Selphie schluckte. Sie spürte, wie abermals Tränen in ihr emporstiegen. „Das stimmt, Direktor“, bestätigte sie ohne ihren gewöhnlichen Sprachfehler. Wenn sie sehr niedergeschlagen war, verschwand dieses lustige Erkennungsmerkmal des Mädchens, so wie damals, als sie Irvine nach der Schlacht um Esthar für tot gehalten hatte. „Aber... ich wollte ihn eifersüchtig machen. Es sollte nur so aussehen, als wollte ich nichts mehr von ihm wissen, damit er mir dann wieder seine volle Aufmerksamkeit widmet.“
„Eifersüchtig?“
„Wegen mir, Direktor“, gab Crys mit gesenktem Kopf zu. „Irvine und ich waren früher einmal ein Paar. Als Selphie zu erkennen gab, dass sie ihn necken wollte, sah ich meine Chance, ihm auch einmal die Meinung zu sagen.“
„Und was haben Sie mit der Sache zu tun, Niida?“, fragte Cid. „Ich habe nicht übersehen, dass Sie vortreten wollten.“
„Irvine beleidigte Crys im Rausch, Herr Direktor“, antwortete der Junge. Die Nervosität war ihm anzusehen. „Ich fuhr ihn an, er solle sich entschuldigen und stellte mich ihm in den Weg. Er schleuderte mich davon, und im nächsten Moment wurde er von Xell niedergeschlagen.“
Cids Augenbrauen fuhren in die Höhe und er sah Xell erwartungsvoll an.
„Nicht ernsthaft, Direktor“, versicherte der Faustkämpfer. „Ich habe ihn nur bewusstlos geschlagen. Wenn er aufwacht, wird er zwar noch Bauchschmerzen haben, aber ich habe ihn nicht ernsthaft verletzt.“
„Hmmm.“ Cid ließ sich in seinen Sessel zurückfallen. „Was soll ich jetzt mit Ihnen machen?“ Eine geschlagene Minute lang überlegte er still, während die Kadetten immer zappliger wurden. Dann richtete er sich auf. Alle vier Schüler nahmen Haltung an.
„Schön. Die Sache ist passiert. Ich hoffe, dass sie sich nicht allzu weit herumspricht, obwohl ich nicht viel Hoffnung habe. Sie brauchen nicht zu fürchten, dass Sie von der Schule fliegen oder so etwas.“ Bevor jemand erleichtert aufatmen konnte, fuhr er jedoch fort: „Dennoch verdienen Sie Bestrafung. Xell, Sie haben zwar verhindert, dass die Situation eskalierte, aber als Schulsprecher-Stellvertreter dieses Gardens hätten Sie erkennen müssen, wann Irvine sich nicht mehr unter Kontrolle hatte. Sie werden daher hier in Balamb bleiben, bis wir sicher sind, dass die Krise mit der Forschungsinsel gebannt ist. Da der Garden in Esthar sein wird und die anderen beiden Gardens in Galbadia und Dollet nach dem Rechten sehen, braucht ihre Heimatstadt jeden Schutz.“
„Und was ist mit der Hochzeit,... Direktor?“, brachte Xell hervor.
„Sofern diese Krise vor der Hochzeit beigelegt werden kann, werden Sie sie miterleben“, versprach Cid. „Wenn nicht, können Sie nur darauf bauen, dass Squall und Rinoa auf Sie warten wollen. Verstanden?“
Xell schluckte. „Ja.“
„Gut.“ Cid blickte Niida und Crys an, die etwas bleich geworden waren. Sie schienen zu ahnen, dass Xell noch am besten von ihnen weggekommen war. „Niida, Ihre Absichten waren sehr nobel“, versicherte Cid dem Jungen. „Allerdings scheinen Sie sich nicht im Klaren zu sein, wie leichtsinnig es war, Irvine Kinneas noch weiter zu reizen. Und Sie, junge Dame, Ihnen ist hoffentlich klar, dass ich Sie, wenn Sie Schülerin meines Gardens wären, auch härter bestrafen würde! Es war unverantwortlich, wie Sie gehandelt haben. Sie beide werden während der Hochzeitsfeier hier im Garden bleiben. Meinetwegen können Sie sich die Fernsehübertragung ansehen, aber Sie werden nicht selbst bei der Hochzeit anwesend sein! Habe ich mich klar ausgedrückt?“
Nun wurden die beiden wirklich weiß. Aber sie wussten, dass Einspruch zwecklos war. Sie sahen sich mit schreckensgeweiteten Augen an. Crys war extra aus Galbadia angereist, um zur Hochzeit zu kommen und Niida war in Squalls Klasse gewesen. Es war ein harter Schlag, nun zu erfahren, dass sie nicht bei diesem Ereignis anwesend sein durften. Cid würdigte sie jedoch keines Blickes mehr und wandte sich an Selphie. Seine Miene verdüsterte sich.
„Was nun Sie und Irvine betrifft“, verkündete er mit tödlicher Ruhe. „Wegen Ihres unreifen Verhaltens wurden Menschenleben in Gefahr gebracht, Ihres genauso wie die schwächerer Menschen. Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen beiden.“ Er machte eine Pause, als er sah, dass nun wirklich Tränen über Selphies Wange liefen. „Ich werde Squall selbstverständlich von Ihrem Fehler berichten. Er mag selbst beurteilen, was Ihrer Strafe sonst noch hinzuzufügen ist, aber... Sie werden sofort, wenn wir in Esthar angekommen sind, mit der Ragnarok die Forschungsinsel suchen. Ich erwarte von Ihnen, dass Sie das Geheimnis aufklären. Sollten Sie dies nicht bis zur Hochzeit schaffen, ist das Ihr Problem, aber denken Sie bitte daran, dass nicht nur Sie dann diese Feier verpassen.“
Er warf einen Blick auf Xell, der fassungslos erlebte, wie ihr ehemaliger Ziehvater nun als Racheengel fungierte. „Xell hat Sie beide davor bewahrt, von der Schule zu fliegen. Wenn Sie sich nicht beeilen, wird auch er die Hochzeit verpassen, denken Sie daran, Selphie. Ach, und noch etwas: Wenn Sie von dieser Mission zurück sind, werden Sie beide unverzüglich Ihre GF abgeben! Zwei Monate Unterricht ohne sie kann Ihnen nicht schaden, auch wenn Sie so nicht mehr mit Squall überall hin fliegen können!“
„Ja, Direktor“, krächzte Selphie. Das sonst so lebenslustige Mädchen sah so elend aus, dass sich selbst das Herz des wütenden Direktors zusammenkrampfte, aber er durfte nicht mehr nachgeben. Selphie, Squall, Rinoa und die anderen waren Helden. Wenn man ihnen aber deshalb alles durchgehen ließ, besonders solch einen Fehler, würden viele andere Schüler aufschreien und sie zu hassen beginnen. Es war nötig, sie zu bestrafen.
„Gut. Sie werden Irvine mitteilen, was ihn erwartet, sobald er aufwacht. Ich erwarte, dass Sie sich bei ihm für Ihr Verhalten entschuldigen, ist das klar?“
Selphie nickte lediglich. „Das hatte ich ohnehin vor“, flüsterte sie so leise, dass nur sie es verstehen konnte.
Cid ließ sich wieder in seinen Sessel fallen. Ihm graute vor sich selbst, wenn er sah, was er dreien der Kinder, die Edea und er aufgezogen hatten, antun musste. Manchmal hasste er seinen Job. „Niida, Sie steuern sofort den Garden nach Esthar“, verkündete er. „Wenn Sie wollen, können Sie ihn begleiten, Crys. Die anderen, wegtreten!“
Niida und Crys, die sichtlich eingeschüchtert waren, beeilten sich, zum Aufzug und damit aus der Nähe des Direktors zu kommen. Xell und Selphie sahen sich immerhin noch imstande, den SEED-Gruß zu vollführen. Dann gingen sie benommen aus dem Zimmer.
„Ich kann’s noch gar nicht fassen, dass er das gesagt hat“, murmelte Xell, als sie in den ersten Stock fuhren. „Na schön, es wird ganz gut tun, meine Mutter mal wiederzusehen, aber wenn ich deshalb die Hochzeit versäume...“
„Bitte rede nicht davon“, rief Selphie aus und hielt sich die Hände vors Gesicht. „Damit erinnerst du mich nur daran, dass ich auch für dich verantwortlich bin!“ Das Mädchen zitterte, als es wieder zu weinen begann.
„Nicht doch, nicht doch, Sephie“, sagte Xell bestürzt. Zögernd legte er seine Arme um das Mädchen und drückte es leicht an sich. „Red dir nicht ein, dass es nur deine Schuld war. Ich hätte auch früher merken müssen, dass Irvine nicht mehr ertragen kann.“
„Xell“, schniefte Selphie leise. „Bist du böse auf mich?“
„Nicht wirklich“, murmelte der Junge. Es war komisch, Selphie im Arm zu halten. Sie war wie eine kleine, verspielte Schwester für ihn... deshalb konnte man ihr eigentlich auch nicht lange böse sein. „Du hast zwar Mist gebaut, aber irgendwann musstest du dich mit Irvine auch mal in die Haare kriegen. Wenn du dich jetzt bei ihm entschuldigst und ihm alles beichtest, dann wird das Vertrauen zwischen euch noch stärker werden.“
„Bist duuu dir sicher?“, fragte sie mit einem Ansatz von Hoffnung (und Sprachfehler).
„Ja. Squall und Rinoa haben auch schon den einen oder anderen Streit hinter sich. Zwar keinen so ernsten wie ihr, aber trotzdem haben sie nachher nur noch mehr geknutscht. Aber bitte lass mich nicht dabei sein, wenn das mit Irvine passiert, ja?“
„Geeeeeht klar!“, rief Selphie, umarmte ihn impulsiv und wischte ihre Tränen in sein Hemd. „Ich weiß ja, was du von übertriebenem Küssen hältst. Daaaaanke, Xell!“
Schon war sie aus dem Aufzug raus und rannte in Richtung Quartiere. Kopfschüttelnd stieg Xell ebenfalls aus und seufzte. Dann sollte er wohl auch seine Sachen packen, schließlich wusste er nicht, wie lange Selphie und Irvine tatsächlich brauchen würden, obwohl er sich sicher war, dass sie sich beeilen würden. Andererseits... wenn Balamb völlig ohne Schutz wäre, während er in Esthar war, das hätte er sich auch nicht verziehen. Das Leben war voller ungerechter Zufälle!
„Worauf warten wir hier eigentlich, Squall?“, fragte Rinoa ungeduldig. „Wir stehen jetzt schon seit fünf Minuten rum. Sagst du mir endlich, wieso?“
„Entschuldige“, meinte Squall. „Aber weißt du nicht mehr, was in dieser Legende über das Wiederbeleben von GF stand?“
„Ich weiß nur, dass wir einen Haufen G-Returner bei uns haben“, begehrte sie hitzig auf. „Wieso versuchen wirs nicht erst damit?“
„Wie denn?“, verlangte der Junge zu wissen. „Odin ist nicht gekoppelt. Womit willst du einen G-Returner benutzen?“
„Weißt du, dass kein Mensch Klugscheißer mag?“, brummte Rinoa.
„Außer du einen ganz bestimmten Klugscheißer, oder?“, entgegnete er ruhig und starrte wieder in die Wüste. Wieso ließ sich heute nur kein einziges Monster blicken? „Laufen wir ein bisschen“, schlug er vor. „Sonst warten wir hier noch ewig.“
„Glaubst du wirklich an das, was in diesem Papier steht, Squall?“, erkundigte sich Rinoa nach einer Weile. „Dieses Die freien Geister zu töten, ist nahezu unmöglich, da sie nur den kurzen Augenblick ihres Angriffs in unsere Welt wechseln? Oder Sollte eine dieser GF jedoch den Tod finden, ist es nahezu unmöglich, sie wiederzubeleben. Während für die koppelbaren GF schon seit Jahren die Möglichkeit der G-Returner besteht, gab es noch nie in der Geschichte einen Fall, in dem ein unkoppelbarer Geist zurückgerufen werden musste?“
„Die einzige Quelle in dieser Richtung sind bis jetzt die seltsamen Zeichen in einer geheimen Kammer in den Centra-Ruinen, die der Wissenschaft durch 6 junge SEEDs zugänglich gemacht wurde“, zitierte Squall weiter. „Es ist zumindest die einzige Möglichkeit, die wir haben, Rinoa. Wie sollten wir Odin sonst zurückrufen können?“
„Ich weiß es... Obacht, Squall!“, rief sie plötzlich. „Dort ist ein Qual! Aber wieso ist das Vieh so eingeschüchtert?“
„Vermutlich, weil ihm jeglicher Zauber gezogen worden ist“, vermutete Squall. „So was verunsichert. Na schön, dann werden wir eben angreifen. Los!“
Es war seltsam, aber das Monster tat Squall fast Leid. Ohne seine Tod-Zauber und war es zwar lästig, aber kein wirklich gefährlicher Gegner für die beiden Kämpfer. Squall und Rinoa schläferten es ein und beschworen einige GF, bis es nur noch einen Hauch Leben besaß.
„Nicht, Rinoa“, bat Squall seine Gefährtin, als diese dem Monster den Rest geben wollte. Sie sah ihn verwundert an, ließ den Angriff jedoch ruhen. Squall griff in seine Tasche, nahm eine Handvoll Grünzeug heraus und warf sie vor dem Qual auf den Boden. Bevor sich Rinoa noch wundern konnte, was das sollte, erschien Boko, die kleine Chocobo-GF, die sie vor langer Zeit in einem der Chocobo-Wälder bekommen hatten. Sein drollig aussehender Flammen-Angriff brannte die letzten Lebensfunken des Monsters weg.
„Warte!“, rief Squall, als das kleine Tier wieder verschwinden wollte. Es drehte verwundert den Kopf zu ihm und starrte ihn an. „Wir müssen mit Gilgamesh sprechen“, bat der Junge schnell, schließlich wusste er nicht, wie lange sich der junge Chocobo aufhalten lassen würde. „Weißt du, wie wir ihn erreichen können?“
„Das war dein Plan?“ Rinoas Stimme war bewundernd. „Darauf wäre ich nicht gekommen.“
Boko stieß eine Reihe von fragenden Lauten aus, die keiner von ihnen verstand. „Es ist sehr wichtig, dass wir mit Gilgamesh sprechen“, bat Squall noch einmal. „Wenn du weißt, wo er ist, dann hol ihn bitte her.“