Ich lese immer wieder gerne alte Volksmärchen wegen ihrer unbekümmerten Art Vernunftgesetze, Konventionen und Erwartungen für die Geschichte außer Kraft zu setzen. Es ist immer wieder erfrischend, eine Geschichte lesen zu können, deren Stärke darin liegt, dass sie nicht versucht mehr als eine relativ wertefreie Sequenz von Ideen und Bildern zu sein.
Mit modernen Märchen habe ich nicht allzu viel Erfahrung, aber "Das Märchen und der Blues" von Michael Köhlmeier & Karl Ratzer (ebenfalls Österreicher) hat mir sehr gut gefallen.
Der Unterschied zwischen echten Märchen und Fantasyliteratur liegt in der Handlungslogik und im Ursprung: Märchen stammen von Traumerzählungen ab und kümmern sich deshalb überhaupt nicht um Dinge wie nachvollziehbare psychologische Charakterisierung (die Figuren sind Typisiert), annähernd realistische Beschreibung von Raum und Zeit innerhalb des Werkes (Viele Angaben sind sehr vage gehalten, oder mystisch inspiriert - drei Brüder, sieben Berge .usw), und Erscheinungskonsistenz von Erzählungswelt und Charakteren (Paläste erscheinen aus dem Nichts, Mägde werden von einem Augenblick zum nächsten zu Prinzessinen, Tiere ziehen sich Kleidung, z.B. Stiefel über und interagieren gleichwertig mit Menschen).Zitat
Fantasy nach Tolkien entwickelte sich IMHO aus den nordischen Sagas, mittelalterlichen Chroniken und griechischen Epen. Diese beschreiben konkrete Ereignisse in einem bestimmten Zeitraum mit relativ genau umrissenen Personen als Handlungsträger. Auch in den Sagas kommt es noch öfters als nie zu übernatürlichen Eingriffen, aber diese sind selten von so radikal-plötzlicher Art wie im Märchen.
Moderne Fantasyliteratur ist schlussendlich aber mehr als das eine und das andere. Sie ist meiner Meinung eher ein Bastard aus dem drogen- und philosophieinduzierten Wahrnehmungsüberschwang zusammen mit den ersten psychologischen Beschreibungen der Charaktere des romantischen Kunstmärchens nach ETA Hoffmann und der relativ strengen Saga-Fantasy nach Tolkien.