Polternde fielen sechs schwarze Holzstöcke auf den Boden. Zuris kam ein paar Schritte näher, um sie sich genauer anzusehen. Drei Gesichter waren in den oberen Bereich eines jeden Stockes geschnitzt worden. Darunter konnte er das Symbol der Himmels-Magier erkennen, einer Gilde, die es schon lange nicht mehr gab. Er kniete sich hin und fasste mit einem ehrfürchtigen Gesichtsausdruck nach einem der kurzen Stöcke.
„Sind die etwa auch aus dem Kellerraum? Ich will gar nicht wissen, was Ursec´s Onkel dafür hat durchmachen müssen. Soweit ich weiß, sind alle magischen Gegenstände der Himmels-Magier vernichtet worden, nachdem sie ihre Macht missbraucht hatten.“ Er stand auf und reichte ihn der Amazone. „Aber warum sind das sechs? Ich dachte immer, die Rituale dieser Gilde wurden mit der Hilfe von Pentagrammen durchgeführt.“
„Der sechste ist ein Ersatzstock, falls man mal einen verlieren sollte.“
„Das is doch wohl ´n Witz?“
„Würde ich in unserer Situation Witze machen?“ fragte sie und lächelte verschmitzt.
Nett von ihr, mich aufheitern zu wollen, dachte Zuris und rang sich ein Lächeln ab. Fioxa hob die restlichen Stöcke auf und ging ein paar Schritte den Weg hinab. Der Magier musste schlucken. Zwar war es hier draußen kaum heller als im Wirtshaus, da sich der Himmel zugezogen hatte, doch das gräulich goldene Licht der untergehenden Sonne ließ sie Kriegerin wunderschön aussehen. Der Wind blies ihre blonden Haare wie einen Kranz um ihren Kopf und ihre Rüstung sah aus wie ein goldenes Kleid. Ihre Narben aus zahlreichen Kämpfen schienen in diesem Licht wie weggeblasen. Sie drehte sich um und lächelte ihn an. Mein Gott, sie sah aus wie ein Engel. Zuris schüttelte den Kopf und trottete der Kriegerin hinterher. Für einen kurzen Augenblick hatte er seinen Schmerz vergessen können, und dieser Moment war wunderschön gewesen.
„Also, die Sache läuft so: die Stöcke müssen in Form eines Pentagramms aufgestellt werden und zwar so, dass unser Gegner hineinläuft. Nach einem bestimmten Ritual wird ein Kraftfeld entstehen, das unseren Feind aufhält und ihn bewegungsunfähig macht. Und dann können wir ihn gefangennehmen oder wenn nötig töten.“
Zuris atmete noch einmal tief durch, bevor er antwortete:
„Das hört sich ja gar nicht mal schlecht an, aber woher sollen wir wissen, woher unser Gegner kommen wird? Und wofür ist jetzt der sechste Stock gut?“
„Wir müssen raten. Und wir müssen gut raten, denn je größer die Fläche ist, die das Pentagramm abdeckt, desto schwächer wird nachher das Kraftfeld. Den letzten Stock, der übrigens Ritualzepter heißt, brauchen wir für die Durchführung des Rituals.“
Fioxa zeigte dem Erdmagier einen Stock, der nur leicht anders aussah als die anderen. Im unteren Bereich konnte man ein zusätzliches Symbol erkennen. Der Erdmagier reckte den Hals, als wenn er nach irgendwas suchen würde.
„Lag da ´ne Gebrauchsanweisung bei, oder warum weißt du so gut Bescheid darüber?“
Fioxa lachte. „Das ist gar nicht mal so falsch. Ursec hat mir eine Ledertafel gezeigt, auf der Schriftzeichen eingeritzt sind. Sie lag den Stöcken bei und beschreibt das Ritual bis ins kleinste Detail. Ich kenne die uralte Sprache, in der sie geschrieben wurde, denn es ist die meiner Vorfahren.“
„Deine Vorfahren waren Himmels-Magier?“, fragte Zuris mehr als erstaunt. „Wie is das möglich??“
„Das halte ich für weniger wahrscheinlich, sie haben wohl nur unsere Sprache benutzt. Da sie dort, wo sie lebten, so gut wie unbekannt war, wollten sie vielleicht auf diese Weise ihre Magie vor Fremden schützen. Wer weiß? Ein glücklicher Zufall für uns. Wichtiger ist jetzt, dass wir diese Falle so schnell wie möglich aufbauen.“
Er nickte zustimmend. Er konnte spüren, dass die Zeit knapp wurde. Die Amazone setzte den ersten Stock auf den Boden und berührte ihn mit dem Ritualzepter. Sofort verschwand der Stock bis zur ersten Schnitzerei in der Erde. Ursec hatte für die zwei etwas Essen zusammengestellt und stellte es unweit von ihnen auf den Boden.
„Wird es funktionieren?“ fragte er aufgeregt.

Pedor trat gegen die Geheimtür, die quietschend aufsprang. Hustend und fluchend wischte er sich über die Kleidung. Für den Rückweg hatte er sehr lange gebraucht. Die Zelle war als Lichtquelle kaum zu gebrauchen, und daher hatte er sich ein paarmal verlaufen. Doch keine einzige Sekunde hatte er daran gezweifelt, diesem Labyrinth wieder zu entkommen. Ein paarmal schien es ihm, als wenn ihn jemand gefolgt wäre, doch wenn er sich umsah, konnte er nie jemanden erkennen. Wer sollte sich auch sonst dort unten herumtreiben, schließlich war diese Geheimtür im Keller des Wirtes der einzige Zugang. Er schaute sich um. Der Raum sah irgendwie verändert aus, es stimmte etwas mit den Farben nicht. Alles schien bläulich zu leuchten. Er rieb sich die Augen. Am Staub, der gräulich sein Gesicht bedeckte, konnte es kaum liegen. Er kümmerte sich nicht weiter darum und kniete sich zu der Kanone hin, als er etwas rauschen hörte. Er stand hastig auf und blickte sich um, konnte das Geräusch aber nicht lokalisieren. Auf einmal flimmerte die Luft vor seinen Augen. Im nächsten Moment war er nicht mehr alleine in dem Raum, eine bläulich leuchtende Gestalt schwebte vor ihm auf und nieder. Pedor zog einen Dolch und ging in Angriffsposition. Die Gestalt lächelte.
„Wer zum Teufel bist jetzt du?! Ich habe heute weiß Gott genug Überraschungen erlebt!“
Pedor wischte sich nervös ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht.
„Mäßige deinen Ton, Pedor. Es ist mal wieder an der Zeit, uns zu unterhalten.“
„Was soll das heißen? Ich kenne dich nicht!“
„Ja ja, das sagst du jedes Mal.“, sprach das Wesen und schwebte langsam um den Krieger.
Der versuchte es mit seiner Waffe zu treffen, doch sie ging durch das Wesen wie durch Luft.
„Hahaha, streng dich nicht zu sehr an, du verschwendest nur deine Kraft!“
Wütend warf Pedor den Dolch nach der Gestalt. Er flog hindurch und zerschlug das Glas einer Vitrine auf der anderen Seite des Raumes. Das klirrende Geräusch auf den Boden fallender Scherben ertönte, gefolgt von einem schadenfrohen Lachen.
„Kämpfe mit mir wie ein Mann oder verschwinde! Ich habe jetzt keinen Nerv für was anderes!“, schrie das Sektenmitglied. Der Fremde setzte eine ernste Miene auf. Seine Stimme klang auf einmal unmenschlich dunkel.
„Halte dich zurück, du bist nicht in der Position, um Forderungen zu stellen! Lass es mich erklären: Erinnerst du dich noch, als du vor zwei Jahren durch das Gebiet Op´halec gezogen bist? Die verbotene Zone?“
Pedor´s schnelle Atmung beruhigte sich langsam wieder. Mit seiner Wut im Bauch hätte er alles kurz und klein schlagen können. Doch er hatte seinen Verstand noch nicht ganz verloren. Und ein tiefes, unbestimmtes Gefühl ließ bei ihm alle Alarmglocken läuten. Diese Wesen... traf er es wirklich zum ersten Mal..?
„Ja, ich weiß.“, antwortete er langsam, während seine Erinnerungen zurückkamen. „Ich war dort auf der Suche nach der Allwissenden Bibliothek. Aber es ist damals nichts passiert! Ich frage mich bis heute, warum sie die verbotene Zone genannt wird.“
Die Gestalt lächelte wieder bevor sie antwortete. Irgendwie schien Pedor die Temperatur im Raum ein paar Grad kälter geworden zu sein.
„O doch, es ist etwas passiert. Jeder, der diese Zone betritt, verliert auf ewig seine Freiheit. Und ich bin und war der neue Besitzer deines Willens. Darf ich mich vorstellen: mein Name ist Nykarrec.“
„Was soll das Ganze? Ich soll meine Freiheit verloren haben? Ha! Ich kann immer noch tun und lassen, was ich will!“
Mit diesen Worten kniete er sich wieder zu der Kanone hinunter und ignorierte die blaue Gestalt. Die hob ihren Unterarm und ballte die Faust. Langsam bewegte sie den Arm zur Seite. Der Krieger bekam einen überraschten Gesichtsausdruck, erhob sich und taumelte ein paar Schritte rückwärts. Er versucht mit aller Gewalt, sich gegen die unsichtbare Kraft zu wehren, die ihn gepackt hatte.
„DU gehörst mir, ist das klar! Ich habe dir immerhin schon einmal das Leben gerettet. Ohne meine Hilfe hättest du gegen den Golem niemals bestehen können. Also sperr die Lauscher auf und halt die Klappe!“
Pedor wandte sich hin und her, konnte der fremden Kraft aber nicht entfliehen.
„Du wirst die Amazone und diesen Zauberer unter einem Vorwand zur Allwissenden Bibliothek lotsen, hast du verstanden! Diese beiden scheinen lohnenswerte Exemplare zu sein...“
„Ich werde überhaupt nichts!“ keuchte der Kämpfer, „Du kannst vielleicht meinen Körper kontrollieren, aber meinen Geist wirst du niemals brechen!“
„Das brauche ich auch gar nicht. Ich werde diesen Befehl in dein Unterbewußtsein einpflanzen. Du wirst denken, es sei deine Idee. Ist das nicht genial?“
Die Gestalt lachte lauthals, bevor er den Arm nach außen riss. Pedor flog durch die Luft und der Länge nach auf den Boden. Mühsam rappelte er sich auf und fuhr sich mit dem Ärmel über die blutige Nase.
„Deine Tricks wirken bei mir nicht. Die Ausbildung bei der Sekte hat mich gegen Gedankenkontrolle immun gemacht. Ich bin auf alles vorbereitet.“
„Freut mich zu hören,“ grinste die bläulich leuchtende Erscheinung, „dann werden wir sicher noch eine Menge Spaß zusammen haben. Ach, übrigens: das ist bereits unsere drittes Treffen. Nimm´s nicht persönlich, aber mit deinem Training gegen Gedankenkontrolle kann´s nicht weit her sein.“
Pedor machte ein ungläubiges Gesicht. Noch bevor er etwas erwidern konnte, hob die Gestalt den Arm und sprach mir befehlender Stimme: „Du wirst jetzt alles vergessen, was in den letzten Minuten vorgefallen ist. Deinen Auftrag wirst du ausführen und dich unauffällig verhalten. Wir sehen uns sicher wieder. Auch wenn es auf die Dauer lästig ist, dir alles nochmal zu erzählen, freue ich mich jedes Mal über unsere Treffen.“
Die Gestalt lachte lauthals, flatterte kurz auf und verschwand. Die flackernden Kerzen in dem Kellerraum wurden wieder zur dominanten Lichtquelle. Das Sektenmitglied rührte sich einige Augenblicke nicht von der Stelle. Er hatte einen Gesichtsausdruck, als wenn ihm gerade ein wichtiger Gedanke entfallen wäre, der zum Greifen nah gewesen war. Er schüttelte den Kopf und machte sich wieder daran, die Kanone mit der Munition zu laden. Trotzdem hatte er das Gefühl, als wenn sich die Wut in ihm verlagert hätte. Er hatte jetzt auf etwas anderes einen unstillbaren Hass. Wenn er sich nur entsinnen könnte, auf was.