„Stimmt“, bekannte sie lächelnd. „Aber sie hat gesagt, ICH darf demjenigen den Nachtisch wegessen. Und glaub mir, ich hab heute großen Hunger!“
Kaum eine Minute später saßen alle Kinder oben. Als letzte ging grinsend Quistis durch die Eingangstür. Die Drohung wirkte doch immer wieder... genau wie im Garden.

„Mann, ist das ein Gedränge hier!“, staunte Galdiki, das andere Mädchen, welches mit Crys in die Mensa gekommen war. „Wie können die hier nur so viele Schüler zur gleichen Zeit versorgen?“
„Jahrelange Übung, vermute ich“, schätzte der Junge neben Crys, aber er war ebenso beeindruckt wie Galdiki, das merkte man seinem abwesenden Ton an.
Crys hatte zwar aus einigen Telefonaten mit Irvine von dem Durcheinander hier gehört, aber darauf war auch sie nicht vorbereitet gewesen. Dutzende Schüler standen Schlange, um nur drei Bedienstete gleichzeitig um einen Hot Dog anzuflehen. Der Lärm hier drin konnte es mit der Trainingshalle, an der sie vorbeigekommen waren, locker aufnehmen. Die Bestellungen, die Gespräche zwischen den Schülern und die Kellner, die sich verzweifelt bemühten, aus den Wortfetzen Bestellungen herauszuhören... das alles bildete eine Atmosphäre, die sie im Galbadia-Garden nie erlebt hatte.
„Wie um alles in der Welt hält man es hier nur aus?“, schrie sie und hielt sich die Ohren zu. „Man möchte meinen, es ginge in einer Kampfschule gesitteter zu!“
„Falsch geraten!“, vernahm sie eine Stimme hinter sich. Sie brauchte eine Sekunde, um herauszufinden, dass sie keinem aus ihrer Gruppe gehörte. Verwundert drehte sie sich um und nahm die Hände herunter. Und riss die Augen auf, als sie Niida sah, den jungen Mann, den sie im Zimmer des Direktors gesehen hatte. Er grinste sie und ihre Freunde an. „So schnell sieht man sich wieder.“
„Ist es hier immer so voll oder wollen sich die Leute vor dem Start noch mit Essen eindecken?“, fragte Galdiki und hielt sich demonstrativ die Ohren zu.
„Nein, ihr habt leider einen schlechten Zeitpunkt erwischt!“, rief Niida zurück. „Der Unterricht ist gerade zu Ende, und da stürmen meistens alle Leute gleichzeitig die Imbissbude hier. Ich hab Glück gehabt und war als erster hier.“ Triumphierend wies er einen Hot Dog vor, der noch verführerisch warm dampfte. Crys spürte, wie ihr Magen zu knurren begann und wurde tiefrot.
„Gibt’s keine andere Möglichkeit, an etwas zu essen zu kommen?“, wollte der Galbadianer wissen und sah sehnsüchtig auf Niidas Hand. „Wir haben nichts mehr gegessen, seit wir aus Galbadia abgefahren sind.“
„Sagt das doch gleich“, entrüstete sich Niida. „Wir können euch doch nicht verhungern lassen, der Direktor würde uns wahrscheinlich den Schulsprecher auf den Hals hetzen! Wartet, ich besorge euch was.“
„Glaubst du nicht, dass das zu lange dauert?“, fragte Crys zögernd. „Wir können ja auch später wiederkommen, wenn es hier ruhiger ist.“
„Quatsch!“, entgegnete der Junge und lächelte sie an. „Gäste haben den Vortritt. Wartet kurz hier.“ Mit diesen Worten drängte er sich an seinen Kameraden vorbei, die, kaum zu glauben, noch lauter riefen und drohend ihre Fäuste nach ihm reckten. Er unterhielt sich mit einer Kellnerin, deutete in Crys’ Richtung und unterstützte seine Worte durch antreibende Gesten. Eine Minute kam er mit drei weiteren Hot Dogs beladen wieder aus der Menge hervor und überreichte sie ihnen.
„Danke“, murmelte Crys verlegen. „Das wäre doch nicht nötig gewesen.“
„Schon gut“, winkte er ab. „Ich muss doch für den Ruf des Gardens gerade stehen, wenn der Schulsprecher nicht da ist.“
„Hier ist aber nirgends mehr Platz“, jammerte Galdiki und sah sich um. „Können wir uns nicht kurz wo hinsetzen?“
Niida kratzte sich kurz am Kopf und nickte dann. „Gehen wir am besten in die Bücherei“, bestimmte er. „Dort darf man zwar normalerweise nicht essen, aber die Bibliothekarin, die heute Dienst hat, ist momentan... nun, sagen wir, etwas abgelenkt. Wenn wir die Hot Dogs etwas verstecken, wird sie nichts merken.“
„Abgelenkt?“ Der Junge neben Crys sah auf. „Weswegen denn?“
Niida grinste unverhohlen. „Ihr geliebter Xell ist heute mit seinen Freunden ausgeflogen und hat sich seitdem noch nicht bei ihr gemeldet. Jetzt befürchtet sie das Schlimmste, obwohl sie weiß, dass er sich in seiner Haut wehren kann.“
„Xell Dincht? Xell Dincht hat eine Freundin?“ Galdikis Ton klang so enttäuscht, dass Crys schmunzeln musste.
„Kennst du Xell Dincht persönlich?“, fragte sie neugierig, während sie in den Hot Dog biss. Sie verzog das Gesicht. Heiß!
„Sicher“, bestätigte Niida nickend. „Aber gehen wir jetzt erst mal los, hier versteht man ja sein eigenes Wort nicht. Xell hat mit mir und Squall Leonhart die SEED-Prüfung bestanden. Seitdem kennen wir uns... nun, zumindest ich und Xell. Squall ist nie sonderlich gesprächig gewesen, und seit er mit Rinoa zusammen ist, kann man fast kein Wort mehr mit ihm wechseln. Er hat nur noch Augen für sie, auch wenn er versucht, seine Schulsprecherpflichten ernst zu nehmen.“
„Du bist ein SEED?“, fragte Crys interessiert. „Tut mir Leid, dass ich frage, aber du bist noch ziemlich jung.“
„Keine Sorge“, meinte er. „Ich bin schon öfter deswegen angeredet worden. Ich war auch noch nicht so oft im Einsatz, weil ich... ah, wir sind schon in der Bücherei. Tag, Reeval!“
Das braunhaarige Mädchen, das hinter der Büchereitheke stand, wirkte etwas mürrisch. „Hallo, Niida!“, grüßte sie, ohne aufzublicken. „Noch nichts Neues?“
„Nein“, sagte der Junge kopfschüttelnd. „Du solltest dir nicht so viel Sorgen machen, Xell kommt schon zurecht. Ich führ mal meine galbadianischen Freunde etwas rum, ja?“
„Schon recht“, brummte sie und vertiefte sich in ein Buch. „Aber nehmt nichts unangemeldet mit, klar?“
„Nehmt es ihr nicht übel“, flüsterte Niida, als sie bei den Stühlen im hinteren Büchereiraum Platz nahmen. „Aber sie hat einfach ständig Angst um Xell, obwohl er neben Squall und Irvine der stärkste Kerl der Schule ist.“
„Ist es eigentlich wahr, dass Kinneas sich hier eine Freundin gesucht hat?“, meldete sich der Galbadianer zu Wort, nachdem er seinen Hot Dog aufgegessen hatte. „Ist er noch immer mit ihr zusammen?“
Niida blickte auf. „Mit Selphie? Sicher, schon seit einem guten halben Jahr. Die beiden sind fast so schlimm wie Squall und Rinoa, ständig beisammen.“
„Tatsächlich?“ Crys spürte, wie Interesse in ihr entfachte. „Irvine hat zwar davon gesprochen... aber ich hätte ehrlich gesagt nie gedacht, dass er wirklich so lange bei einem Mädchen bleiben könnte. Ist diese Selphie wirklich so... gutgelaunt?“
„Gutgelaunt?“ Niida sah sie an, als hätte sie ihn gefragt, ob die Erde rund war. „Selphie? Für sie müsste man ein eigenes Wort erfinden! Du kannst sicher sein, wenn der Garden angegriffen würde, würde sie das als Chance sehen, einige der Angreifer zu überreden, beim Schulfestkomitee mitzumachen! Ich hab sie noch nie vollkommen ernst gesehen.“
„Hört sich eigentlich nicht nach dem Typ Mädchen an, den Kinneas bevorzugt, oder, Crys?“, fragte Galdiki und stupste sie von hinten an. Crys spürte, dass sie rot anlief.
„Ach, du warst auch mal mit ihm zusammen?“, fragte Niida. Irgendwie klang sein Ton seltsam, fast... schmerzlich. „Blöde Frage, oder? Ist ja egal. Was habt ihr heute noch vor?“
„Ich und Galdiki werden jetzt jedenfalls hier abhauen, nicht?“, meinte der galbadianische Kadett bedeutungsvoll und stand auf. „Nicht wahr, Galdiki?“
„Oh, sicher.“ Das Mädchen stand ebenfalls auf. „Wir sehen uns hier noch etwas um. Du musst nicht auf uns warten, Crys. Bis später.“
„Aber...“
Schon waren die beiden weg. Crys fluchte.
„Was ist denn?“, fragte Niida etwas perplex.
„Die beiden wollen uns doch nur verkuppeln“, stieß Crys hervor und schoss den beiden, die jetzt am Ausgang standen und ihr frech zuwinkten, vernichtende Blicke nach. „Sie glauben, nur weil Irvine jetzt eine neue Freundin hat, müssen sie mir auch einen besorgen.“
„Vermisst du ihn?“
Crys sah erschrocken in seine Augen. Sie sahen sie sehr ernst an.
„Ja..., manchmal schon“, gab sie zu und sah wieder weg. „Aber ich habe mich schon lange damit abgefunden, dass er nie wirkliche Gefühle für mich hatte. Ich glaube nicht, dass er für irgendein Mädchen in Galbadia wirklich etwas übrig hatte. Ist das bei Selphie echt anders?“
„Ja, zumindest scheint es mir so“, bestätigte Niida nickend. „Ich glaube, aus den beiden könnte etwas Größeres werden. Wer weiß,... vielleicht gibt’s ja bald noch eine Heirat. Obwohl ich mir Selphie nicht als Braut vorstellen kann.“ Er grinste schief. „Sie würde wahrscheinlich sofort loskichern, wenn der Priester zu reden beginnt.“
„Das ist schön“, flüsterte Crys. „Irvine hat mir zwar das Herz gebrochen, aber ich gönne ihm trotzdem, dass er endlich die Richtige gefunden hat.“
Niida runzelte die Stirn. „Du hast ihn wirklich geliebt, was?“
„Ja“, hauchte sie. Dann straffte sie sich wieder. „Aber das ist lange vorbei. Wenn er wieder da ist, würde ich Selphie gerne kennen lernen. So, wie du sie beschreibst, scheint sie ein seltsamer Charakter zu sein.“
„Seltsam trifft die Sachlage, ja“, bekräftigte er schief grinsend. Er dachte eine Weile nach. „Was hältst du davon, mal Ausschau nach unseren großen Helden zu halten?“
„Wie denn?“
Er erhob sich und reichte ihr die Hand. „Nun, ich bin der Steuermann des Gardens und darf jederzeit auf das Steuerdeck hinauf. Wenn du willst, können wir bei Gelegenheit mal nachsehen, ob Squall und seine Bande bereits wieder im Anflug sind. Wie wär’s?“
Crys schwankte einen Moment, ob sie dieses Angebot annehmen sollte. Über Irvine zu reden hatte sie mehr getroffen, als sie zugegeben hätte, aber Niida schien keine Hintergedanken zu haben. Sein Lächeln wirkte ehrlich. Und wenn ihr ihre Kameraden schon unbedingt einen Freund anhängen wollten, wieso sollte sie dann nicht so tun?
„In Ordnung“, sagte sie und lächelte ihn freundlich an, während sie sich hochziehen ließ. „Aber wehe, wenn du irgendwas anstellen willst. Ich habe eine gute Kampfausbildung genossen, weißt du?“
Er grinste spöttisch. „Und ich habe die selbe Grundausbildung genossen wie der große Squall Leonhart persönlich“, deklamierte er. „Ein Teil seiner Größe und seines Edelmutes findet sich auch in mir. Fürchtet nichts, Milady, ich fürchte seine Rache viel zu sehr, als dass ich mich an der Freundin seines Freundes vergreifen würde.“
„Hör auf mit dem Quatsch“, befahl sie, grinste aber dabei. „Gehen wir lieber. Bevor noch einer bemerkt, dass wir hier Mittag gemacht haben.“

„Keine Monster, was, Xell?“, fragte Squall grimmig, als sie die Innenstadt von Dollet erreichten. Auf dem Marktplatz, direkt dort, wo noch vor ein paar Minuten der Brunnen gestanden hatte, erhob sich die Masse einer Drachen-Isolde, eines Chimära-Hirns und eines Stahlgiganten. Die drei gewaltigen Monster machten zwar seltsamerweise keine Anstalt, jemanden zu verletzen oder die Häuser anzugreifen, aber es war unzweifelhaft, dass sie niemanden zur künstlichen Forschungsinsel vorlassen wollten.
„Komm schon, Squall“, kommentierte Irvine, während er die Exetor, seine Schusswaffe, durchlud. „Das war doch zu erwarten.“
Schon hatte der Stahlgigant sie entdeckt und stapfte auf sie zu. Das Chimära-Hirn wechselte seinen Kopf und kam ebenfalls und die Drachen-Isolde stieß ein markerschütterndes Knurren aus und folgte den beiden.
„Der Stahlgigant gehört mir, ihr beiden“, rief Irvine, „mischt euch bloß nicht ein. Ich hab ein Hühnchen mit diesen Biestern zu rupfen!“