Kapitel 1
Der Morbol stieß ein markgefrierendes Geräusch aus, das jeden normalen Menschen sofort aus den Socken gehauen hätte, die Dreiergruppe vor ihm jedoch herzlich wenig ausmachte. Die Riesenpflanze begann sich langsam mit seinem kleinen Verstand zu fragen, ob es wirklich so klug gewesen war, sich mit diesen jungen Menschen einzulassen. Der überwiegende Teil seines Denkens, der Teil, der sich von dem Schwerthieb, den ihm der mittlere Junge verpasst hatte, beleidigt fühlte, schrie nach seinem Tod, aber die Vernunft sagte ihm, dass es die Flucht ergreifen sollte, solange es noch in der Lage dazu war.
Nicht, dass Vernunft das animalische Denken eines solchen Ungeheuers beeinträchtigen konnte. Die blonde junge Frau, die auf den Namen Quistis Trepe hörte, blinzelte einmal, holte eine Mega-Pille aus einer ihrer Taschen und warf sie auf sich. Ihre beiden Kollegen, ein schlanker Gunblade-Kämpfer und ein kräftig gebauter Faustkämpfer, hatten momentan mit den Zuständen zu kämpfen, die der Kampf mit einem solchen Vieh unweigerlich einbrachte und waren ihr somit nicht unbedingt eine große Hilfe. Auch gut, musste sie eben eine Weile ohne sie auskommen.
Sie wartete, bis sie sich wieder imstande fühlte, etwas zu tun, dann sprach sie Medica auf den Faustkämpfer, der gleich darauf begann, Alexander, die heilige G.F. zu beschwören. Währenddessen griff die mutierte Pflanze den Gunblade-Krieger mit ihrer Säureattacke an, was ihn sofort aufweckte und (dank Kontern) gleich zurückschlagen ließ. Quistis hielt sich nicht damit auf, auch ihn wieder zu klarem Verstand zu bringen, der Junge konnte mehr einstecken, als man vermutete, wenn man ihn ansah.
Stattdessen schwang sie ihre Peitsche und hieb damit auf das Monster ein, das gequält zuckte. Gleich darauf erschien Alexander, der ihm mit seinen heiligen Lichtstrahlen mächtig einheizte und im nächsten Moment konnte der braunhaarige Schwertkämpfer, obwohl beeinträchtigt, wieder angreifen. Er schwächte das Monster um weitere wichtige Lebenspunkte, aber nicht genug, um diesen Alptraum eines Floristen umzubringen. Das bedurfte schon etwas mehr. Der blonde Boxer grinste grimmig und sprach den Aura- Zauber auf sich, der ihn zu ungeahnten Leistungen befähigte. Quistis nickte kurz und konzentrierte sich ihrerseits.
„Meteor!“
Der mächtige Zauberspruch ließ unzählige Meteore auf das Monster einschlagen, welches schon gar nicht mehr wusste, wie ihm geschah. Der Junge neben ihr mit der Narbe auf der Stirn hatte anscheinend genug davon, darauf zu warten, dass ihn jemand von den üblen Nachwirkungen des Mundgeruches der Pflanze heilte und nahm eine Hand von der Gunblade. Er hielt sie vor sich und behandelte sich selbst, bis er wieder über seine vollen Kräfte gebot. Wütend sah er den Morbol an. Er würde es bereuen, ihnen über den Weg gelaufen zu sein, das versprach sein Blick.
Der blonde Faustkämpfer spürte nun anscheinend die Wirkung des Aura-Zaubers, denn um ihn herum schossen plötzlich gelbe Flammen aus dem Boden und er sammelte seine Kraft. Dann stieß er sich ab, rannte auf das Monster zu und bearbeitete es mit einer Folge von Fußkicks und Fausthieben, dass die Lebenskraft nur so strömte. Am Ende, als man schon denken könnte, er wäre fertig, trat plötzlich noch einmal ein seltsamer Glanz in seine Augen und er vollführte einen „Different Beat“.
Quistis analysierte den Morbol und stellte erleichtert fest, dass die furchtbare Attacke des Draufgängers ihm beinahe seine letzten Lebenspunkte abgezogen hatte. Sie holte wiederum mit ihrer Peitsche aus und versetzte dem Monster einen Hieb, der es zurückschleuderte. Aber es war noch nicht tot. Noch einmal schleuderte es seine Säureattacke, diesmal auf sie selbst. Sie spürte, dass die ätzende Flüssigkeit ihr lebensgefährlich schadete, aber jetzt hatte sie keine Zeit zum Heilen.
Auch dem Jungen neben ihr schien der Kampf zu lang zu dauern. Er vollführte einen solch kräftigen Schlag mit seiner Revolver-Schwert-Mischlingswaffe, dass das Monster beinahe zweigeteilt wurde und nur noch wenige hundert Lebenspunkte übrig blieben. Der andere Junge lachte auf und versetzte dem Morbol mit einem Uppercut den Todesstoß. Die riesige Pflanze bäumte sich noch einmal auf, sank aber dann zusammen und verschwand, als hätte es sie nie gegeben.
Quistis nahm ihre traditionelle Siegespose ein, strich sich ihr gelbes Haar aus dem Gesicht und drehte sich lächelnd zu ihren Gefährten um. Ein Morbol, zwei Rumbrum-Drachen, ein Grendel und eine Drachen-Isolde. Keine schlechte Bilanz, fürwahr. „Ihr habt eure Zustandskopplungen nicht gerade optimal gewählt“, meinte sie tadelnd. „Wenn ich dir nicht geholfen hätte, dann wärst du bis in alle Ewigkeit versteinert gewesen, Xell. Und du hättest auch noch länger weitergeschlafen, wenn das Vieh dich nicht selbst aufgeweckt hätte, Squall.“
„Sei mal nicht so vorlaut, Frau Allesweiß!“ begehrte der Faustkämpfer auf. „Wenn ich nicht beim letzten Rumbrum-Drachen eine Phönix-Feder auf dich geworfen hätte, dann wärst du bis in alle Ewigkeit tot gewesen. Wo war denn deine Resistenz gegen Feuer, als er uns angehaucht hat, häh?“
Quistis wollte gerade etwas entgegnen, als sie beide in ihrem Streit unterbrochen wurden, von einer ruhigen, aber nichtsdestotrotz drohend scharfen Stimme.
„Aufhören! Alle beide! Dreht euch sofort zu mir um!“
Die Stimme war so befehlend, dass sie sich auch umgedreht hätten, wenn sie nicht gewusst hätten, dass die Stimme von Squall kam. Squall, die lebende Legende. Der Hexen-Ritter. Der unbesiegbare Gunblade- Kämpfer. Und außerdem der Schulsprecher ihres Gardens. Und im Moment sah er nicht sehr freundlich aus. Nein, nicht wütend, eher irritiert. Es schien, als ob ihm nicht aufgefallen wäre, dass Xell leicht zu reizen war und Quistis selten einem Wortduell aus dem Weg ging.
„Was ist denn in euch gefahren?“ fuhr er sie an. „Ich kann niemanden in meinem Team gebrauchen, der versucht, auf Teufel-komm-raus der Beste zu sein, auch wenn seine Freunde dabei drauf gehen! Wenn ihr jetzt glaubt, dass ihr im nächsten Kampf so eine Art Duell austragen könnt, dann glaubt nicht, dass ich euch wiederbeleben werde. Ich kämpfe mit niemandem, der einen Kampf nicht ernst nimmt! Glaubt ihr etwa, wir hätten Artemisia besiegen können, wenn ihr euch so idiotisch benommen hättet wie jetzt?“
Artemisia...
Die Hexe aus der Zukunft, die die Zeit hatte verschmelzen wollen und es auch beinahe geschafft hätte. Die ihren ehemaligen Mitschüler Cifer unter ihre Kontrolle gebracht hatte und ihn dazu gebracht hatte, einen Monsterregen über Esthar niedergehen zu lassen. Die ein ganzes Schiff voller SEEDs umgebracht hatte. Nur mit vereinbarten Kräften war es ihnen damals mit Hilfe ihrer Freunde Irvine, dem galbadianischen Scharfschützen, Selphie, der ziemlich kindischen Nunchaku-Kämpferin, und Rinoa, Squalls großer Liebe gelungen, sie zu besiegen. Niemand hätte es allein vermocht, diese übermächtige Hexe mitsamt ihrer ebenfalls äußerst starken G.F. Griever zu besiegen.
„Ist ja schon gut“, brummte Xell verlegen und kratzte sich am Kopf. „Reg dich doch nicht so auf, es war doch nicht so gemeint. Tut mir Leid, dass ich dich angeschnauzt habe, Quistie.“
Die Angesprochene lächelte, als sie ihren Kosenamen hörte. „Mir tut’s auch Leid, Xell. Kannst du mir noch mal verzeihen?“ Dabei lehnte sie sich an seine Schulter und sah ihn so flehentlich an wie ein verwundetes Reh.
Der beinharte Faustkämpfer wurde ein bisschen rot und lachte dann verlegen. „Lass das“, protestierte er, „wann werdet ihr endlich damit aufhören, mich zu veralbern?“
Quistis kam nicht zum Antworten, denn im selben Moment begann das Funkgerät, das Squall in seiner Jackentasche trug, zu summen. Er murmelte irgendetwas von Dank und den Technikern Esthars, die etwas erfunden hatten, das wirklich Sinn machte, während er es hervorkramte. Er schaltete es ein und hielt es ans Ohr – um es gleich darauf wieder so weit wie möglich von sich weg zu halten.
Kein Wunder, denn aus dem Verstärker tönte Selphies ewigfröhliche Stimme, die es nebenbei bemerkt ohne Schwierigkeiten mit einem Nebelhorn aufnehmen konnte. Kaum jemand schaffte es, ihr 10 Minuten zuzuhören, ohne einen mittelschweren Gehörschaden davonzutragen. Allerdings musste man sagen, dass sie dank ihrer Stimme bei einer Schulveranstaltung auch keine Mikrofone mehr benötigten. Alles hatte eben sein Gutes.
„Haaaaallo, Leute“, krähte das Mädchen am anderen Ende der Leitung. „Ich will ja nicht stöööören, aber ihr solltet euch beeilen und sofort hier antanzen. Direktor Cid hat angerufen, wir sollen uns auf der Stelle bei ihm im Garden meeeelden. Die Betonung lag auf soooofort!“
„Was?“ wunderte sich Xell. „Was kann so wichtig sein, dass man uns unseren ersten Urlaub seit guten vier Wochen absoluten Stresses nicht gönnt? Schließlich haben wir ein paar Dutzend Feiern und Ehrungen wegen Artemisias Niederlage hinter uns. Das kann uns der Direktor doch nicht antun!“
„Eeeer kann! Ich wiederhol’ ja nur, was er gesagt hat. Übrigens, Squall“, fuhr sie fort, nun plötzlich etwas leiser, „du solltest dich beeilen, zurückzukommen. Rinoa rennt hier schon rum wie ein eingesperrter Tiger und sehnt sich nach dir-“ An dieser Stelle hörte man ein dumpfes Krachen. Die drei sahen sich verwundert an, bis Selphie weitersprach: „... so sehr, dass sie schon damit beginnt, Dinge nach mir zu werfen. Beeeeeeil dich also, wenn du willst, dass ich noch in der Lage bin, uns nach Hause zu fliegen. Ende!“
Squall rieb sich bedeutungsvoll das linke Ohr, als er das Funkgerät wieder verstaute. Dann erst bemerkte er, dass Quistis und Xell ihn schon beinahe unverschämt angrinsten. „Was habt ihr denn?“ wollte er wissen. „Ihr wisst doch, wie Selphie ist. Das dürfte euch doch kein müdes Lächeln mehr entlocken.“
„Oh, wir denken dabei nicht an Selphie“, meinte Xell betont unschuldig drein sehend. „Ich dachte nur gerade daran, wie viel Zeit schon vergangen ist, seit wir die Ragnarok verlassen haben. Ganze dreißig Minuten. Wahnsinn! Wo er und Rinoa doch schon meistens nach der Hälfte dieser Zeit ganz zappelig werden, wenn der andere nicht in der Nähe ist. Erstaunliche Leistung, nicht wahr, Quistie?“
„Er überrascht mich wirklich.“ Die junge Frau lächelte verschmitzt. „Ich dachte schon vor dem Morbol, dass er irgendwie fahrig wirkte, aber er hat’s noch ausgehalten. Das ist neuer Rekord.“
„Ganz meine Meinung“, schloss Xell sich an. „Kein Wunder, dass Rinoa schon gewalttätig wird.“
Einen Moment lang sah sich Squall versucht, seinen Freunden mit der Gunblade etwas Hirn einzuhämmern, aber er entschied sich aus Rücksicht auf seine Waffe anders. Schließlich war sie einzigartig, eine der mächtigsten Waffen der Gegenwart: die Löwenherz. Dann jedoch drehte sich nach einem kurzen Stirnrunzeln herum und marschierte in Richtung Ragnarok davon.
„...Lasst mich doch“, meinte er lediglich. Und als er merkte, dass sich seine sogenannten Freunde schon wieder das Lachen verbeißen mussten, fügte er hinzu: „Und wenn ich auch nur ein unterdrücktes Kichern höre, bis wir die Ragnarok erreichen, beschwöre ich Doomtrain, verstanden? Und jetzt Abmarsch!“
Endlich kam die Ragnarok in Sicht, das ehemalige Raumschiff, das Squall und Rinoa im Weltraum treibend entdeckt hatten, als er sie gerade zu retten versuchte. Früher war es dazu bestimmt gewesen, die Esthar- Hexe Adell weit weg von der Erde zu bringen, an einen Ort, wo man ihre Kräfte nicht mehr fürchten musste, heute diente es der Gruppe, die diese Hexe getötet hatte, als Transportmittel, um von einer Ehrung zur nächsten zu gelangen.
Anscheinend waren sie auch schon vom Schiff gesichtet worden, denn kaum hatten sie das Schiff erspäht, sahen sie schon eine Gestalt im blauen Kleid, begleitet von einer vierbeinigen Silhouette auf sich zurennen. Ein paar Momente später fiel das blaue Etwas auch schon über Squall her, um ihn mit den Armen zu umfangen und wehrlos zu machen und danach heftig zu küssen!