„So, dann wollen wir mal sehen, was passiert.“, sagte Fioxa, bevor sie den letzten Stab mit dem Zepter berührte. Er verschwand in der Erde, genau wie die anderen auch. Zuris murrte. Er hatte mehr erwartet. Doch plötzlich hörte er ein lautes Surren, und zwischen den Stäben, die durch das Gras gut verborgen waren, flimmerte es kurz auf. Neugierig ging er ein paar Schritte an die Anordnung heran. Die Amazone hatte die Stäbe in einem Pentagramm angeordnet. Es erstreckte sich lediglich über den Weg und vielleicht ein, zwei Meter darüber hinaus. So war zwar die Chance geringer, dass das Wesen hineinlief, allerdings war das Feld so viel stärker. Vielleicht konnte man es hinein locken.
Zum ersten Mal seit Langem fühlte Zuris ein leises Gefühl der Hoffnung. Es wurde aber fast sofort von der Beklemmung verscheucht, die die Nähe zu der Kreatur in seinem Herzen auslöste. Er blickte besorgt in die Richtung, aus der er das Gefühl empfing. Sie war bereits sehr nah. Doch er konnte sie nicht sehen. Er erschreckte sich furchtbar, als Ursec eine Hand auf seine Schulter legte und ihn aufforderte, mit ihm ins Haus zu gehen. Zuris nickte stumm. Er sorgte sich um die Kriegerin, die sich mit ernster Miene und dem Speer in ihrer starken Hand hinter einem Baum versteckte. Er hasste das Gefühl, beschützt zu werden, anstatt selbst schützen zu können. Nachdenklich betrachtete er seinen Zauberstab, bevor er dem Wirt in das Gasthaus folgte.
Es krachte laut, als Pedor den Kanonenrumpf aus der Verankerung riss. Holz splitterte und Metallstücke fielen auf den Boden. Er benutzte den wertvollen Zeremoniendolch für die Demontierung. Aber der Kämpfer dachte nicht darüber nach, er handelte wie in Trance. Er zog noch etwas an der Kanone, bis er sie endgültig aus dem Radgestell gelöst hatte. Dann wischte er sich mit der Hand über den schweißnassen Hals und hievte die verstümmelte Kanone auf seine Schulter. Sie bestand aus erstaunlich leichtem Material. Holz oder ähnlichem. Oder vielleicht erschien ihm die Last auch nur so. Pedor dachte nicht viel darüber nach, die Unruhe in seinem Inneren trieb ihn weiter.
Auf dem Weg zur Türe fiel sein Blick auf die zerstörte Vitrine. Wieso liegt einer meiner Dolche zwischen den Scherben, fragte er sich. Er konnte sich nicht erinnern, so sehr er seine Stirn auch in Falten legte. Aber da war etwas. Er versuchte, diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Es lag ihm quasi auf der Zunge, aber er konnte den Gedanken nicht richtig greifen. Hastig stellte er die Kanone auf den Boden und schnappte sich den Dolch. Es war einer seiner Dolche, kein Zweifel. Und er war sich sicher, dass er sie alle am Körper trug. Nachdenklich drehte er ihn in seiner Hand. Er schüttelte den Kopf. Dieses Geheimnis musste warten. Er tastete seine Uniform ab, bis er die leere Stelle gefunden hatte und steckte den Dolch zurück. Dann betrat er mit der Kanone auf seiner Schulter die Treppe.
Ursec näherte sich dem Dachfenster. Von hier aus hatte er nach Feierabend oft die Landschaft betrachtet. Sicher, weit konnte er nicht sehen, die Bäume des Waldes waren einfach zu hoch. Allerdings konnte er von hier aus immer die Fackeln sehen, die die Sekte links und rechts der Straße entflammt hatte. Er beobachtete seine Gäste, wie sie mehr oder weniger schwankend nach Hause gingen. Dieses Bild hatte ihm so oft Frieden gegeben. Aber jetzt hatte er fast Angst, es zu öffnen. Was würde er wohl zu Gesicht bekommen? Was war das bloß für ein Ding, das da sein friedlichen Gasthaus heimsuchte? Er erinnerte sich an die furchtbaren Beschreibungen seiner beiden männlichen Gäste, und es lief ihm wieder ein eisiger Schauer über den Rücken. Im Stillen hegte er immer noch die Hoffnung, dass die Barriere dieses Wesen von ihnen fernhalten würde.
Er nahm seinen Mut zusammen und zog die Riegel des Fensterladens zurück. Mit einem Stoß schwangen die beiden Flügel auf und klapperten an die Hauswand. Frischer Wind strömte in das Zimmer. Ursec holte tief Luft. Zuerst konnte er kaum etwas erkennen, die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt. Einzelne Fackeln leuchteten neben dem Weg durch den schwarzen Wald. Offensichtlich gab es doch noch ein paar mutige Männer, die sich um diese Zeit auf die Straße wagten, um den Leuten den Heimweg zu erhellen. Zuris, der sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, stellte sich neben ihn. Ursec betrachtete den Magier. Er ertrug seinen Schmerz sehr tapfer, fand er. Es wunderte ihn, dass er noch nicht zusammengebrochen war, nach allem, was er hatte durchmachen müssen. Die Gesichtszüge des jungen Mannes verrieten, dass er genauso aufgeregt war wie er. Der Wirt richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Weg zum Gasthaus. Die Falle war nicht zu erkennen, jedenfalls nicht von hier oben. Von der Amazone war keine Spur zu sehen, obwohl er genau wusste, dass sie sich in der Nähe aufhielt.
„Es ist da.“, sagte Zuris in einem nüchternen Tonfall. Ursec starrte ihn an, dann den Weg.
„Wo denn? Ich kann nichts erkennen.“
Er kniff die Augen zusammen. Sollte das Wesen etwa einen anderen Weg genommen haben? Das wäre eine absolute Katastrophe.
„Ich kann es fühlen. Es ist sehr nah.“
„Was soll das heißen? Ist es etwa schon im Haus??“
Ursec wurde bewußt, dass er den letzten Satz fast geschrien hatte.
„Nein“, antwortete Zuris und streckte den Finger aus, „es kommt direkt auf uns zu.“
Der Gastwirt sah in die Richtung, in die Zuris´ Finger wies. Zuerst konnte er nichts erkennen. Doch dann löste sich eine Gestalt aus dem schwarzen Dickicht. Sie bewegte sich sehr langsam. Ein paarmal hatte er den Eindruck, als wenn sie wieder verschwinden würde, doch dann konnte er sie wieder sehen, wie sie den Weg entlang ging. Ursec´s Herz sackte ihm in die Hose. Noch nie war er einem dieser Monster so nahe gewesen. Er blickte zur Seite und konnte erkennen, dass auch Zuris langsam nervös wurde. Offensichtlich kehrten seine Erinnerungen wieder zurück. Das Wesen schlurfte um die letzte Biegung und hielt zielstrebig auf das Wirtshaus zu. Es hob leicht seinen Kopf und blickte zum Dachfenster. Ein panikartiges Gefühl durchfuhr Ursec. Er erinnerte sich an das Gespräch über dieses Wesen. Es konnte töten, ohne zu berühren. Auf einmal erklang ein schnarrendes Geräusch, das die Luft durchschnitt.
„Sofort auf den Boden!“
Zuris packte den erstarrten Wirt am Arm und zog ihn mit aller Kraft nach unten. Der fiel auf den Rücken und rührte sich nicht. Das Geräusch stoppte. Etwas Metallisches erschien im Fenster, fiel auf den Rahmen und landete mit der Spitze nach unten zwischen Ursec´s Beinen. Der hob zitternd den Kopf und musste sich sehr zusammennehmen, um nicht laut zu schreien. Der Magier kauerte neben ihm und hielt sich die Hände an den Kopf.
Dieses Geräusch machte Zuris wahnsinnig. Es verfolgte ihn in seinen Träumen, seinen Gedanken. Gesichter von Dorfbewohnern kreisten durch seinen Schädel als er die Augen zusammenkniff. Die Geister der Vergangenheit hatten ihn wieder. Das Blut, die vielen toten Körper. Er rannte damals weinend durch sein Dorf, rüttelte an den Leichen und hoffte, doch noch irgendwo ein Lebenszeichen zu finden. Er war kurz davor, seinen Leuten zu folgen, wo immer sie jetzt waren.
Doch dann kam es wieder. Das Monster stand mitten im Dorf, als er aus einem der Gebäude kam. Er blieb stehen und rührte sich nicht, es war ihm egal. Am Ende seiner Kräfte schloss er die Augen und wartete auf sein Ende. Doch nichts passierte. Das Wesen blickte nur in seine Richtung. Und dann lief er. Er rannte davon, weg von dem Grauen, so weit ihn seine Beine trugen. Er wusste nicht, wie lange er schon auf der Flucht war, als er Fioxa getroffen hatte, aber nie war er dankbarer gewesen als in dieser Situation. Er hätte keinen Tag länger mehr durchgehalten. Einmal war er vor Erschöpfung eingeschlafen. Als er die Augen wieder öffnete, stand dieses herzlose Geschöpf über ihm und starrte ihn mit seinen eiskalten Augen an. Dieses Bild wird er wohl niemals wieder vergessen können.
Er konnte es sehen, obwohl er nicht aus dem Fenster blickte. Er wusste genau, wo es gerade war. Er spürte es, als wenn er es berühren würde. Und er wollte es berühren. So sehr er dieses Wesen auch fürchtete, er spürte etwas Vertrautes, das sie verband. Etwas aus seiner Vergangenheit, aus seiner Kindheit, das er schon lange nicht mehr gefühlt hatte. Zuris erhob sich.
„Bi - Bist du verrückt?? Bleib unten! Dieses Ding wird dich töten!“, stotterte Ursec.
Der Magier beobachtete das Wesen, wie es mit aller Kraft versuchte, durch das Kraftfeld zu kommen. Und es kam sogar vorwärts. Noch viel langsamer als vorher, aber unaufhaltsam. Es musste eine unglaubliche Kraft besitzen. Zuris betrachtete einen Baum neben dem Weg. Er hatte ihn sich gemerkt, um zu wissen, wo sich das Kraftfeld befand. Nach seiner Einschätzung hatte es das Wesen schon fast durchquert. Plötzlich sprang ein Schatten auf den Weg und führte eine schnelle Bewegung aus. Im nächsten Moment krümmte sich das Wesen. Sein Röcheln war bis zum Dachfenster zu hören. Er sah, wie der Speer aus seinem Rücken ragte und das Blut über seinen Körper floss.
„Nein!!“ schrie der Magier, bevor er sich vom Fensterbrett abstieß und auf die Treppe zurannte.
Pedor trat durch die Hintertür. Er wunderte sich, warum er noch niemanden getroffen hatte. Vielleicht hatten sie sich ja versteckt. Er zuckte mit den Schultern und ging um die Ecke. Mit dieser Strategie hatte er schon mehrmals Erfolg gehabt. Nach seiner Vision kam das Wesen durch die Vordertür. Er würde es kalt erwischen und ihm in den Rücken fallen. Das war vielleicht hinterhältig, aber ein Kämpfer, der überleben wollte, musste sich aller Tricks bedienen. Außerdem hatte er keine Lust, heute abend noch kalten Stahl zwischen seinen Rippen zu spüren. Als er auf einmal einen Schrei hörte, beschleunigte er seine Schritte.