Ein Mann mit hochrotem Kopf hatte sich hinter der Theke verkrochen und umklammerte einen kleinen Schaft, in dem eine winzige Klinge steckte. Normalerweise benutzte er den Schaft in Verbindung mit einem färbenden Stück Kohle, um die Strichliste der Trunkenbolde zu vervollständigen, die bei ihm anschreiben ließen. Er hatte eine Pfeilspitze aufgehoben, die er einmal beim Aufräumen gefunden hatte. Nun hatte er aus den zwei Komponenten eine notdürftige Waffe gebastelt. Viel hätte sie ihm im Ernstfall nicht genutzt. Der Wirt wusste das, und trotzdem umklammerte er das kleine Objekt, als hinge sein Leben daran. Er starrte zur Decke. Das blaue Licht pulsierte über seinem Kopf und ein eigenartiger Ton begleitete die Szene.
So viel Aufregung hatte sich Ursec nie gewünscht. Er war in einer ländlichen Umgebung aufgewachsen. In seiner Familie hatte man alles etwas ruhiger angehen lassen. Sein Vater ging ab und zu in den Wald und kehrte mit zurechtgehackten Holzstücken zurück, die er gut zu Schränken und Kommoden verarbeiten konnte, während seine Mutter aus dem Gemüse, das sie selbst im Garten anpflanzte, eine leckere Suppe zubereitete. Die Tage schienen immer endlos lange zu sein, und niemand schien das Worte „Stress“ oder „Hektik“ jemals gehört zu haben. Nur manchmal wurde es etwas lauter, wenn sein Vater seine Kunden wieder einmal auf die nächste Woche vertrösten musste. Ursec wollte schon immer ein Wirtshaus sein Eigen nennen, und als sein verstorbener Onkel es ihm vererbte, konnte er seinen Traum endlich wahr machen. Er stellte sich vor, den Leuten den Geschmack des Alltags mit den besten Getränken des Landes ein bisschen zu versüßen, ihnen eine ordentliche Unterkunft für die Nacht bereitzustellen und sich ihre Sorgen und Geschichten anzuhören. Er lernte zwar mit der Zeit auch die Schattenseiten des Gewerbes kennen, doch weitestgehend deckte sich die Realität mit seiner Vorstellung von diesem Beruf und es gab wenig Probleme. Was er allerdings in den letzten zwei Tagen erlebt hatte, reichte seiner Meinung nach für den Rest seines Lebens.
Die Krüge im Schrank begannen zu tanzen und der Boden zu vibrieren. Der Ton schwoll zu einer Art Schrei an, der aus der Richtung der leuchtenden Gestalt kam. Ursec presste sich die Hände an die Ohren, nachdem der gebastelte Dolch kaum hörbar auf den Boden gefallen war. Als er es kaum noch aushielt, endete der Schrei abrupt und es wurde dunkel im Raum. Ein Poltern war zu hören, als wenn ein Körper auf dem Boden aufschlagen würde. Der Wirt erkannte seine Wirtschaft wieder, als das Tageslicht den Ausschankraum wieder erhellte. Er hatte zuerst geglaubt, eine andere Welt zu betreten. Niemals zuvor hatte er ein solches Licht gesehen. Es schien von überall herzukommen, obwohl das Zentrum ganz eindeutig diese Gestalt in der Mitte des Raumes gewesen sein musste. Er saß noch einige Minuten mit angezogenen Beinen da, an die Rückwand der Theke gepresst. Als er gerade so viel Mut zusammennehmen konnte, um sich wieder hinzustellen, drückte ihn ein Stöhnen auch gleich wieder zurück auf seinen Platz hinter dem Tresen. Es folgte ein heftiges Fluchen und ein Geräusch, als wenn ein Stuhl auf dem Boden herumgerückt würde. Ermutigt von diesen vertrauten Klängen drehte sich der Wirt gebückt herum und stand langsam auf. Er musste seinen Blick zweimal durch den Raum wandern lassen, bevor er das Sektenmitglied sah, das offensichtlich versuchte, sich an einem Stuhl hochzuziehen. Der Wirt kam ihm zunächst nicht zu Hilfe, sondern beobachtete das Geschehen aus sicherer Entfernung. Als nichts weiter passierte, als dass ein Stuhl hin und hergeschoben wurde, begleitet von einem ärgerlichen Murren, beschloss er, ihm doch unter die Arme zu greifen. Er machte ein paar Schritte um den langen Tisch mit den Barhockern davor und blieb plötzlich stehen, als ein Schatten an einem der Fenster vorbeihuschte. Wenig später wurde die Tür aufgestoßen und eine mit Schlamm besudelte Gestalt humpelte ein paar Schritte in den Raum hinein. Ein auffallend weißes Stück Tuch war um ihren Oberschenkel gebunden. Fioxa benutzte den Speer, um die Tür wieder ins Schloss fallen zu lassen. Nach einem kurzen Blick auf Ursec schaute sie schuldbewusst nach unten und flüsterte:
„Entschuldigung.“
Der Wirt stemmte die Arme in die Hüften und musterte seine alte Freundin. Er hatte sich vorgenommen, der Amazone seine Meinung zu sagen, wenn sie zurückkehrte, doch nach dem seltsamen Vorfall gerade und mit einem Blick auf ihren humpelnden Gang vergaß er seinen Vorsatz schnell. Er wusste im ersten Moment nicht, wem er zuerst helfen sollte. Er versuchte, eine strenge Miene aufzusetzen, was ihm kaum gelang.
„Wo hast du nur gesteckt? Und warum hinkst du in mein Gasthaus?“
Fioxa hatte sich mittlerweile in einem schönen alten Stuhl niedergelassen. Sie zog die Luft durch die Zähne und beschloss, die Erklärung so kurz wie möglich zu halten:
„Also... eigentlich wollte ich nur ein wenig Fischen gehen. Ich dachte, nachdem dein Problemgast die Speisekammer ausgeräubert hatte, würdest du ein wenig Nachschub an Essbarem benötigen. Allerdings gab es... Probleme. Bissige kleine, widerwärtige Probleme.“, fügte sie etwas leiser hinzu. Der Wirt schaute entsetzt drein.
„Der Fluss?! Aber dort wimmelt es nur so von Monstern! Ich habe doch gesagt, dass es dort nicht sicher ist. Erst gestern hatte mir wieder ein Wanderer erzählt, dass er dort jenseits der Barriere eigenartige Spuren entdeckt hat. Was ist passiert?“
Mittlerweile hatte sich Ursec auch setzten müssen. Ein paar Meter weiter weg stöhnte etwas. Fioxa reckte den Kopf in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernahm, bevor sie antwortete:
„Nun ja, ich musste meinen Fang ein paar Viechern überlassen, die wohl hungriger waren als ich... Was ist denn mit dem los? Ist er immer noch nicht nüchtern?“, fragte sie, mit einem Blick auf den am Boden herumkriechenden Pedor. Ursec war schon bei ihm, fasste ihm unter die Arme und half ihm auf einen Stuhl in der Nähe.
„Ach ja, über ihn möchte ich mit dir übrigens auch noch reden... und nein, er steht nicht mehr unter Alkoholeinfluss. Ich bin mir nicht sicher, was gerade mit ihm passiert ist. Vielleicht kann er es ja selbst erklären, wenn er wieder beisammen ist.“
Der Wirt bemerkte etwas Grünes hinter dem weißen Verband um den Oberschenkel der Amazone.
„Hast du dich verletzt? Wie schlimm ist es?“
Fioxa winkte ab, doch ihr Gesicht konnte nicht ganz die Schmerzen verbergen, die ihr durch den Körper fuhren. „Ich habe hier noch irgendwo ein Gefäß mit guter Salbe.“, fuhr Ursec fort, während er versuchte, Pedor aufrecht auf den Stuhl zu setzten.
„Das hat Zeit, ich habe ein paar Heilkräuter gefunden, die die Blutung stoppen werden. Ich habe sie schon oft benutzt - benutzen müssen.“
„Wo... wo bin ich? Was ist da gerade passiert?“
Der Mann in der alten Uniform stierte vor sich ins Leere und atmete schwer. Dann schien er plötzlich wieder in die Realität zurückzukehren, denn er starrte plötzlich mit einem wilden Gesichtsausdruck auf die Amazone. Er fummelte an seiner Kleidung herum und gab wenig später auf. Die Amazone zog eine Augenbraue hoch.
„Also schön“, seine Stimme klang noch etwas belegt, „reden wir.“
Fioxa warf einen fragenden Blick zu Ursec, der nur mit den Schultern zuckte. Er hatte eine andere Reaktion von diesem notorischen Nervtöter erwartet. Schließlich hatte er gerade etwas sehr Ungewöhnliches durchgemacht, und der Wirt kaufte ihm nicht ab, dass er sich daran nicht erinnern konnte.
„Also zunächst möchte ich mal wissen, wo meine Lebensversicherung hingekommen ist - sprich meine Dolche...“
Die Amazone blickte gelangweilt zur Seite und pfiff eine Melodie. Der Wirt wollte seinem Gast diese Information auch nicht unbedingt geben, wollte aber auch die Situation nicht noch mehr verschärfen. Pedor trommelte mit den Fingern auf dem Tisch, bevor er fortfuhr:
„Außerdem erinnere ich mich dunkel an eine Frau, die mein Essen stehlen wollte.. .und mich ganz nebenbei unsanft aus dem Fenster befördert hat. Und da Sie die einzige Frau hier sind...“
Fioxa schaute Pedor an. Er war es tatsächlich. Von diesem Mann hatte sie als kleines Kind viele aufregende Geschichten gehört. Jemand hatte einmal ein Portrait von ihm in ihr Lager gebracht. Er war zwar mittlerweile etwas gealtert, doch immer noch recht attraktiv. Nur sein Benehmen passte so ganz und gar nicht zu einem Helden. Früher hatte sie immer davon geträumt ihm einmal zu begegnen. Doch nun wünschte sie sich, ihn nie getroffen zu haben. Er reichte so gar nicht an das Bild heran, das sie sich einst von ihm gemacht hatte. Sie musterte ihn noch einmal kurz, bevor sie die Backen aufblies und die Luft langsam entweichen ließ. Ursec fürchtete schon um die Inneneinrichtung seines schönen Gasthauses. Es war schon ein ziemlicher Schock für ihn, dass Pedor sich an die Geschehnisse der letzten Nacht erinnern konnte. Zum Glück waren noch keine Gäste anwesend, die verletzt werden konnten, obwohl ihn das wunderte. Normalerweise war Peppi der erste, der morgens wieder auf der Matte stand. Den hätte diese Kontroverse allerdings auch nicht interessiert, solange er nur etwas hatte, mit dem er seinen Verstand betäuben konnte. Ursec wollte gerade ein paar beschwichtigende Worte finden, als Fioxa zu reden anfing:
„Es gibt ein viel größeres Problem, um das wir uns sorgen müssen. Ich muss euch leider mitteilen, dass die Magiebarriere viel stärker geworden ist.“
Eine kurze Pause folgte. Unverständnis zeichnete sich im Gesicht des Wirtes ab.
„Ich kann daran beileibe nichts Schlechtes erkennen. Das bedeutet doch, dass es die Monster noch schwerer haben werden, bis zu meinem Wirtshaus vorzudringen...“ vermutete er. Pedor war die Ablenkung von seinen Problemen augenscheinlich nicht recht, allerdings enthielt er sich erst einmal eines Kommentars. Die Amazone dachte kurz nach und nickte.
„Ja, das ist der Vorteil. Der Nachteil ist, dass auch wir Menschen die Barriere nicht mehr überwinden können.“
„Was??“ Auf einmal war Pedors Interesse geweckt.
„Soll das etwa heißen, ich kann diesen Ort nicht mehr verlassen?? Wie kam ich bloß auf die Schnapsidee, mich hier einzuquartieren...“
Ursec verkniff sich die deftige Antwort, die ihm auf der Zunge lag und versuchte, diese Neuigkeit erst einmal zu verdauen. Das wäre eine Erklärung für das Ausbleiben seiner Stammgäste. Offensichtlich saßen sie in der Falle. Er versuchte, seine Angst zu unterdrücken und klar zu denken.
„Wenn die Barriere jetzt so massiv ist, wie konntest du dich dann außerhalb derselben aufhalten?“
Fioxa hatte Pedor nachgeschaut, der aufgestanden und zum Fenster gegangen war. Als Reaktion auf die Frage des Wirtes drehte das Sektenmitglied den Kopf.
„Es war knapp, ich hätte es fast nicht geschafft. An der Markierung bin ich auf eine unsichtbare Wand gestoßen, die ich nur mit äußerster Gewalt durchdringen konnte. Ich nehme an, dass sie mittlerweile dicht ist.“
Der Gast in der alten Uniform schaute nervös aus dem Fenster, bevor er sich abrupt umwandte und auf die Tür zustrebte. Er ignorierte die fragenden Blicke und verließ das Gasthaus mit entschlossenem Schritt.
„Der kommt wieder.“
„Wieso hast du ihn aus dem Fenster geworfen?“
„Das habe ich nicht, es war ein Unfall. Außerdem hat er meinen Speer angefasst...“
„Du solltest es nicht so persönlich nehmen, wenn sich jemand an deiner Waffe vergreift.“
Ursec blickte besorgt auf die Verwundung seiner Freundin.
„Ich gehe mal und hole dir etwas Salbe. Sie wird den Schmerz ein wenig betäuben.“
Er stand auf und umfasste die Stuhllehne.
„Ich hätte niemals damit gerechnet, dass diese Barriere eines Tages stärker werden könnte. Es war sowieso erstaunlich, dass sie so lange gehalten hat, nach diesem Vorfall damals. Ich hätte damit gerechnet, dass sie irgendwann zusammenbricht, und das eher früher als später...“
„Du hast Recht. Normalerweise müssen die Barrieren um ein Dorf zum Beispiel jeden Tag erneuert werden. Wenn dem Zauberer bei diesem Prozess auch nur die kleinste Konzentrationsschwäche unterläuft, kann es vorkommen, dass sie an verschiedenen Stellen durchlässig wird. Nur ein Magier wäre also dazu imstande, die Barriere aufrecht zu erhalten, geschweige denn, sie zu verstärken...“
Die Amazone beendete abrupt den Satz. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck an, als wenn ihr etwas Wichtiges eingefallen wäre. Mit dem Ende ihres Speeres wies sie zur Treppe.
„Was wäre, wenn unser Freund da oben etwas damit zu tun hätte? Schließlich ist er ein Magier.“
„Das ist unmöglich, er ist noch nicht wieder bei Bewusstsein. Wie soll er im Schlaf Einfluss auf die Barriere nehmen können? Außerdem können wir uns gar nicht sicher sein, ob er wirklich ein Nachfahre der alten Meister ist.“, gab Ursec zu bedenken, bevor er den Stuhl an den Tisch schob und sich auf den Weg in seine privaten Gemächer machte. Noch bevor er die Türe hinter der Theke erreichte, hörte er, wie Fioxa seinen Namen rief. Er wandte sich um und sah, wie sie mit dem Finger zur Treppe wies.