Es mochte so gegen drei Uhr nachts gewesen sein, als ein lautes Geräusch die Amazone aus ihrem Schlaf riss. Sie hatte es sich auf ein paar aneinander gestellten Stühlen in dem Raum mit dem fremden Magier gemütlich gemacht. Ein paar Kerzen, die der Wirt offensichtlich noch in das Zimmer gestellt hatte, spendeten ein wenig Licht. Es war sowieso eine ziemlich unruhige Nacht. Zuvor hatte sie schon Gepoltere im Parterre vernommen. Das Geräusch, das sie jetzt vernahm, war eindeutig näher und auf demselben Stockwerk. Der erste Griff ging zu ihrem Speer, den sie auf den Boden gelegt hatte. Langsam setzte sie sich auf und schaute sich um. Schnell erfasste sie jedes Detail im Zimmer. Der Fremde war immer noch nicht wieder aufgewacht, selbst dieses Geräusch ließ ihn friedlich weiter schlummern. Sie stand auf und lauschte. Es verging einige Zeit, bis ein leises Jammern zu hören war. Sie machte ein paar Schritte auf die Tür zu und öffnete sie einen Spalt. Auf dem Gang war es dunkel, doch ihre Augen gewöhnten sich schnell an die Schwärze der Nacht. Bereits als kleines Kind war ihr beigebracht worden, die Dunkelheit als einen Freund und nicht als Feind anzusehen. Mit ihrem geschärften Gehör konnte sie den Aufenthaltsort der Beute auch ohne eine Fackel ausmachen, während sie sich in den Schatten der Nacht verbarg.
Das Jammern wurde lauter, als sie sich langsam den Gang herunter bewegte, immer auf ihre Deckung achtend. Sie hielt den Speer hinter ihrem Rücken, um dem möglichen Gegner den ersten Eindruck der Harmlosigkeit zu vermitteln. Allein ihre Statur und wildes Aussehen hätten die Gegner allerdings schon in die Flucht schlagen können.
Vorsichtig öffnete sie die Tür zu der Kammer, aus der das Geräusch kam, als es plötzlich verstummte. Die Amazone hielt in der Bewegung inne, ihr Herz klopfte und Adrenalin strömte durch jede ihrer Adern. Jeder Muskel in ihrem Körper war angespannt. Sie hob ihre Waffe ein wenig und lauschte.
„Lalalala... sch-schööööne Annelieeese.“
Die Kriegerin zuckte zusammen und verharrte kurz, bevor sie die Tür aufriss und mit einem schnellen Blick die Situation analysierte. Sie konnte es nicht fassen. Ein betrunkener Mann räkelte sich in einem für ihn viel zu großen Bett und gab seltsame Laute von sich. Mit einem zweiten Blick auf die Nahrungsmittel rund um das Bett wurde ihr auch klar, wen sie da vor sich hatte. Eine der Gourmetplatten war umgefallen und das gute Essen lag auf dem Boden verstreut. Sie hielt den Speer fest in der rechten Hand und musterte das Sektenmitglied. Seine Kluft erinnerte an die eines Waldjägers. Sie war aus grünem und braunem Leder gefertigt und an manchen Stellen zusammengenietet. Das Leder sah insgesamt schon arg mitgenommen aus, was das hohe Alter seiner Kleidung verriet. In Brusthöhe prangte das Emblem der Klingensekte: ein schwarzes und ein weisses Schwert kreuzten sich, und in der oberen Mitte war ein Kreis aus weissen Punkten zu sehen. Die Kriegerin erkannte das Zeichen. Es war über der Tür eines Außenpostens angebracht, den die Sekte letztes Jahr in ihrer Stadt hat bauen lassen. Allerdings sah es mittlerweile irgendwie moderner aus. Der Mann hob den Kopf und starrte sie mit glasigen Augen an.
„Holla holla. Ich wusste ja, dass das hiern gutes Gasthausch is, aber das nenn ich Service.“
Offensichtlich konnte er seinen schweren Kopf nicht länger oben halten und ließ ihn zurück ins Kissen fallen.
„Ziemlich clever von dem alten Kupferstecher. Bei dem Anblick vergess ich sogar mein Hunger.“
Er kicherte albern vor sich hin. Der Geruch von Wein hatte mittlerweile die empfindliche Nase der Kriegerin erreicht und sie verzog das Gesicht. Dieser Kerl war noch viel schlimmer, als Ursec ihn beschrieben hatte. Wie konnte man sich bloß so gehen lassen, fragte sie sich und beschloss, diesen Raum schnellstmöglich wieder zu verlassen. Allerdings nicht, ohne ein paar Speisen für sich zu beanspruchen. Sie stellte den Speer an die Wand und machte sich daran, eine der Platten anzuheben, als sie etwas aufblitzen sah. Im Bruchteil einer Sekunde ließ sie die Platte fallen und machte instinktiv eine Bewegung zur Seite. Ein silberner Gegenstand flog knapp an ihrem Gesicht vorbei und blieb in der Tür des gegenüberliegenden Zimmers stecken. Die Amazone atmete ein paarmal schnell ein und aus, bevor sie den Blick von dem Dolch löste und die Richtung fixierte, aus der er gekommen war. Der Mann in der Sektenkluft ließ gerade den Arm sinken.
„Verdammt nochmal, wieso hastdu dich jetz bewecht? L-lass blosch die Finger von meim Essen.“
So schnell hatte Pedor bestimmt noch nie einen Speer vor seiner Nase gehabt. Doch dieser Umstand entging dem Kämpfer. Er hatte mittlerweile wieder die Augen zugemacht und schmunzelte, als ob er gerade einen Sack voll Gold gefunden hätte. Die Amazone war mittlerweile an einem Punkt angelangt, an dem sie gerne das Versprechen vergessen würde, das sie Ursec gegeben hatte.
„Sag mir nur einen Grund, warum ich deinen Kopf nicht abschneiden, mit dem Essen hier füllen und morgen Mittag dem Wachhord zum Fraß vorwerfen sollte?!“
„Moment mal, der kommt mir bekannt vor... hihi, nich veratn... Augnblick, hier hats doch gar kein Wachho... hor...“ blubberte der Fremde.
Sie beschloss, das Geschwafel zu ignorieren und fing an, mit der freien Hand das Gewand nach Dolchen zu durchsuchen, um sich weitere Überraschungen zu ersparen. Nacheinander landeten die geschmeidigen Waffen auf dem Boden. Mit der anderen Hand hielt sie den Speer ein paar Millimeter über dem Hals des Fremden. Natürlich wusste sie, dass eine unkontrollierte Bewegung von ihm sein Ende sein könnte, aber was konnte sie dafür..?
„Hehey, das haddich wohl so rischtig scharf gemacht, was?...na, nich so grob!“
„Zappel nicht so rum, das könnte deinem Hals nicht guttun... Hey, was haben wir denn hier?“
Langsam bewegte Foxia den vergoldeten Dolch in den Feuerschein einer Kerze. Das war doch nicht möglich. Wieso hatte dieser kleine Schmarotzer einen Dolch des hohen Duncraig´schen Adels bei sich? War er ein raffinierter Dieb?
Sie ließ den Dolch sinken und betrachtete aufmerksam sein Gesicht, wobei sie tunlichst darauf achtete, nicht durch die Nase zu atmen. Ihr Gesicht bekam einen erstaunten Ausdruck.
„Wasn jetz los, wars das schon? Hab ja garnix gespürt.“
Der Betrunkene öffnete die Augen, bemerkte den Blick der Amazone und endlich auch den Speer, der gefährlich Nahe an seiner Gurgel weilte. Blitzschnell grabschte er danach und versuchte, der Kraft der Kriegerin, die auf der einen Seite des Bettes stand, entgegenzuwirken, während er auf der anderen Seite auf den Boden fiel. Er rappelte sich auf, indem er sich gegen den Speer stemmte. Ein Korb mit frischen Äpfeln fiel um und Pedor balancierte zwischen dem umherspringenden Obst herum, während er die Wurfwaffe nun mit aller Kraft zu sich heranzog. Der Kriegerin platzte nun langsam der Kragen. Nicht genug damit, dass dieser Mensch ihren alten Freund tyrannisierte und ihr den Schlaf raubte, nun legte er auch noch Hand an ihren kostbaren Speer, der ihr schon so oft das Leben gerettet hatte. Trotz ihrer Rage versuchte sie, halbwegs gemäßigt zu klingen:
„Nun lass schon los, du verletzt dich nur. Das hier ist kein Kindergeburtstag!“
Die Amazone war beeindruckt von der Kraft, die dieser Mann trotz seiner offensichtlichen Beeinträchtigung noch an den Tag legte, obwohl er so langsam ziemlich schwer atmete. Während er seitwärts durch eine Weinpfütze lief, kam er gefährlich nah an das Fenster, durch das der herrliche Sternenhimmel zu sehen war. Fioxa riss die Augen auf, als ihr die prekäre Situation bewusst wurde. Sie umfasste den Speer fester, nachdem er ihr trotz der Kerben, die sie für einen besseren Halt in den unteren Teil geritzt hatte, fast aus den Händen gerutscht wäre. Für einen kurzen Moment hätte sie lieber nachgeholfen, statt diesen unerträglichen Menschen vor seinem Schicksal zu bewahren. Diesen diabolischen Gedanken schüttelte sie schnell wieder ab und rief:
„Hey, nun beruhige dich mal! Wenn du nicht aufpasst, passiert noch ein Unglück!“
Um diese Wörter zu kompletten Sätzen zusammenzusetzten und ihren Sinn zu verstehen, hätte Pedor wohl mehrere Minuten gebraucht. Das Schicksal hatte allerdings nicht soviel Zeit. Ein besonders harter Apfel diente als Triebfeder der verhängnisvollen Entwicklung. Er trat darauf, verlor den Halt und ließ die Waffe der Amazone los. Die ganze Kraft, die er dem Ziehen des Speeres aufgebracht hatte, fiel nun auf ihn zurück und katapultierte ihn durch das Fenster. Entsetzt verfolgte Fioxa das Schauspiel, bevor sie stolperte und sich ihrerseits auf den Hosenboden setzte. Ein jämmerlicher Schrei endete abrupt, aber nicht wie die Amazone erwartet hatte mit einem Aufschlag. Es raschelte lediglich ein wenig. Verwundert rappelte sie sich auf, rannte zum Fenster und blickte nach unten. Nach einigen Sekunden atmete sie erleichtert aus.
„Dieser alte Hund.“, sagte sie und lachte leise. Pedor war kopfüber in einen bereitgestellten Heuwagen gefallen. Offensichtlich hatte Ursec ihn nach ihrem Gespräch dort plaziert, und Pedor gefiel es dort so gut, dass er sofort einschlief. Sein Schnarchen war unüberhörbar. Fioxa entfernte die Scherben, die ins Innere des Zimmers gefallen waren und beschloss, diesen seltsamen Zeitgenossen ausschlafen zu lassen. Außerdem hielt sie es für eine gerechte Strafe, dass er die Nacht nun dort verbringen musste. Sie wandte sich um und stellte sich mit einem unguten Gefühl die unausweichliche Unterhaltung mit Ursec vor. Vielleicht war er ja ein wenig umgänglicher, wenn sie ihm ihre Hilfe bei der Säuberung des Zimmer anbot. Sie schüttelte den Kopf. Das wird wohl nicht ganz ausreichen, dachte sie. Sie hob einen der Äpfel auf, biss hinein und verzog das Gesicht. Der ausgelaufene Wein hatte den Apfel mit einem klebrige Film überzogen und verlieh dem Obst einen seltsamen Geschmack. Sie beschloss, ein wenig Essen auf ihr Zimmer mitzunehmen und dieses Malheur später aufzuklären. Die Kerzen in diesem Raum verströmten einen süßlichen Duft, der dem einquartierten Gast wohl schöne Träume bescheren sollte. Der Duftschleier begleitete Fioxa bis in ihr Zimmer.