Es geht um die Wurst

Hermann ließ sanft einen fahren. Er bereute es im gleichen Moment, als sich der bestialische Gestank im gesamten hinteren Busbereich verteilte. Vergrämte Gesichter, würgende Kinder und eine tote Fliege auf seiner Hose waren die Folge. Ja, er hatte schon eine ganz besonders intensive Fahne. Verstärkt wurde diese durch seinen hohlen Magen. Dann stank es immer besonders. Genau wie morgens (oder auch ab und zu abends) unter der Dusche. Obwohl er im großen und ganzen nicht sehr oft duschte, und noch seltener dabei furzte. Zum Glück wusste niemand im Bus, wer der Übeltäter war. Alle sahen sich empört um, außer den Kindern, die noch immer keuchend in den Ecken saßen. Es wäre wohl auch nicht aufgeflogen, wenn nicht der blöde Langhaardackel von einer der alten Schachteln seine Schnauze zwischen Hermanns Beine gesteckt hätte, um dabei laut Schnüffelnd den Gestank zu genießen. Mit einem kollektiven Raunen der Fahrgäste, einer hysterisch schreienden alten Schachtel, die ihren Hund beim zurückziehen der Leine mittlere bis schwere Würgemale verpasste, und einem weinenden Kind kam der Bus zum stehen. Der Furz war inzwischen verflogen. Nachdem alle murmelnd den Bus verlassen hatten, traute sich auch Hermann sich von seinem Platz zu erheben und aus dem Bus zu treten. Zischend schlossen sich die Bustüren wieder hinter ihm, und der Bus des Grauens setzte seine Fahrt fort.
So konnte es nicht weiter gehen, das war Hermann klar, und wie er da alleine an der Bushaltestelle stand und n och kurz grübelte, ob ein Hund überhaupt in einem Bus mitfahren durfte, beschloss er, seine Diät aufzugeben und dem Genuss einer fettigen, salzigen Bratwurst mit Senf zu frönen. Behäbig und langsam setzten sich Hermanns 150 kg in Bewegung. Schnaufend, schwankend und schwitzend schlurfte Hermann von der Bushaltestelle über einen kurzen Weg, der an einer heruntergekommenen Apotheke und an einem gutbesuchten Puff vorbeiführte, hin zum Marktzentrum. Während er angestrengt auf die nächste Würstchenbude zuschritt, begeisterte sein zu viel Platz einnehmender Hintern einige Passanten, die der Anblick des rhythmisch zu den Schritten Hermanns schaukelnden Hinterteils sichtlich erheiterte. Sie wussten offensichtlich nicht, welche Gefahr von diesem Körperteil ausgehen konnte.

Kalle-Alfred freute sich darüber, dass an diesem Tag blauer Himmel und strahlende Sonne die Gemüter der Leute erwärmten. Doch dass sah man dem glatzköpfigen, vernarbten , bierbäuchigen und mit einer vollgefetteten Schürze gerüsteten 55-jährigen Mann nicht an, dessen Mundwinkel tiefer hingen als der Nebel in London und dessen Sorgenfalten sich so tief in seine Haut gegraben hatten wie seine Finger sich des öfteren in seine Nase bohrten. Und das durfte ihm auch keiner übel nehmen, denn sein Dasein als Verkäufer im und immerhin Besitzer vom „Zum Flippigen Würstchen“, DER Würstchenbude am Markt, war schlichtweg zum Kotzen. Es gab jeden Tag das selbe: stinkendes Fett, knorpelige Würstchen und durchwachsene Schnitzel. Seine Frau hatte ihn vor 15 Jahren verlassen und verschwand dann mit seinen Kindern nach Holland. Und so kam er nach jedem anstrengenden Arbeitstag nach Hause, in seine runtergekommene Wohnung im Assi-Hochhaus, setzte sich jedes Mal vor seinen Fernseher und sah sich die „Transen-mit-Titten-Show“ an oder eiferte mit Mitch und Pam bei „Baywatch“ um die Wette. Also alles kaum Gründe, um froh zu sein. Im Moment ging Kalle-Alfred seiner Lieblingsbeschäftigung nach: einen besonders großen und saftigen Popel, der ihm wie ein langer Wurm in der Nase gelegen und den er nun erfolgreich herausgezogen hatte, rollte er geschickt zu einem großen, grünlich-gelben und runden Geschoss, platzierte dieses auf seinem Daumen und spannte nun den Zeigefinger an. So verharrte er nun hochkonzentriert und schussbereit hinter seiner Wurstschnippelmaschine und zielte mit angestrengtem Gesicht auf den Teller eines seiner gerade anwesenden Kunden. Currywurst mit Fritten, erkannte Kalle-Alfred sofort, doch dem erlesenen Mahl fehlte noch der richtige Pepp. Kalle-Alfred hielt die Luft an, Schweiß tropfte ihm von der Stirn, visierte, legte an und... SCHNALZ! Das Popelgeschoss durchpfiff die Luft (jedenfalls in Kalle-Alfreds Welt), flog zielstrebig auf den Teller zu und verfing sich schließlich sogar in der Gabel des ahnungslosen Gastes, der diese langsam zum Mund führte und genüsslich alles in den Mund beförderte, was die Gabel zu bieten hatte. Kalle-Alfred vernahm die Bemerkung seines Kunden, etwas Klebriges habe sich in einem seiner Backenzähne verfangen, mit einem kurzen Schmunzeln. Ja, das war sein Leben.
Als Kalle-Alfred von seinen brutzelnden Würstchen aufblickte, sah er, wie Hermann sich im Hintergrund der Marktszenerie donnernden Schrittes und bedrohlichen Blickes dem Würstchenstand näherte. Kalle-Alfred kannte Hermann schon lange, und eines wusste er genau: lange konnte diese Völlerei nicht mehr gut gehen.
Und eines wusste auch Hermann ganz genau: er hatte Hunger, Hunger und noch mal HUNGER!! Keuchend, pfeifend und röchelnd kam der lebende Berg wabernden Fleisches zum Stehen. Die Blicke beider Männer trafen sich, Kalle-Alfreds und Hermanns Blicke, die Blicke zweier gestandener Männer, die auf zwei Seiten standen. Ging es nicht immer darum im Leben, wer „hinter“ dem Würstchenstand, wer „davor“ stand?
Beide wussten, was jetzt kam. Kalle-Alfred versuchte, Hermann zu grüßen.
„Hallo... Hermann. Schönes Wet...“, doch ohne Kalle-Alfred auch nur im geringsten zu beachten, satt dessen mit aller Konzentration auf die im Fett scheinbar gegen das Ertrinken ankämpfenden Würstchen starrend, unterbrach Hermann die Begrüßung mit wie Gotteszorn grollender Stimme, schnaufenden Atemgeräuschen und einem Netz aus Speichelfetzen, das Kalle-Alfred um die Ohren flog.
„ICH WILL zwei mal Zigeunerschnitzel mit großen Pommes, mit fett Mayo drauf, und noch drei Frikadellen, aber die FETTEN, nicht die Zwergenfürze da in der Ecke!“ Mit diesen Worten deutete Hermann auf einige ca. faustgroße Frikadellen. Hermanns Vorstellung von großen Frikadellen lag WEIT darüber. Während der zuvor angepopelte Gast panikartig den Ort des Geschehens verließ, bereitete Kalle-Alfred das geforderte Fressen zu. Was in den schrecklichen fünf Minuten geschah, die folgten, nachdem Kalle-Alfred Hermann seine Bestellung aufgetischt hatte (dabei immer um seine Finger besorgt und sich dann gerade noch hinter seiner Wurstschnippelmaschine verschanzend), lässt sich mit Worten unmöglich ausdrücken und spottet auch sonst jeder Beschreibung. Kalle-Alfred atmete in seiner Deckung einigermaßen entspannt auf und wischte sich den kalten Angstschweiß von der Stirn, während Hermann geräuschvoll mit seiner breiten Zunge die letzten Mayoreste vom Teller leckte, eine triefende Speichelspur hinterlassend. Wieder blickten sich beide Männer tief in die Augen.
„So, der ist schon sauber, kannste direkt wieder dem nächsten Kunden reichen“, kommentierte Hermann den Zustand seines Tellers grinsend, als er diesen Kalle-Alfred reichte.
„Bezahl... und geh“, forderte Kalle-Alfred sein gegenüber auf.
Hermann zögerte kurz, zwängte dann jedoch seine wulstige Hand in eine seiner Gesäßtaschen, wobei die Haut seiner Hand schmerzvoll gequetscht wurde. Dann zog er seine Geldbörse heraus, und bezahlte sogar 2 Euro mehr als verlangt. Kalle-Alfred wusste Bescheid. Nein, das war nicht etwa Trinkgeld, oh nein, es war etwas ganz anderes. Er sah das Verlangen in Hermanns verkniffenen Augen, über die Schweißperlen der Stirn hinabtropften. Ein leises, rasselndes und fiependes Geräusch drängte sich an Kalle-Alfreds Ohren. Das Atmen eines Mannes, den es nach einer fetttriefenden, knorpeligen und im höchsten Maße salzigen Bratwurst verlangte, der höchsten Wurst unter allen Würsten. Ohne den Blick von Hermann abzuwenden führte er seinen linken Arm mit einer flinken, sicheren Bewegung zu den brutzelnden, im Fett planschenden Würstchen, griff sich eine mit der bloßen Hand, den Hitze ignorierend, den Schmerz verdrängend, und reichte sie Hermann. Das zaghafte anheben einer Augenbraue reichte an Mimik aus, um Hermann zu einer Antwort zu bewegen.
„Kein Brötchen. Leg sie einfach... in eine Serviette.“ Der tiefe Bariton von Hermanns Stimme ließ es nicht an Nachdruck mangeln. Kalle-Alfred tat, wie ihm geheißen. Hermann nahm die nun in eine Serviette gepackte Wurst und verschwand ohne ein weiteres Wort zu verlieren wieder Richtung Bahnhof. Kalle-Alfred setzte sich langsam hin... und wartete einen Moment.
Als er Hermann kaum mehr sehen konnte, wusste er es. Er war es leid, hier und jetzt (Wolf), er wollte nicht mehr, nicht mit diesem Monster noch mit irgend wem sonst. Hier und heute war es vorbei... Kalle Alfred würde ein neues Leben beginnen, und zwar jetzt sofort und mit dem was er hatte. Also schnappte er sich kurzerhand das an diesem Tag eingenommene Geld, schloss die Bude ab und ging langsam, aber entschlossen zu seinem roten, kleinen, uralten und rostigen Opel Corsa. Sein Ticket in ein neues Leben, in die Freiheit!

Als Hermann währenddessen schon wieder angestarrt und von kleinen Kindern ausgelacht wurde, wollte er es allen zeigen, und rülpste so heftig, dass sich ein säuerlicher und bitterer Geschmack in seinem Mund ausbreitete, da sich die Masse kurz zuvor Gegessenem seinen Hals hinaufarbeitete. Doch Hermann schluckte kurz und tapfer, und so rutschte die matschige Nahrungslawine wieder seine Speiseröhre hinunter. Alle Anwesenden drehten sich indes mit angeekelten Gesichtern von Hermann weg. Der umfasste, während er in einer Seitengasse verschwand, um seine Ruhe zu haben, seine Wurst jetzt so fest, dass das Fett nur so herausfloss und sich über Hermanns Hand hinunter auf die Ausbuchtung seines Bauches und somit über sein Hemd ergoss. Hermann meinte, das schrill-kreischende Quietschen sei eine Katze gewesen, auf die er vielleicht ohne es zu merken getreten war (solche Dinge kamen bei ihm vor, wenn auch nicht oft). Doch dass war es nicht, oh nein.
Er konnte kaum begreifen, was er sah, noch weniger was er hörte, als die Wurst eine grimmige Miene zog und ihn lauthals anschnauzte.
„Drück doch nicht so fest, du fette furzende Sau! Du Scheiß-Mißgeburt! Du fettleibiger, mondärschiger Mutter••••...!!!“, doch Hermann starrte das plärrende Stück Fleisch in seiner Hand nur ungläubig an, dieses unverschämt fluchende Fleischprodukt, und dabei lief ihm ein langer glänzender Speichelfaden aus dem Mundwinkel.
„Lass mich jetzt los, du Drecksau!! Ich will hier weg! Du stinkst aus der Fresse wie ein Schlachter unter der Eichel, wie ein Schlächter aus der Kimme!!“
Hermann hatte sich inzwischen wieder einigermaßen gefangen, es gab nicht viel, was ihn aus der Fassung bringen konnte. Er hob seinen mächtigen Brustkorb unter den Fettwülsten an, um tief Luft einzusaugen, dann sprach er donnernd ein Machtwort: „RUHEEEE!!!!“, und tatsächlich... Stille.
„Wer... oder was bist du überhaupt?“ Die Frage schien berechtigt.
Die Wurst zog ihre Lippen zu einer dünnen Linie zusammen und sah Hermann herablassend an. „Der uneheliche Sohn von Marilyn Manson, was meinst du denn?“
Hermann zögerte: „Marilyn wer?“
„ICH BIN EINE VERDAMMTE KLEINE ••••WURST, DIE DICH FETTGETRÄNKTEN DRECKSCHWAMM UND SCHMUTZFUß ZUM BESCHISSENEN BENUTZEN DEINES VERKÜMMERTEN UND VERPILZTEN NUTTENGEHIRNS BEWEGEN WILL!!!!!!“, schrie die Wurst bis sie fast besinnungslos und schlaff in Hermanns Hand zusammensackte. Hermann wurde schwindelig.
„Also jetzt REICHTS mir aber...“, jammerte Hermann, der nun doch angegriffen wirkte, und rannte mit der Wurst in Richtung Straße.
„HÖR ZU, WABBELTIER!!! Wenn du mich jetzt isst, ist das auch dein Ende!! Es fehlt nur noch ein minimaler Rest Fett, um dein Herz zum Stillstand zu bringen, KAPIERT, DU BLÖDES RHINOZEROS???“ Die Wurst versuchte nun auch noch Hermann in die Hand zu beißen, während der auf die Hauptstraße trat.
„Lass mich, du verteufeltes Metzgerwerk!! Stirb!“
Doch in dem Moment, in dem der völlig aufgelöste Hermann die Wurst schmeißen wollte, kam wieder der Bus des Grauens seines Weges gerollt, und in diesem Weg stand nun Hermann, mit der Wurst in der Hand kämpfend. Es klatschte kurz und laut, ähnlich dem Geräusch einer platzenden Wasserbombe. Dann quietschten die Reifen des außer Kontrolle geratenen Busses, der auf die Gegenfahrbahn schlidderte. Der mit rasender Geschwindigkeit heranpreschende Fahrer eines roten Opel Corsas, alt und rostig, hatte keine Chance. Er sah noch kurz eine durch die Luft schleudernde Wurst, dann krachte es laut. Metall schepperte, der Corsa wurde zu Dosengröße zerdrückt.

Kalle-Alfred sah keine Wurst mehr. Kalle-Alfred war nun tot. Hermann auch. Die Wurst nicht. Sie landete unsanft auf dem Straßenasphalt, zerschellte in viele kleine rötliche Stückchen... nur ihr Kopf blieb intakt. Was sollte sie nun dazu sagen?
„Scheiße, das war mal ein Griff ins Klo!“
Dann zerquetschte der Reifen eines Notarztwagens auch den Rest der Wurst zu Hackfleisch.
Dann war es still.
Und irgendwo ließ irgendwer sanft einen fahren...

ENDE!


So, wer eine Vermutung zur Moral dieser Geschichte hat (ich hab keine, jedenfalls nicht mehr ), der möge sie mir mitteilen!!