er dem Kreis, rammte die nächstbeste Tür auf; und als sie hinter ihm wieder in das Schloss fiel, hielt er schlagartig inne. Ganz zaghaft vollführte er eine halbe Umdrehung, starrte auf die verschlossene Tür und stellte mit Erleichterung fest, dass die gesamte Welt nur noch gedämpft, und dadurch scheinbar in weiter Ferne, zu ihm drang.
„Hallo, mein Freund ... wie heißt du?“
Der Junge wandte seinen Kopf dem halbdunklen, muffigen Raum zu, um die Quelle der tiefen, warmen Stimme ausfindig zu machen, konnte jedoch niemanden sehen. Allerdings hat die Person, die sich hier irgendwo in einer Ecke versteckt hat, durch die nette Begrüßung sofort sein Vertrauen gewonnen.
„Mein Name ist Vivi...“
„Soso - ein schöner Name“, stellte der Mann fest, während er in die blassen Lichtstrahlen trat, die durch das verschmutzte Fenster, welches das einzige im Raum war, nur schwer hindurch kamen. „Und was führt dich in meinen Laden...?“
Vivi studierte die Umgebung etwas genauer: Überall in der kleinen Kammer stand Gerümpel und scheinbar nutzloser Kram rum, der sich an den Wänden stapelte und mit einer dicken Staubschicht bedeckt war. Weiter hinten im Raum befand sich eine mickrige Theke im Halbdunkel, auf die sich der alte Mann nun mit ausgestreckten Armen aufstützte. Er hatte einen grauen, ungepflegten Schnauzer, ein eher kantiges, markantes Gesicht und raue Haut. Vivi spürte aber keine Furcht, obwohl sein Blick nicht sehr liebenswürdig war, eher musternd und misstrauisch.
„Och, ich wollte mich nur mal umschauen“, log der Kleine.
„Hier wollte sich seit Jahren keiner mehr umschauen, und warum es jetzt einer wie du will, verstehe ich bei weitem nicht!“
„Aber Herr, was meinen sie - einer wie ich?“
„Weißt du denn nicht wer du bist...“
„Doch, ich bin Vivi!“
Der Mann schüttelte resignierend seinen Kopf und stieß einen leisen Seufzer aus und beließ es auch dabei. Der Junge wusste auch nicht mehr, was er jetzt sagen sollte. Nach einigen Sekunden des Schweigens, meinte er dann ganz schüchtern:
„Um Ihnen die Wahrheit zu sagen: ich bin nach Alexandria gereist, um mir das berühmte Theaterstück heute Abend anzuschauen ... die Leute hier sind ganz ungewöhnlich, finde ich. Sie haben mich alle einfach übersehen – aber so ist das nun mal, wenn man sehr klein ist...“
„Du meinst also sie hätten dich nicht gesehen, weil du so klein bist, aber vielleicht wolltest du eben nicht gesehen werden.“
„Ich kann mich doch nicht einfach unsichtbar machen!“
„Nein, das nicht. Doch in den Augen der Menschen bist du es...“
Vivi starrte ihn nur mit großen, weit aufgerissenen Augen an.
„Schau dir doch mal meinen Laden an: auch er wird nicht gesehen, obwohl er da ist ... du bist mein erster Kunde seit vielen, vielen Jahren, kleiner Kerl“, ein glückliches Lächeln huschte rasch über sein Gesicht. „Weißt du, wenn man noch jung ist, hat man Träume ... man glaubt man könne sein eigenes Geschäft eröffnen und üppigen Gewinn einstreichen. Tja, und was ist daraus geworden: eine verdreckte Rumpelkammer! Auch ich sparte meinen miesen Umsatz einmal für das Theaterstück, aber schon vor langer Zeit habe ich aufgegeben. Es ist zwecklos... dem Volk ist es nicht vergönnt, sich diesen Luxus wenigstens einmal zu leisten! Viele wollen das nicht einsehen und sparen ihr gesamtes Leben für die Eintrittskarte – bedauerlich, denn nur die Wenigsten können sich jenen Traum vor ihrem Lebensende erfüllen!“
Vivi wurde ganz betrübt, als er daran dachte, dass seine Eintrittskarte ein Geschenk gewesen war. Er fühlte sich auf einmal ganz schuldig.
„Ach, was rede ich da eigentlich vor mich hin und bringe dich ganz durcheinander. Kommen wir zum Geschäftlichen: Viel habe ich nicht gerade zu bieten, aber für dich ... findet sich bestimmt etwas Nützliches. Ja, ich denke, das könntest du gebrauchen.“ Er hob ein bäuchiges Glasgefäß unter der Theke hervor, während er den Jungen mit großen Augen fixierte und seinem Gesicht einen faszinierten Ausdruck verlieh. Der Inhalt, eine smaragdgrüne Flüssigkeit, brach die mageren Lichtstrahlen tausendfach und verteilte sie in unterschiedlichsten, harmonierenden Grüntönen im Raum. Vivi fühlte sich ob dieses wundervollen Anblicks des Atems beraubt.
„Was-Was ist das?!“
„Das ist ein Heiltrank und ein äußerst wertvoller noch dazu...“
„Was macht ihn den so wertvoll, wenn ich fragen darf, mein Herr?“
„Er wurde aus den Pflanzen des Äußeren Kontinents hergestellt, dessen Boden größtenteils trocken und unfruchtbar ist. Die Flora dort ist sehr widerstandfähig und besitzt eine hohe Lebenskraft. Heiltränke von diesem Kontinent sind deshalb besonders wirksam und selten! Bist du interessiert?“
Eigentlich wusste Vivi nicht, was er damit anfangen sollte, andererseits war er von diesem grünen Lichtspiel so beeindruckt, dass er sich wieder erinnerte: er kramte in seiner Hosentasche und holte die Münze hervor, die ihm die Gänsefrau gegeben hatte.
„Zehn Gil“, stöhnte der Mann ungläubig.
„Mehr habe ich nicht...“
„Nun ja, das muss dann wohl reichen“, meinte er etwas enttäuscht und übergab ihm das Gefäß trotzdem voller Überzeugung von der Richtigkeit dieses Geschäfts.
„Danke, mein Herr“, sagte Vivi fröhlich, während er schon halb aus dem Laden getreten war. Der Mann sah ihn noch locker wippend auf den Marktplatz laufen, bevor die Holztür wieder in den Rahmen fiel und die Helligkeit aus dem Raum vertrieb.[/FONT]