Vielen lieben Danke @Enishi!
So, hier das nächste Kapitel... und ja ich bin a bissl stolz drauf 
[FONT=Times New Roman]3
Die Ratte und der Junge
Vivi zuckte leicht zusammen, als ihm die Frau mit verlogenem Mienenspiel die Wahrheit über seine Eintrittskarte offenbarte.
„Das ist leider eine Fälschung. Nichts zu machen, Kleiner. Ich darf dich nicht hineinlassen...“
Die weibliche Wache am Burgeingang tat sehr betroffen, obwohl sie diesen Satz schon vielen vor ihm gesagt haben muss.
„Aber wie…“, flüsterte Vivi bedrückt vor sich hin.
„Na, wer wird denn da gleich weinen“, meinte die andere Wächterin. „Das Theaterstück wäre eh nichts für dich gewesen. Kinder in deinem Alter sollten auf der Strasse spielen ...“
Wieder zuckte er zusammen und senkte seinen Blick noch tiefer. Da stand er nun vor dem Schlosstor, welches ihm allein beim Anblick Schwindelgefühle bereitet hatte, und durfte nicht passieren. Die Vorstellung würde für ihn nicht stattfinden.
„Woher hast du das Ticket überhaupt? Ein Kind in deinem Alter...“
„Es war ein Geschenk“, antwortete Vivi in trotzigen Ton.
„Und wer war so großzügig, dir die Karte zu überlassen?“, in ihrer Stimme spiegelten sich von einem Moment zum nächsten Strenge und Misstrauen wider. Ihm wurde blitzschnell heiß und panische Gedanken von Hilflosigkeit breiteten sich in ihm aus wie Druckwellen. Einen allzu freundlichen Eindruck machten die beiden Wachen ja auch nicht: Ihre scharfkantigen Helme, die Brustpanzer und die schweren Kettenröcke, die ihnen bis zu den Knien reichten, waren für ihn Beweis genug, mit den Damen nicht zu spaßen.
„Ich weiß nicht von wem. Ich besitze diese Karte, seit ich denken kann!“ Er sprach die Wahrheit aus, was er für das Beste hielt. Die Wächterinnen schauten ihn überrascht und auch etwas enttäuscht an. Sie hatten sich hochbrisante Informationen zu den Fälschern erhofft; oder wenigstens andere brauchbare Hinweise, die eine Spur im Sumpf des Schwarzmarktes freilegen würden. Das hätte ihre Generälin aufgemuntert, hätte sie vielleicht sogar stolz gemacht. Sich ihre maßlose Überschätzung eingestehend, ließen sie den Jungen ziehen. Vivi hörte schon nicht mehr, wie die Beiden über seine „unheimliche Art“, die er mit sich trage, redeten. Er wollte auch nicht hören. Nur weit entfernte, verzerrte Geräusche nahm er von der Unterhaltung wahr. Er hatte der Burg schon den Rücken gekehrt und trottete mit gesenktem Haupt über die belebte Brane-Brücke.
Eine angenehm kühle Brise weckte ihn aus seinen hoffnungsleeren Gedanken, in die er sich verkrochen hatte. Er war orientierungslos in eine enge Seitenstrasse, die vom Marktplatz westlich abzweigte, geraten. Hier wurde der Pflasterweg schmaler und die Dächer der zweistöckigen, alten Gebäude lagen so eng beisammen, dass kein Licht den Boden erreichte. Durch die wie ausgestorben wirkende Gasse drang nur ein schallendes Pochen. Während er weiterlief, den Lauten folgend, erblickte er einen dicken, schweißgebadeten Handwerker, der auf einer Leiter stand und mit seinem Hammer ein Schild mit der Aufschrift „Neues Kleinkunsttheater“ an die Wand nagelte. Vivi, dem eine solche Tätigkeit vollkommen neu war, bestaunte das Treiben mit großer Aufmerksamkeit; das allerdings auf Kosten der Konzentration auf seine Schritte. Er stolperte. Ins Straucheln geraten, konnte er das Unvermeidbare nicht mehr aufhalten und rammte im freien Fall die Leiter, die samt draufstehendem Mann mit einem Poltern zu Boden ging. Als sich der kleine Junge mit den Armen aufsetzte, um sich wieder aufzurichten, hörte er nur ein feindseliges Knurren: „Du mieser Zwerg!“
Ehe er überhaupt wusste, was hier geschah, spürte er ein kräftiges Zerren am Kragen und verlor im nächsten Augenblick den Kontakt zur kalten Oberfläche der Pflastersteine. Der stämmige Mann hat ihn mit nur einem Arm auf seine Kopfhöhe hoch gehoben, das Gesicht verzerrt zu einer Grimasse. Er bebte vor Wut, wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch. Der Junge dagegen baumelte in der Luft und fuchtelte mit den Gliedmassen gleich einer Marionette, die ungeschickt von einem Kind geführt wurde.
„Kannst du nicht aufpassen, wo du hinlatschst!“
Wie eine Puppe...
„Jetzt schau’ dir doch mal das Schild an – es hängt total schief!“
...Dieses Gefühl, die Kontrolle zu verlieren.
„Und nur wegen dir, Bengel!“
...Aussichtslos.
„Du kannst dich auf ’was gefasst machen!“
...Vollkommene Dunkelheit.
„Ich versohl’ dir den-“
Vivis kreisrunde Augen, die in dem tiefen Schatten unter seinem Spitzhut leicht gelblich leuchteten, flammten mit einem Male auf. Was tief in ihm schlummerte, erwachte nun und übernahm die Bewegungen seines Körpers. Mit all seinen Kräften versuchte er gegen diese Macht anzukämpfen, im Körper und im Geist. Ihm war, als ob jemand Fremdes ihn gewaltsam stoßen und ziehen würde; und mittlerweile spürte er eindeutig, dass dieser jemand in ihm war, in seinem Innersten. Völlig unkontrolliert hob er seine kurzen zitternden Arme. Er war zu schwach selbst dagegen zu halten. Seine mit Leder-Handschuhen bedeckten Hände schloss er zu einer gemeinsamen Fläche zusammen und streckte sie dem Handwerker entgegen. Ein unangenehmes, heißes Kribbeln verteilte sich über seinen Körper und vernetzte sich zu immer neuen Bahnen, die alle in seinen Fingern zusammenliefen. Vivi spürte diese unbändige Energie, wie sie sich schmerzhaft aus seinen Körper presste, von Innen nach Außen drang, und sich vor seinen Handflächen materialisierte. Ein lodernder Feuerball flammte auf. Vivi starrte die pulsierende Sonne hilflos an. Sie war aus dem Nichts entstanden. Sie war aus ihm entstanden. Mit Entsetzen stellte er fest, dass er wusste, was nun folgen würde.
„Nein, das will ich nicht. Das bin nicht ich. Verschwinde!“
Sein verzweifelter Schrei zerstörte den Feuerball, der in sich zusammenfiel und von dem nur noch ein kleines Häufchen Asche auf den Pflastersteinen übrig blieb. Auch befreite er seinen Geist und gab ihm die Kontrolle über seinen Körper zurück. Das allerdings rettete ihn nicht davor, einmal mehr schmerzhaft auf den Boden zu fallen. Der Handwerker hatte ihn losgelassen und stand nun versteinert und mit entsetzten Gesichtsausdruck da. Mit verkrampfter Mine und leicht zuckenden Mundwinkeln stöhnte er angespannt:
„Was... war... das? Was bist ... du?“
„Das wollte ich nicht, mein Heer“, antwortete Vivi bedauernd und schüttelte sehr hektisch den Kopf. Als er sich wieder auf die Beine rappelte, sprang der Mann überstürzt einen Schritt zurück.
„Bleib’ wo du bist, du DÄMON!“, rief er panisch und rannte derweil schon Richtung Marktplatz wie von einem Tatzelwurm verfolgt. Allein zurückgelassen ließ Vivi die Arme und den Kopf sinken und wollte am liebsten einfach so stehen bleiben.
„Reife Leistung ... und das, obwohl die Menschen doch eigentlich nicht abergläubisch sind.“
Der Rattenjunge, der wohl schon lange in einer engen Nische zwischen zwei Hauswänden lauerte, schlenderte stolz in das schwache Licht der Gasse, ähnlich dem König, der vor sein Volk tritt. Seine Füße steckten in riesigen Stofflatschen, und die löchrige Hose und das schmutzige Hemd waren für seine dürren Arme und Beine auch viel zu groß. Vivi fiel gleich das freche Lächeln auf, welches sich über seine gesamte Schnauze bis zur tiefhängenden Baskenmütze zog.
„Ach, ich habe ganz vergessen mich vorzustellen: Pug vom Rattenvolk.“
„Was bitte ist ein ‚Volk’?“
Pug legte seinen Kopf schief, kniff seine Augen zusammen und fuhr aufplusternd fort:
„Das ist hier nicht die Frage! Viel interessanter ist, welchem Volk du angehörst?“
„Ich ... weiß es nicht ... ich weiß ja nicht einmal, was das bedeutet...“
„Wir Burmecianer glauben ja an Vieles zwischen Himmel und Erde, aber sowas wie eben ist mir noch nie untergekommen“, während er das aussprach, gab er seine angespannt aufrechte Haltung auf und schnellte auf allen Vieren Richtung Junge, um kurz vor ihm aus der Bewegung zu erstarren. Nur seine kleinen Nasenlöcher auf der spitz zulaufenden Schnauze veränderten pulsierend ihre Größe, begleitet von saugenden Geräuschen. Nachdem Pug offensichtlich schnell die Lust verlor ihn zu beschnuppern, stellte er sich wieder auf seine Hinterläufer, wobei Vivi fast schon begeistert feststellte, dass er nicht viel größer war als er, und meinte:
„Du bist sehr anders, könntest mir nützlich sein“, er schlich dabei um ihn herum und flüsterte freudig hinter seinem Rücken weiter. „Werde mein Untertan!“
Der Kleine mit der Zipfelmütze vollzog springend eine halb Umdrehung und wich weniger ängstlich, als viel mehr verwirrt einen Schritt zurück und erwiderte:
„Was habe ich denn als ihr Untertan zu tun? Ich habe so etwas noch nie gemacht.“
Wieder erschien dieses Grinsen auf seiner Schnauze, welches ihm nicht vollständig geheuer war.
„Du musst mir hier und da kurz helfen... das Leben als Untertan ist einfach!“
„Dann will ich auch ihr Untertan werden... Helfen kann niemals schlecht sein.“
Pug nickte heftig, um seine Zustimmung nur allzu eindeutig zu zeigen. Vivi war aufgeheitert.
„Deine erste Aufgabe wird sein, zu schauen, ob der fette Mensch auch nicht zurückkehrt – geh’ ein Stück auf den Marktplatz zu“, befahl er dem Jungen und so schritt dieser ein paar Meter die enge Strasse entlang und als sich der Weg ein wenig nach rechts neigte, erblickte er zwischen den zwei Häuserfronten der Gasse wieder das dichte Treiben des Marktplatzes, jedoch in einiger Entfernung.
„Und? Ist die Luft rein...?“, rief die Ratte ihm zu, schon auf allen Vieren die umgestoßene Leiter umschleichend. Mit der bestätigenden Antwort krallte er sich mit den Vorderpfoten in eine der Sprossen, hievte die Leiter seitlich mit seinen schmalen Ärmchen, die keine Kraft zu bergen schienen, in die Höhe und balancierte das schwere Gewicht geschickt aus. Vivi machte große Augen und ehe er sein Erstaunen ausdrücken konnte, raste der Rattenjunge mit der Leiter über seinen Kopf auch schon los und forderte ihn auf: „Nun komm’ schon – die Schauspieler warten nicht auf uns!“
Als der Kleine ihn durch die schattigen, etwas muffigen Engen der Hintergassen Alexandrias zu folgen versuchte, schnaufte er geschafft: „Was denn für Schauspieler...?“
„Na, ich dachte, du wolltest dir das Theaterstück ansehen“, sagte Pug, der sich an der nächsten Gabelung der alten Pflastersteinstrasse rechts hielt. Hier in der abgelegenen Dunkelheit der Burgstadt, hatte sich eine Hippopotamus-Familie in einer breiteren Nische zwischen den Rückseiten der Werkhäuser ein eigenes, kleines Heim aufgebaut. Der aus Mauerziegeln und geflochtenen Ästen zusammenhängende, wacklige Bau ragte ein wenig in die Gasse hinein und die Nilpferd-Kinder spielten auf dem Weg Ball. Vivi spürte in seinem Herzen den Wunsch, hier zu weilen: ganz kurz, ganz schwach, eine undeutliche Erinnerung aus dem Nebel der Vergangenheit. Pugs Rufe jedoch spornten ihn weiter an und fixierten seine Gedanken auf das Hier und Jetzt. Nun da er den Rattenjungen schon fast völlig verloren hatte, kitzelten Strahlen der schon weit im Westen stehenden Sonne sein schwarzes Gesicht. Die Gasse wurde heller und breiter, die Gebäude waren nicht mehr so grob und gequetscht. Hellere Steine, pompöse Hausfronten und ausladende, saubere Fenster wiesen auf den Geldbeutel der Bewohner hin. Die Gasse wurde hier am süd-westlichen Ende der Burgstadt zu einem kleinen Steg, der ein Stück weit in den Alexandria-Fluss hineinragte. Dahinter, am Zehn Meter entfernten Ufer, gab es keine Stadt mehr. Dort begannen dunkelgrüne Wiesen und menschenleere Flächen, nur hier und da stand vereinzelt ein Gasthaus oder eine kleine Hütte.
„Komm in die Kirche, Junge“, schnauzte Pug Vivi ungeduldig an. Der Junge drehte sich nach rechts und huschte durch das offene Tor des kleinen Doms. Der Innenraum war größer als er ob der unscheinbaren, äußerlichen Erscheinung des Kreisbaus aussah. Jedoch war er leer, trostlos und eben gänzlich unausgefüllt. Nur die in die Höhe wachsenden, schmalen Fenster mit ihren filigran mit Ornamenten verzierten Mamorrahmen erwiesen der Kirche die letzte Ehre, sonst hätte man ihre schlichte Ausstattung als erbärmlich bezeichnen können.
Schon wieder war Pug voraus und arbeitete sich Strebe für Strebe die knarrende Holzleiter des engen Schachts, der in der Mitte des Doms zum Glockenturm hinaufstieg, voran. Mit einer Leichtigkeit zog er die Beute des dicken Handwerkers mit seiner linken Vorderpfote nach, während er sich mit der anderen und den Hinterläufern in die Streben krallte. Als Vivi auch den staubigen und stickigen Schacht ziemlich ungeschickt erklomm, fragte er verwundert:
„Wozu brauchen Sie eigentlich die Leiter, Herr Pug?“
„Nenn mich einfach nur Pug“, bellte die Ratte, die schon im Glockenturm stand, herunter und setzte selbstsicher zur eigentlichen Antwort an: „Ich kenne eine schmale Stelle, dort können wir den Burgraben problemlos überqueren.“
„Ist denn das erlaubt?“
„Nicht weniger erlaubt als einen Mann zu verkohlen, Kleiner!“
Als ob er größer wäre? Vivi keuchte voll Trotz und vielleicht sogar mit einem Quäntchen Wut den letzten Abschnitt des Schachts herauf und erreichte den oberen Teil des Kirchturms. Ein starker Wind blies ihm fast seinen runden Hut mit dem geknickten Zipfel vom Kopf, derweil die riesige Krempe eine perfekte Angriffsfläche bot. Ganz automatisiert hielt er ihn fest. Pug war schon auf eines der eng anliegenden Dächer der umgebenden Häuser gesprungen. Aber Vivi blickte sich um und sah zum ersten Mal die wirkliche Größe dieser Stadt und der Umgebung. Wie klein er doch war…
Ein riesiges Gebirgsmassiv mit zuckerweißen Spitzen zog sich halbkreisförmig vom Westen in den Süden und bestritt somit auch die Form des schmalen Alexandria-Plateaus, welches der Länge nach den Bergen folgte. Es lag 1000 Meter über dem Meeresspiegel und war flach wie ein Brett. Die vielen größeren und kleineren Gebirgsbäche speisten den Alexandria-Fluss, welcher vom nördlichen Ende des Plateaus auf die Burgstadt zuhielt. Diese lag an der schmalsten Stelle des flachen Landes, welches fast wie eine in die Bergkette eingemeißelte Stufe anmutete. Trotz der Lage der Stadt an der stürzenden Kante dieser Stufe, war sie nicht besonders weit von der Gebirgsseite entfernt. Das Außergewöhnliche an ihr stellten aber ihre Grenzen dar: Der Alexandria-Fluss teilte sich hinter dem eigentlichen Burggebiet, dessen Zentrum die vier prächtigen, quadratisch angeordneten Tessares-Türme waren. Aus ihrer Mitte heraus und weit über ihre mächtigen Kegeldächer hinaus erhob sich ein kristallner Obelisk, so glänzend gleich, dass er die schwächer werdenden Strahlen der untergehenden Sonne noch um ein vielfaches verstärkte und nach allen Seiten hin brach, wobei an den weit entfernten Bergwänden im Osten wundersame, gleißende Lichtspiele zu bestaunen waren. Der getrennte Fluss vereinte sich dann wieder unter der Brane-Brücke, nur um ein weiteres Mal zerrissen zu werden. Diesmal um das Stadtgebiet zu sichern, dessen rote Dächer sich vor Vivis Augen ausbreiteten. Jenseits der zweiten Brücke und damit dem einzigen Eingang zur Stadt fanden die zwei umgrenzenden Flüsse wieder zusammen und stürzten alsbald in die Tiefen der der Gebirgsseite gegenüberliegenden Grenze des Plateaus. In welches Tal die Wassermassen fielen, vermochte Vivi nicht zu erkennen. Eine dicke Nebelbrühe schwamm südwestlich von Alexandria in dem kilometerweiten Landschaftskessel, der aus Bergrücken und erhöhten Ebenen geformt war. Der Nebel lag so schwer und gleichmäßig in diesem Tal, dass man hätte meinen können, er würde dort schon seit tausenden von Jahren wabern. Vivi fand es unheimlich, dass der Talgrund nicht zu sehen war.
Pug war einmal mehr ein ganz schönes Stück voraus. Er musste sich sputen, ihn über die ungleichmäßig gerundeten Ziegeldächer und die zweistöckigen Häuserschluchten einzuholen.
Wie klein er doch war…[/FONT]
So, ich hoffe, es hat gefallen - Kommentare sind erwünscht!
Bekay