Die Amazone trug den Speer locker über der rechten Schulter, während sie eine Melodie vor sich hin summte, die sie in der zuletzt besuchten Stadt von einem Musikanten gehört hatte. Sie ging ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf. Woher nehmen diese Künstler bloß die Kreativität, ein solches Werk zu schaffen, fragte sie sich. Ein auffälliger Gürtel mit verschiedenen Mustern schmückte die Taille der Kriegerin. In einem daran befestigten Lederbeutel waren Andenken und Lebensmittel verstaut. Sie trug einen Köcher mit Pfeilen und einem langen, gewundenen Stück Holz darin über der linken Schulter. Den Köcher zierten verschiedene Inschriften. Nach einer alten Legende konnten die Geister der Vorfahren die Treffsicherheit der Pfeile erhöhen, wenn sie durch die Schrift mit ihnen kommunizierten. Die Kriegerin vertraute da schon eher ihrer Geschicklichkeit. Allerdings fand sie, dass das Erbstück ziemlich gut aussah und ihre Kleidung perfekt ergänzte. Diese bestand aus einem Kettenhemd mit steifen Schulterschützern, das trotz seinem Gewicht keine Belastung für die Amazone darzustellen schien. Unterhalb des Gürtels trug sie Beinschützer aus feinstem Schlangenleder. Ihre Mutter war so stolz auf ihre Tochter gewesen, als sie mit dieser Beute von ihrer ersten Jagd zurückgekehrt war, dass sie sogleich eine Teilrüstung daraus gefertigt hatte. Mittlerweile hatte sie die Arbeit ihrer Mutter mit neuem Leder ergänzt und verstärkt.
Sie war auf dem Weg zu einem Wettkampf, bei dem als höchster Gewinn eine erstklassige Waffe aus der königlichen Schmiede winkte. Alle ihre Freundinnen hatten die Absicht, sich hier ihre ersten Lorbeeren zu verdienen. Sie lächelte bei dem Gedanken, dass selbst ihre kleine Schwester sie schon begleiten wollte. Sie musste fest versprechen, ihr später alles haarklein zu berichten. Insgeheim hoffte sie auch darauf, bei der Sekte einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.
Sie verlangsamte ihre Schritte, als sie ein Geräusch hinter sich vernahm. Sie hatte schon den ganzen Tag das Gefühl, dass sie etwas oder jemand verfolgte. Allerdings konnte das auch Einbildung sein, ausgelöst durch die Sonne und den langen Fußmarsch. Es lauerte aber in der Tat eine dunkle Gestalt hinter einem Baum. Als sie der Kriegerin folgen wollte, trat sie auf diverse kleine Äste und hielt inne; genauso wie die Amazone, die ihren Speer von der Schulter genommen hatte und sich umdrehte.
„Wer ist da?“ rief sie und kniff ihre Augen zusammen.
Der Schatten rührte sich nicht, allerdings schnaufte er ziemlich laut.
„Ich kann dich sehen, und das bedeutet, dass ich dich verletzten kann... wenn nötig. Komm ans Licht!“
Der Speer war genau auf den Oberkörper der Gestalt gerichtet, als die sich bewegte.
„Lass die Waffen besser stecken, mein Bester.“
„Ich... bin unbewaffnet...“
Der Stimme nach handelte es sich um einen jungen Mann, der langsam hervortrat.
Die Amazone ließ den Speer sinken, denn diese Gestalt konnte ihr wohl weniger antun als ein tollwütiges Eichhörnchen. Der Zauberer, denn das war er nach seinem zerfetzten Mantel nach zu urteilen, sah jämmerlich aus. Seine Haare dreckig und in alle Richtungen abstehend, sein Gesichtsausdruck zeigte Verzweiflung und Schrecken. In der rechten Hand hielt er einen alten Stab mit eingravierten Runen und dem Totenkopf eines kleinen Affen auf der Spitze. Er sah noch ziemlich jung aus, aber seine jüngsten Erlebnisse haben ihn wohl sehr schnell erwachsen werden lassen.
„Gute Güte, bist du etwa alleine durch den Wald? Wie bist du dem ganzen Getier aus dem Weg gegangen?“
Als der Mann nicht antwortete, zog sie eine kleine Flasche mit einer roten Flüssigkeit darin aus ihrem Gürtel.
„Hier, trink das. Danach geht’s dir besser.“
Sie musterte die Gestalt eine Weile, bevor sie unbewusst ihr Schicksal und das des Fremden in eine bestimmte Richtung lenkte.
“Ich kenne ein Wirtshaus unweit von hier. Da kannst du dich mal ausruhen und mir deine Geschichte erzählen... zum Beispiel, warum du mich die ganze Zeit verfolgt hast.“
Der Zauberer nickte stumm. Mit Mühe entkorkte er den Behälter und trank. Er genoss sichtlich das Gebräu. Offensichtlich hatte er schon seit Tagen nichts Ordentliches mehr zu sich genommen. Der Mann ließ das Fläschchen fallen und murmelte etwas, das wohl „danke“ bedeuten sollte.
„Schon in Ordnung, ich habe immer eine Notration für alle Fälle dabei.“
Die Amazone sah zum Himmel.
„Wir machen uns jetzt besser auf den Weg, wenn wir es noch vor Sonnenuntergang schaffen wollen.“
Sie stützte ihn und beide wanderten weiter in Richtung des Wirtshauses „Zum zappelnden Stör“. Eine kleine schwarze Kreatur saß unweit von ihnen im Gebüsch und bewegte sich nicht. Als es still wurde, senkte es den Kopf und fraß schmatzend weiter an seiner Beute. Dabei war es so laut, dass einige Vögel aus einem nahen Baum stoben.