Kapitel 4

Der erste, der am Morgen in ihr Zimmer gestürmt kam, war Aniery. Nicht wirklich überraschend, fand sie.
„Tante!“, rief er aufgeregt und rüttelte an ihrer Schulter, bis sie sich zu ihm herumgedreht hatte. „Eclisa hat uns erzählt, dass du gestern ganz allein ein Monster besiegt hast. Stimmt das wirklich?“
Quistis seufzte leise und tastete nach ihrer Brille. Sie brauchte sie nicht wirklich, aber es konnte in diesem Haus nie schaden, wenn sie etwas strenger wirkte, besonders Aniery gegenüber.
„Glaubst du, dass ich es könnte?“
Aniery wurde etwas unsicher, fasste sich aber wieder. „Nein“, vermutete er. „Zumindest keine richtigen.“
„Und warum?“
„Weil...“ Er musste eine Weile überlegen, wobei ihm Quistis lächelnd zusah. „Weil du so bist wie Mama“, meinte er schließlich. „Mama kämpft auch nicht.“
„Das heißt aber nicht, dass sie nicht kämpfen kann“, verbesserte Quistis ihn. „Nur weil sie nicht kämpft, heißt das nicht, dass sie nicht imstande ist, sich zu wehren.“
„Das stimmt, Aniery“, warf eine dünne Stimme von der Tür her ein. Ein kleinerer Junge tappte ins Zimmer. Sein Gesicht verriet großen Ernst... was bei kleinen Kindern allerdings ziemlich komisch aussah. Quistis schmunzelte. „Mama hat früher einmal gegen Squall Leonhart gekämpft.“
„Quatsch“, erwiderte Aniery herablassend.
„Nein, Tinill hat es geschworen“, beharrte Veshore, während er sich dem Bett näherte. „Ihre Eltern haben ihr die Geschichte immer erzählt, bevor sie hierher gekommen ist. Die SEEDs haben gegen Mama Edea gekämpft und sie gut gemacht, dann haben sie Rinoa gut gemacht und dann haben sie gegen die bösen Hexen gekämpft!“
„Er hat Recht, Aniery“, bekräftigte Quistis. „Auch wenn ich es anders erzählt hätte. Mama hat früher auch gekämpft, auch wenn sie es nicht mag.“
„Und du?“, beharrte der Junge. „Hast du gekämpft?“
Quistis seufzte. „Ich muss es euch ja wohl sagen. Ja, ich habe gestern gekämpft. Und nicht nur gestern. Mein voller Name ist Quistis Trepe.“
„Dann bist du ja Squalls und Rinoas Freundin“, bemerkte Veshore mit großen Augen.
„Aber wieso hast du uns das nicht gesagt?“, wollte Aniery wissen.
„Damit sie nicht solche dummen Fragen beantworten musste!“ Edea stand im Türrahmen und klatschte in die Hände. „Schluss jetzt, kommt alle zum Frühstück! Dann könnt ihr eure Fragen auch gleich vor den anderen stellen.“
„Warum nicht jetzt?“
„Weil man als angehender SEED nicht Frauen beim Anziehen zusieht, deswegen!“ Edeas Blick war streng, während sich Quistis mühsam ein Lachen verbeißen musste. „Das könnte böse Folgen für euch haben, wenn die Frau stärker ist als ihr. Marsch jetzt, Quistis kommt gleich nach!“
Veshore beeilte sich tatsächlich, aus dem Zimmer hinauszukommen (Quistis entging auch sein ehrfurchtsvoller Blick in Edeas Richtung nicht), während Aniery sie trotzig anstarrte. Aber die ehemalige Hexe hatte mit Squall viel Erfahrung mit schwierigen Kindern sammeln können. Sie murmelte „Levitas!“ und der Junge keuchte auf einmal erschrocken, als er den Boden unter den Füßen verlor.
„Mama! Lass mich wieder runter! Ich geh auch aus dem Zimmer raus, versprochen!“, rief er.
„Gut. Anti-Z!“
Er landete unsicher wieder auf seinen Beinen. Kaum war er wieder gelandet, rannte er auch schon aus dem Zimmer. Er bemerkte das glückliche Lächeln Edeas nicht, nur ihre drohend ausgestreckten Finger, die in seine Richtung wiesen.
„Ein guter Junge“, sagte sie an Quistis gewandt. „Ein bisschen übermütig, aber liebenswert.“
„Genau wie Squall“, bemerkte diese und schlug die Decke zurück.
„Ja, genau wie Squall“, bestätigte die Hexe. „Lass dir nicht zuviel Zeit. Ich habe nach Esthar geschickt, sie kommen heute Mittag mit einem Fahrzeug und holen uns ab.“ Sie schloss die Tür und ihre Schritte entfernten sich.
Quistis zog wie meistens ihre orange Kampfkleidung an, die schwarzen Stiefel und die bis zur Schulter reichenden Armschützer. Sie zögerte kurz, als sie an ihre Peitsche dachte und entschloss sich, sie auch mitzunehmen. Heute war es ohnehin schon egal. Es war ein seltsames Gefühl, die Waffe wieder zu tragen, aber nicht unangenehm. Sie hatte es vermisst, auch wenn es besser gewesen war, den Kindern nicht gleich die Wahrheit zu sagen.
Als sie die Tür öffnete, sprangen einige der kleinen Rangen vom Tisch auf und rannten auf sie zu, was Edea zu einem Wutschrei veranlasste. Die meisten hatten noch gar nicht fertig gegessen und an vielen Mündern konnte man die Speisenfolge noch ablesen, was sie aber nicht hinderte, sich an Quistis festzuhalten und sie mit Fragen zu bestürmen.
„Ist es wahr, Tante Quistie?“
„Ist das deine Peitsche? Darf ich sie mal halten?“
„Nein, ich hab zuerst gefragt! Ich will sie zuerst!“
„Warum hast du uns das nicht gesagt?“
„Zeigst du uns mal, wie du kämpfst, Tante?“
„Seid doch mal ruhig, ihr kleinen Quälgeister!“, verlangte Quistis lachend. „Ich verstehe ja kein Wort. Hat euch Eclisa nicht gesagt, warum ich euch nichts davon erzählt habe?“
„Weil du lieber unsere Freundin sein wolltest!“, verkündete Eclisa stolz. Sie kam sich sehr wichtig vor, das sah man.
„Genau. Na gut, ihr dürft die „Königinnenwache“ alle mal anfassen, aber seid vorsichtig damit. Das ist kein Spielzeug, sondern eine gefährliche Waffe!“
Ehrfurchtsvoll nahm eins der Mädchen die Peitsche in die Hand. Sie war offensichtlich etwas schwer für sie, aber sie bemühte sich tapfer, die Waffe zu halten. Ein anderes Mädchen betrachtete bewundernd die Muster auf der Oberfläche und einer der Jungen versuchte, den Griff zu erhalten. Als alle genug Zeit gehabt hatten, sie zu studieren, nahm Quistis sie ihnen wieder aus der Hand. Sie konnte es nicht lassen, ein bisschen anzugeben und schwang sie leicht über den Kopf, bevor sie sie zusammenfaltete und an ihrem Gürtel befestigte.
„Schluss damit! Habt ihr überhaupt schon zu Ende gegessen?“, fragte sie streng. „Dass ich da bin, heißt nicht, dass Mama heute alles allein essen und wegtragen muss.“
So folgsam wie noch nie setzten sich daraufhin alle an den Tisch und begannen zu essen. Quistis war dieser Gehorsam etwas unheimlich und sie befahl sich im Stillen, ihre neugewonnene Autorität nicht auszunützen. Sie wollte keine treuen Fans, sondern liebende Freunde. Sie setzte sich und aß ebenfalls, obwohl sie keinen großen Hunger verspürte. Wer wusste schon, ob alle Kinder sie so wie Eclisa als große Schwester akzeptieren würden, jetzt, nachdem sie alles wussten?
„So, Kinder“, verkündete Edea schließlich, nachdem alle fertig gegessen hatte. Sofort drehten sich alle Köpfe zu ihr um. „Heute werdet ihr einmal nicht am Strand spielen können. Kein Murren jetzt, hört mir erst einmal zu: Wir werden heute alle nach Esthar fahren, weil Quistis und ich dort jemanden besuchen müssen.“
„Nach Esthar?“
„Wen müsst ihr denn besuchen?“
„Präsident Laguna Loire“, erklärte Quistis. „Er war schon einmal da, um mit euch zu plaudern, wisst ihr noch?“
„War das der witzige Mann mit der komischen Frisur?“
Quistis konnte sich gerade noch beherrschen und schaffte es, nicht laut herauszuplatzen. So hatte in der Tat noch niemand Laguna beschrieben, auch wenn es zutraf. „Ja, genau der“, bestätigte sie. „Aber lass ihn das lieber nicht hören.“
„Ist das nicht der Vater von deinem Freund Squall?“
„Ja, wir glauben, dass er Squalls Vater ist“, gab Quistis zu. „Und wir nennen ihn auch so. Aber wir wissen es nicht ganz sicher.“
„Sind die SEEDs auch bei ihm?“
„Das weiß ich nicht“, meinte Quistis schulterzuckend.
„Du musst sie uns unbedingt vorstellen, Tante Quistie!“, verlangte Tinill.
Darauf konnte die junge Frau momentan nicht antworten. Sie wusste, dass die Kinder ein Ja verlangten, aber sie war sich ja noch nicht einmal sicher, ob sie den anderen schon ins Gesicht sehen konnte. Zum Glück sprang Edea für sie ein.
„Das werden wir sehen, wenn wir da sind“, bestimmte sie. „Jetzt räumt einmal den Tisch ab und zieht euch warm an für den Ausflug. Wir werden abgeholt, und der Fahrtwind ist ziemlich kalt. Wir treffen uns in einer halben Stunde wieder hier.“
Während die Kinder mit Feuereifer damit begannen, das Geschirr in die Küche zurück zu tragen, kam Edea auf Quistis zu und beugte sich über sie. „Mach dir nicht zu viele Sorgen“, flüsterte sie. „Es wird schon alles gut gehen, du wirst sehen.“
„Ja, wahrscheinlich“, murmelte Quistis und stand auf. Sie ging in die Küche und begann mit dem Abwasch, um sich abzulenken. Der Besuch in Esthar verursachte bei ihr viel mehr Herzklopfen als der Kampf gestern. Mama hat Recht, dachte sie, ich darf mich nicht so sehr verkrampfen, wenn ich an die anderen denke. Aber Denken und Fühlen waren zwei verschiedene Dinge.
In Gedanken stieß sie mit einer Tasse an den Rand des Tisches. Sie entglitt ihren Fingern und zersplitterte am Boden. Leise fluchend bückte sie sich danach, aber kleine Hände kamen ihr zuvor.
„Ich räum die Scherben weg, Tante Quistie“, erbot sich Tinill. „Deine Hände zittern. Du würdest dich schneiden.“
„Danke“, erwiderte die Kämpferin unsicher lächelnd.
„Wieso zitterst du, Tante?“, wollte das Mädchen wissen. „Hast du Angst vor den Monstern?“
„Nein.“
„Wovor denn dann?“
Quistis zögerte ein wenig. Konnte ein zehnjähriges Mädchen überhaupt verstehen, was sie fürchtete? Aber die großen Augen, die sie fragend anblickten, lockten die Worte förmlich aus ihr heraus.
„Weißt du, ich bin ein bisschen nervös wegen Squall und den anderen“, gab sie zu. „Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen und weiß nicht,... ob sie mich jetzt noch mögen. Vielleicht wollen sie nichts mehr mit mir zu tun haben.“
„Wenn sie deine Freunde sind, werden sie dich mögen“, verkündete Tinill bestimmt.
„Und wenn nicht“, schaltete sich Aniery, der das Gespräch mitgehört hatte, ein, „dann wird Mama sie auch verzaubern, bis sie dich wieder mögen!“
„Du musst keine Angst haben, Tante Quistie“, erklärte ihr schließlich Eclisa. „Ich bin immer deine Freundin, und wenn Squall und die anderen dich nicht mehr mögen, dann mag ich sie auch nicht mehr!“
„Genau!“
„Wenn Squall dich nicht mehr mag, dann kämpfe ich gegen ihn!“
„Du weißt ja noch nicht mal, wie du das Schwert halten musst, Veshore!“
„Hört auf, hört auf“, bat Quistis. Tränen rannen ihr aus den Augen, aber sie machte keine Anstalt, sie wegzuwischen. „Ich habe keine Angst mehr vor Esthar, wirklich nicht.“ Das stimmte tatsächlich. Das Glücksgefühl, das sie momentan empfand, hatte alle Nervosität weggespült. „Ich finde es schön, dass ihr noch immer meine Freunde seid.“ Sie umarmte Eclisa und Veshore, die ihr am nächsten standen. Dann erinnerte sie sich erst wieder an ihre Aufgabe, stand rasch auf und wischte die Tränen weg.
„Und jetzt etwas schneller, ihr kleinen Rotzlöffel!“, befahl sie und blickte die Kinder mit ihrem besten Ausbilderblick an. „Wenn wir heute noch nach Esthar kommen wollen, müssen wir bald fertig sein!“