Zuris stand vor dem Wirtshaus und starrte den Weg entlang, der sich nach etwa hundert Schritten im Wald verlor. Es kam näher. Er konnte es fühlen. Etwas Dunkles, Geheimnisvolles folgte seinen Spuren. Aber da war noch etwas Anderes, Vertrautes. Der junge Waldmagier konnte dieses Gefühl jedoch nicht einordnen. Vielleicht kann dieses Wesen falsche Gefühle vermitteln, um seine Opfer abzulenken, dachte er. Doch daran glaubte er nicht. Er wunderte sich sowieso, weshalb er die Präsenz dieses Wesens spüren konnte. Es war fast, als wenn er einen verborgenen Sinn entdeckt hatte, dessen er sich nicht bewusst war. Allerdings blieben ihm die Gefühle und Gedanken der Menschen um ihn verborgen. Es musste etwas mit diesem Wesen zu tun haben, das ihn verfolgte. Er schluckte. Dieser fremde Geist, der sich zu seinem mischte, vermittelte ihm das Gefühl, als wenn sich eine gierige Hand um seine Kehle legte.
Er atmete ein paarmal tief durch und schaute an sich herunter. Der Wirt hatte ihm ein paar Kleider gegeben, die einige seiner Gäste auf den Zimmern vergessen hatten. Er wischte eine Falte aus der viel zu großen Weste und wünschte sich seine Tracht zurück, obwohl er zuletzt darin gefroren hatte. Ursec unterhielt sich mit jemandem; der Magier vernahm ein paar Wortfetzen durch die offene Tür, die der auffrischende Wind leicht hin und her schaukeln ließ. Vereinzelt schwebten ein paar rotbraune Blütenblätter durch die Luft, die Zuris an sein Dorf erinnerten. Die Pflanzen, von denen die Blätter stammten, hatten dort nahezu jeden Hauseingang geschmückt. Wenn er sich jetzt daran zu erinnern versuchte, senkte sich jedesmal der Schatten schwerer Traurigkeit in sein Gemüt. Er spürte, wie eine Träne über seine Wange kullerte. Als er hörte, dass sich ihm jemand von hinten nährte, wischte er sich schnell über die Wange und vertrieb seine Gedanken. Fioxa stellte den Speer vor sich auf den Boden und musterte den Magier, der wie ein Häufchen Elend dastand.
„Ich werde diesem Wesen jetzt eine Falle stellen. Wirst du mir dabei helfen?“

Pedor hielt ein Auge auf den Petroleumspiegel der Laterne, während er durch die dunkle Höhle ging. Wenn der Brennstoff halb aufgebracht war, musste er wohl oder übel umkehren. Er fluchte, als er um die nächste Ecke bog und schon wieder in einer Sackgasse stand. Ruhig Blut, irgendwo muss es einen Ausgang geben, dachte er. Er kehrte um und nahm einen anderen Weg, der allerdings noch einsturzgefährdeter aussah als die anderen Gänge. Er bewegte sich vorsichtig und stakste durch das Geröll, immer darauf bedacht, die Finger von den uralten Abstützbalken zu lassen. Das war der letzte Gang, den er noch nicht erkundet hatte, und hier spürte er auch wieder den leichten Lufthauch, den er schon vermisst hatte. Es war so verdammt still hier, nicht einmal seine Schritte schienen ein Geräusch zu machen.
Es ging ohne Kurven längere Zeit geradeaus, bis Pedor schließlich stehen blieb und mit seiner Flucherei fast die Höhle zum Einsturz gebracht hätte. Da war sie wieder. Er hatte so gehofft, dass sich diese verdammte Barriere nur oberhalb des Erdbodens manifestierte, was sich jetzt als Irrtum herausstellte. Er hätte am liebsten irgend Etwas getreten, doch er konnte seine Wut noch gerade so im Zaum halten. Alles hier unten war sehr empfindlich, und die kleinste Gewalteinwirkung hätte alles zum Einsturz bringen können. Und in einer unbekannten Höhle lebendig begraben zu werden war wohl kaum ein passendes Ende für einen Helden wie ihn. Er atmete tief durch und lehnte sich mit dem Rücken gegen das unsichtbare Etwas. Er dachte nach. Es gab kein Entrinnen. Genau wie damals drohte sich seine Vision zu bewahrheiten. Damals konnte er dieses Wissen der möglichen Zukunft zu seinem Vorteil nutzen und den Golem besiegen. Aber diesmal? Trotzdem er sein Hirn zermarterte, fiel ihm keine Lösung ein. Gegen dieses Wesen schien kein Kraut gewachsen zu sein. Wenn doch bloß diese Kanone einsatzbereit wäre.
Plötzlich fiel ihm auf, dass der verdreckte Balken vor ihm grünlich leuchtete. Er drehte sich um und erblickte jenseits der Barriere etwas, das halb im Sand vergraben lag. Er sah sich um und fand einen Stock, der wohl lang genug war, um den Gegenstand zu erreichen. Er ging in die Hocke, fuhr damit durch die unsichtbare Wand und drückte das Objekt aus dem Sand. Pedor hatte schon oft Glück gehabt im Leben, aber das war direkt unverschämt. Nicht nur, dass seine Annahme korrekt war, dass die Barriere nur Lebewesen und keine tote Materie aufhielt. Außerdem lag vor ihm eine volle Kanonenzelle, die sogar noch funktionstüchtig schien. Der grünliche Schein verlieh seinen Augen etwas diabolisches. Vorsichtig drehte er den Stock und versuchte, die Munition mit dem Ende zu sich her zu schieben.
Während er gierig zusah, wie sich das pulsierende Objekt auf die Barriere zubewegte, spürte er auf einmal den Windhauch nicht mehr. Statt dessen hörte er ein leichtes Rumpeln aus der pechschwarzen Höhle kommen, das schnell lauter wurde. Pedor starrte entsetzt in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Das Poltern mischte sich mit seinem schneller werdenden Herzschlag. Die Zelle rutschte weg, weil ein paar Steine im Weg lagen. Der Krieger schob sie hastig beiseite. Die Erde begann zu vibrieren und ließ die Zelle langsam die leichte Neigung, die die Höhle an dieser Stelle aufwies, hinabgleiten, weg von der Barriere. Der Krieger fluchte und versuchte sie aufzuhalten, doch sie war bereits jenseits der Reichweite des Stockes gerutscht. Im nächsten Moment schoss Etwas aus der Höhle mit einer ungeheuren Geschwindigkeit auf ihn zu. Pedor war wie gelähmt und starrte mit offenem Mund ins Dunkle. Eine Sekunde später erschien es im Lichtschein der Laterne; ein Wesen, so breit und hoch wie die Höhle selber und mit mehreren kreischenden Mäulern bestückt, raste auf den Krieger zu. Der schloss die Augen und wartete auf das Ende. Statt dessen traf ihn etwas Kleines an der Brust und schleuderte ihn auf den Rücken. Es klirrte etwas. Die Schreie des Wesens schienen sein Trommelfell zerreißen zu wollen. Pedor öffnete die Augen. Er sah das Wesen, wie es sich in der Luft über ihm hin und her wand. Einige Münder versuchten, nach ihm zu schnappen. Er krallte sich mit den Händen in den Staub und schrie in Todesangst. Nach einigen Sekunden gab das Wesen auf und zog sich grollend zurück.
Eine Ewigkeit blieb das Sektenmitglied auf dem Rücken liegen, bevor es sich langsam erhob und nach der Munitionszelle griff, die unweit von ihm zum Liegen gekommen war. Er leuchtete damit in Richtung der Barriere. Der Stock hatte die Laterne zerschlagen. Aufgewirbelter Staub schwebte durch die Luft. Er setzte sich auf seine schweißnasse Haut und verschloss seine Nase, so dass er niesen musste. Er wandte sich um und machte sich auf den Weg zurück zum Wirtshaus, in der einen Hand die grünlich leuchtende Zelle, die andere zur Faust geballt Die Wut war wieder da, er spürte sie brennen in seinen Eingeweiden. Jetzt würde er es diesen verdammten Monstern heimzahlen, jedem einzelnen. Und mit dem Wesen aus seiner Vision würde er anfangen. Als er mit breiten Schritten dem Ausgang zustrebte, erschien hinter ihm in der Höhle eine bläulich leuchtende Gestalt, die kurz lächelte und wieder verschwand.

Bilder leuchteten vor ihren Augen auf und verschwanden gleich wieder. Bilder aus ihrem Leben, glaubte sie. Bilder von ihrem ersten Ausbildungstag. Die Heirat mit ihrem lieben Mann, Robert. Sein furchtbarer Tod. Bilder von Freud und Leid, die sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatten. Die Geburt ihres Sohnes. Seine ersten Schritte und seine ersten Worte. Sie lächelte. Einen Augenblick lang war sie glücklich, ihn wenigstens in ihrer Erinnerung wiedersehen zu können. Draußen wurden gerade Menschen abgeschlachtet, doch daran dachte sie jetzt nicht. Sie wusste nicht, wie lange sie nun schon eine Sklavin war. Ein Tag, oder doch ein Jahr? Doch Zeit existierte hier nicht. Die Ewigkeit war schließlich alles, was es hier gab, und die war noch lange nicht vorbei. Und in jeder Sekunde wuchs ihre Sehnsucht und ihre Verzweiflung.