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Ritter
Für einen kurzen Moment schien alles ganz klar zu sein und sie war sich sicher, die Kontrolle wieder übernehmen zu können. Sie wusste zuerst nicht genau, wo sie sich befand. Ein Heulen und Rauschen durchzog ihren Kopf und „da draußen“ herrschte ein einziges Tohuwabohu. Ihr wurde wieder schwindelig und die Schwärze drohte sie zurückzudrängen. Verzweifelt kämpfte sie dagegen an. Jeder dumpfe Herzschlag ließ sie tiefer sinken, und sie spürte, wie sie wieder in ihr geistiges Verließ zurückgedrängt wurde. Sie stieß einen Schrei der Verzweiflung aus, den die unendliche Leere sogleich verschluckte. Sie musste es aufhalten! Es durfte nicht so weitergehen! Ihr Wunsch, jemand möge ihr beistehen, war stärker als alles andere. Sie vergoss etliche Tränen, doch sie spürte sie nicht. Sie hob ihre Arme und rief etwas, bevor ein quälender Schmerz ihre Gedanken zerbersten ließ. Ein weiterer Herzschlag später vernahm sie nur noch ein Rauschen, ein Orkan schwarzer Gedanken, der sie bedeckte wie ein tonnenschweres Gewicht.
Blitzschnell glitt die Pfeilspitze durch die Wasseroberfläche. Einer der Schatten, die am Grund zu sehen waren, stob nicht wie die anderen zur Seite. Die Amazone fasste die Leine, die sie an dem Pfeil befestigt hatte, und zog. Durch das Zappeln ihrer Beute kräuselte sich die Oberfläche, und wenig später benetzte der Fisch das Ufergras. Die Kriegerin kniete sich hin und steckte den Pfeil in den Boden. Normalerweise erlöste der Tod ihre Opfer schneller. Sie hasste es, ihre Beute in ihrer Agonie zuzusehen. Sie war es gewohnt, schnell und effizient zu töten. Selbst den Monstern, die sie schon bekämpft hatte, bescherte sie normalerweise einen schnellen Abgang in die Hölle. Sie schaute auf die Forelle und flüsterte:
„Galosch tre. Dein Tod wird unser Leben verlängern. Dafür ehren wir dich und deine Art. Resa pal.“
Die Amazone erhob sich wieder und zog die Pfeilspitze aus ihrer Beute. Viele Angehörige ihres Stammes folgten noch diesem alten Ritual, allerdings erinnerte sie sich nicht genau an die Bedeutung der fremden Worte. Es wird wohl so etwas wie „Ruhe in Frieden“ bedeuten, aber sicher war sie sich nicht. Es war ihr nur wichtig, den alten Traditionen genüge zu tun. Sie griff nach ihrem Speer, auf den schon zwei weitere Fische aufgespießt worden waren. An einen Baum hatte sie zwei Symbole geschnitzt, die der Sage nach das Jagdglück steigern sollten. Fioxa war zwar nicht abergläubisch, aber es gab ihr irgendwie ein sicheres Gefühl beim Fischen. Sie konnte den Bogen ruhiger halten. Sie hatte sogar daran gedacht, den alten Baum zu suchen, an dem sie damals die Zeichen hinterlassen hatte. Der Waldboden war ab hier allerdings zu sumpfig und das Gelände zu unsicher, um noch weiter am Fluss entlang zu gehen.
Sie stellte ihren Bogen auf den Boden und drückte auf das gewundene Holz. Es war in ihren Augen einer der hässlichsten Bögen weit und breit. Er war aus einem weichen Holz gefertigt und mit einem schwarzen harzigen Öl verstärkt worden. Was für seine Leistungsfähigkeit sicherlich zuträglich war, war für sein Aussehen katastrophal. Fioxa musste allerdings zugeben, dass er mittlerweile ein Teil ihres Körpers geworden war, eine Art verlängerter Arm, den sie vollständig unter Kontrolle hatte. Sie würde ihn gegen nichts in der Welt eintauschen. Mit einem Lächeln entfernte sie die Sehne und verstaute den schwarzbraunen Stock im Köcher.
Die Kriegerin wanderte am Fluss entlang und fragte sich, ob der Magier, den sie gestern aufgegabelt hatte, mittlerweile aufgewacht sein mochte. Sie dachte auch an Ursec, der so viel Angst vor den Kreaturen des Waldes hatte, dass er in seiner Phantasie aus den harmlosen Forellen blutrünstige Bestien machte. Doch der Fluss hatte sich tatsächlich verändert. An einigen Stellen war der Weg zugewuchert, und seltsame Spuren waren im schlammigen Boden zu sehen. Aber auch der Geruch der Luft und die Geräusche aus dem Wald waren nicht mehr dieselben wie früher. Das alles löste bei der Amazone eine leicht nervöse Grundstimmung aus. Sie freute sich darauf, mit Ursec zusammen die Fische über dem Feuer zu räuchern und bewegte sich schneller an den moosbewachsenen Steinen vorbei. Mittlerweile hatte sich eine dicke Schlammschicht auf ihre Schleicher gesetzt. So bezeichnete sie ihre Schuhe, die aus Holz und Fellstücken zusammengesetzt waren. Sie hatten eine besondere Schicht Leder an den Sohlen, so dass sie meistens bis auf wenige Meter an ihre Beute herankam. Mit diesen braunen Klumpen an den Füßen würde sie aber vorher irgendwo steckenbleiben. Sie bemerkte in der Ferne einen kleinen Pflock am Wegesrand. Sie atmete erleichtert auf und versuchte auf dem Weg dorthin auf die Grasbüschel zwischen den Schlammpfützen zu treten. Dann blieb sie stehen.
Ein Warenhändler auf dem Weg zu seinem nächsten Kunden hätte wahrscheinlich nicht einmal die Pferde gezügelt, geschweige denn angehalten. Er musste schließlich seinen Zeitplan einhalten, um seinen guten Ruf als zuverlässiger Händler nicht aufs Spiel zu setzten. Allerdings hätte er gut daran getan, einen erfahrenen Jäger mitfahren zu lassen, der sich mit den neuen und alten Gefahren des Waldes auskannte. Dieser hätte bei diesem Geräusch vielleicht zur Vorsicht oder gar zur Umkehr geraten.
Die Amazone war sich im ersten Moment nicht sicher. Es konnte genauso gut eine Seeratte sein, die von einem Greifvogel gefangen worden war, aber dieses Geräusch war anders. Es klang eher wie ein langgezogenes Quäken. Sie brauchte einen kurzen Augenblick, um es einzuordnen. Dann wandte sie den Kopf und sah etwas Kleines durch das Unterholz flitzen. Es machte ein paar kleine Sprünge, bis es auf dem Weg landete. Es stieß sich noch einmal mit seinen kräftigen Hinterbeinen ab und flog genau auf den Hals der Kriegerin zu. Auf halbem Weg dorthin öffnete der schwarze Ball so etwas wie einen Mund und ließ ein paar scharfe kleine Zähne erkennen. Im nächsten Moment blieb das Wesen mitten in der Luft hängen und zappelte. Seine Beine und zurückgebliebenen Arme erschlafften nach einiger Zeit und hingen leblos herab. Sein Speichel vermischte sich mit schwarzem Blut und rann an dem alten Holz herunter, tropfte auf halbem Wege auf den Boden und färbte das Gras dunkel. Die Forellen steckten halb in der Kreatur, während die Spitze des Speeres aus seinem Hinterkopf ragte. Die Amazone schaute sich nervös um und wischte sich eilig ein paar Blutspritzer aus dem Gesicht. Sie erkannte diese Wesen. Sie hatte zwar bis jetzt noch nie eines mit eigenen Augen gesehen, doch die Schilderungen der Bewohner der Dörfer, durch die sie gereist war, ließen an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig. Viele arglose Wanderer waren schon Opfer dieser kleinen Pelzknäuel geworden, die gemeinhin als „Quäker“ bekannt waren. Sie erinnerten entfernt an die harmlosen Omokks, die früher einmal in diesen Wäldern gelebt hatten und lediglich Pflanzen umbrachten. Dieses Exemplar hier war ganz sicher kein Vegetarier. Nachdem sie in der Umgebung keine weiteren Quäker ausmachen konnte, schüttelte sie angeekelt den Speer und schleuderte den Kadaver zusammen mit ihrem Fang ins nächste Gebüsch. Das Rauschmittel Adrenalin schärfte ihr Gehör. Sie hielt den Speer in Halshöhe und machte langsam ein paar Schritte seitwärts auf einen Pflock zu. Dabei behielt sie immer den Wald im Auge. Schnell bewegten sich ihre Augen von Baum zu Baum und sie erinnerte sich an ihr Training. Hinter ihr plätscherte der Bach, doch sie hörte ihn nicht, sondern konzentrierte sich auf die Laute aus dem Wald. Ab und zu schaute sie zur Seite, um den Abstand zur Markierung abzuschätzen. Es fehlten nur noch wenige Meter, als es losging.
Fioxa wusste zwar, das diese Geschöpfe in Gruppen jagten, aber sie hatte gehofft, dass ihre Glücksgöttin nicht ausgerechnet heute einen freien Tag genommen hatte und es sich bei dem Angreifer lediglich um einen Einzelkämpfer gehandelt hatte. Mindestens drei verschiedene Quäklaute konnte sie isolieren, einer davon war bereits ziemlich nah, höchstens fünf Meter entfernt. Nervös schaute sie zu der Markierung. Sie machte einen weiteren Schritt, bevor das Knäuel zum Angriff überging. Diesmal allerdings sprang es sein vermeintliches Opfer nicht sofort an. Es hopste auf den Weg, eine Schrittlänge von ihr entfernt und hechelte. Die Amazone wandte den Kopf und machte einen weiteren Schritt rückwärts, während sie ihren Gegner mit den Augen fixierte. Sie trat auf einen flachen Stein, der feucht und mit Moos bewachsen war. Sie rutschte zur Seite, der Speer wippte nach oben. Auf diesen Augenblick schien die Kreatur gewartet zu haben. Sie zeigte ihre Zähne und sprang. Die Kriegerin fing sich sofort wieder, allerdings den Bruchteil einer Sekunde zu spät. Aber dieser Quäker hatte nicht ihren Hals im Visier. Fioxa bemerkte das und ging blitzschnell seitlich in die Knie, damit es sich nicht in ihrem Oberschenkel verbeißen konnte. Die johlende Pelzkugel huschte an ihrem Oberschenkel vorbei. Eine scharfe Kralle riss jedoch die Schlangenhaut auf und durchdrang auch die Haut der Amazone, die laut aufschrie. Sie riss die Augen auf und biss die Zähne aufeinander. Der brennende Schmerz steigerte ihre Wut. Das Knäuel landete hinter ihr im Matsch und quiekte. Sie atmete ein, hielt die Luft an, ergriff den Speer mit der linken Hand, riss den Arm nach außen und legte ihre gesamte Wut in den Stoß. Die Waffe zischte seitwärts durch die Luft und rammte in einem spitzen Winkel in den Boden. Ein Gurgeln hinter ihrem Rücken räumte jeden Zweifel aus, dass sie dieses Ding verfehlt haben könnte. Sie zog den Speer nach vorne und erhob sich. Schlamm bedeckte ihre Knie und Schienbeine. Der pumpende Schmerz ließ warmes Blut aus der Rückseite ihres linken Oberschenkels laufen. Sie vernahm das Klopfen von Regentropfen auf dem Köcherboden und wunderte sich, warum sie den Regen erst jetzt bemerkte. Fioxa erhob sich so schnell, wie es ihre Verletzung zuließ und humpelte rückwärts über den aufgeweichten Boden. Mäander schwarzen Blutes zeichneten ein obskures Bild auf den Grund, in dessen Zentrum der tote Körper des Quäkers lag. Sie hatte den Pflock am Wegesrand fast erreicht, als es im Unterholz erneut zu rascheln begann.
„Diese verdammten Dinger fangen an, mich aufzuregen.“, fauchte sie kaum hörbar.
Unter den Regen, der ihr Gesicht in kleinen Bächen hinablief, mischten sich unbemerkt ein paar salzige Tropfen. Sie erhob ihre Waffe und machte noch einen Schritt rückwärts. Plötzlich stoppte sie, obwohl ihr nichts im Weg zu sein schien. Entsetzt riss sie die Augen auf und tastete nach hinten. Sie bewegte die Hand durch die Luft, als wenn sie etwas berühren würde, aber es war nichts zu sehen. Der Holzpflock war vor langer Zeit genau hier neben dem Weg aufgestellt worden. Die Verwitterung hatte mittlerweile die rote Farbe der Markierung verschwinden lassen. Unvermittelt rollte plötzlich ein hechelnder schwarzer Ball über den Weg und purzelte ins Wasser, bevor ihn der inzwischen angeschwollene Bach mitriss. Die Amazone machte kurz Anstalten, einen Angriff abzuwehren, bevor sie wieder nach hinten fasste. Ihr ganzer Körper war angespannt. Plötzlich glitt ihr der Speer aus den Fingern, ohne dass sie eine übertriebene Bewegung gemacht hätte. Er war durch den Regen und die Körperflüssigkeiten des fremden Tieres mittlerweile so glitschig geworden, dass nicht einmal die Kerben einen sicheren Halt bieten konnten. Die Spitze bohrte sich in den Schlamm, bevor der Speer zur Seite kippte. Sofort ging die Kriegerin in die Hocke und griff nach der Waffe. Die Wunde quittierte diese Bewegung mit einer erneuten Welle aus Schmerz, die sie schüttelte. Ihre Hand verharrte mitten in der Bewegung, etwa einen halben Meter über dem Speer. Die Amazone fluchte und schaute auf, als sie ein Klatschen hörte. Ein weiterer Vertreter aus der gierigen Jagdgruppe hatte sich ein paar Meter vor ihr auf den Weg gesetzt. Dieses Exemplar war ganz offensichtlich erfolgreicher bei der Hatz als seine Kollegen. Es war doppelt so groß und hechelte auch entsprechend lauter. Neugierig neigte es den Kopf zur Seite und musterte seine Hauptspeise in spe. Es wippte hin und her. Fioxa erhob sich langsam und spielte mit dem Gedanken, einfach Anlauf zu nehmen und dieses Ding in den Fluss zu kicken. Wahrscheinlich wäre dann ihr Fuß das erste gewesen, was es sich hätte schmecken lassen. Sie drückte sich mit aller Gewalt gegen die unsichtbare Wand, die sie hinter sich spürte. Das seltsame Wesen kam ein paar Schritte näher und brummte. Die Amazone breitete die Arme aus und tastete nach links und rechts.
„Hau ab, ich würde dir sowieso nicht schmecken! Ich bin ungenießbar, wenn ich im Schlamm gebadet habe!“
Ein gleichgültiges Hecheln folgte. Nach einer Weile brummte es wieder, diesmal ein wenig lauter als vorher. Vielleicht wunderte es sich, warum sein Opfer nicht den Versuch unternahm, sich aus dem Staub zu machen. Der Hunger war aber wohl doch stärker als seine Neugier, denn jetzt ging es in die Hocke und sprang. Die Kriegerin sah ein quäkendes Maul mit verdammt vielen spitzten Zähnen auf sich zufliegen, das es eindeutig auf ihren Kopf abgesehen hatte. Sie kniff die Augen zusammen. In diesem Augenblick hätte sie alles dafür gegeben, im Wirtshaus bei einem ordentlichen Frühstück zu sitzen, auch wenn sie sich dafür Ursec`s tadelnde Predigt hätte anhören müssen. Fioxa musste zugeben, dass sie diesmal möglicherweise etwas zu unvorsichtig gewesen war. Aber wer konnte schon ahnen, dass sich der Rückweg als dermaßen schwierig herausstellen würde. Sie drückte ihren Kopf mit aller Gewalt gegen das unsichtbare Etwas. Der Schmerz verlagerte sich in ihrem Körper, als sich der Köcher in ihren Rücken bohrte, und ihr Schrei vermischte sich mit dem Quäklaut des Pelzballes. Als das Knäuel nur noch wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt war, gab die Wand nach. Es knackte in ihrem Hals als ihr Kopf in den Nacken geschleudert wurde. Sie stöhnte laut auf. Plötzlich spürte sie, wie der Rest des Körper folgte, ganz so, als wenn sie durch den Riss in einer Stoffwand fallen würde. Der Quäker flog mit voller Wucht gegen irgend Etwas in der Luft, begleitet von einem klagenden Laut, und fiel in den nassen Sand. Laut winselnd rollte er sich zu einem Ball zusammen und kugelte über den Weg. Die Kriegerin landete der Länge nach auf dem nassen Boden. Wenig später erschienen zwei Beine aus dem schlammigen Etwas und es sprang laut quäkend zurück in den Wald. Fioxa`s Gesichtszüge entspannten sich. Erst jetzt realisierte sie, dass sie noch einmal knapp mit dem Leben davongekommen ist. Sie legte ihre Hand auf den Speer und schloss die Augen. Offensichtlich hatte ihre Glücksgöttin doch noch ein wachsames Auge auf sie. Sie spürte, wie der Regen langsam durch ihre Kleidung drang. Nachdem sich ihr Herzschlag ein wenig beruhigt hatte, erhob sie sich mühsam aus der Nässe und tastete noch einmal nach der unsichtbaren Wand. Dabei fiel ihr Blick auf zwei Pfeile, die im Eifer des Gefechtes aus dem Köcher gefallen waren. Sie lagen jenseits der Wand halb mit Sand bedeckt in den Pfützen. Ein plötzlicher Schmerz durchfuhr sie nach einer unbedachten Bewegung und erinnerte sie daran, dass mit ihrem Körper nicht alles in Ordnung war. Sie wandte sich um und humpelte langsam in Richtung Gasthaus, sich ab und zu auf den Speer stützend. Der Fluss begleitete die Kriegerin nicht länger. Er bog kurz vor der unsichtbaren Wand nach Osten ab.
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