Die Reise über die Ebenen war aber nicht nur durch den Entweihten eine Reise voller Gefahren. Sie konnte auch schnell in das Nichts führen... in die Vergessenheit. Und wer sein Ziel doch fand, der merkte bald, dass es nicht ganz das war, wonach er suchte. Denn die Gesetze, denen andere Welten unterliegen, gelten nicht für den leeren Raum. Und so kann sich alles, was sich der Reisende erhoffte, in Nichts verwandeln...

Er öffnete die Augen, und stand dort wo...
Der Wanderer stockte. Wo Seturnas ihn zurückgelassen hatte, ja.
Nur schien das Jahre zurück zu liegen.
Langsam und vorsichtig tastete der Wanderer sich ab, und ein unwirkliches Gefühl erfüllte ihn. Ein Gefühl, etwas verloren zu haben. Als Bastijan feststellte, dass seine Ausrüstung komplett war, fing er an sich genauer umzusehen. Der Ort, an dem er doch erst vor wenigen Stunden eingeschlafen war... er hatte sich verändert. Und zwar sehr verändert.
Der Baum, der ihm Schutz vor Regen geben sollte, stand nicht mehr.
Er lag auch nicht umgestürtzt in dem Feld, das den Weg säumte.
Er war fort, und nur ein alter Baumstumpf legte stummes Zeugnis von seiner einstigen Existenz ab.
Auch war der Weg selbst... völlig zugewachsen, unmöglich dass es für den Wanderer vor Stunden so anders ausgesehen haben konnte.
Der Wanderer stellte sich aufrecht hin, atmete tief durch und hielt dann die Luft an.
Er versuchte den Geräuschen der ewigen Nacht zu lauschen. Denn wenn sich auch alles verändert zu haben schien, die Dunkelheit, die vertraute Schwärze, war geblieben.
Leises Rauschen der Baumwand, die sich weit hinter den Feldern erstreckte. Der Wind, der durch ihre Äste strich und diese mit sich zog, um sie nach kurzer Reise wieder zurückfallen zu lassen.
Sonst nichts... keine Stimmenfetzen aus Richtung der Taverne.
Keine Vögel, nur der Wind und die Nacht.
Noch während der Wanderer ausatmete und die Luft gleich daruaf wieder tief einsog, wurde ihm klar, was er verloren hatte.
Zeit. Viel Zeit.

Mit jedem Schritt, den er in Richtung der Taverne machte, wurde ihm das Rätsel um seinen Körper unverständlicher. Sein Geist war auf Reise gewesen, auf einer Reise zu einer völlig anderen Welt, über Wege, die kein Sterblicher jemals gehen sollte.
Diese Reise musste die Regeln der Zeit völlig außer Kraft gesetzt haben.
Was immer ihm auch wie Minuten, vielleicht Stunden erschienen war, hier hatte es... wieviel Zeit gekostet? Monate? Jahre? Oder vielleicht... Jahrzehnte?
Eine Zeit, in der sein Körper hier verweilt haben musste.
Und trotzdem war er voller Kraft... obwohl nicht mehr als ein dünnhäutiges Gerippe übrig hätte bleiben müssen.
Er ging den Weg, als sei es erst Stunden her, die letzte Mahlzeit eingenommen zu haben. Nur ein leichtes Gefühl von Durst. Aber wie?
Am Horizont tauchte der Umriss eines Gebäudes auf. Die Taverne?
Also gab es sie doch noch? War die Zeit doch... nur ein paar Wochen weiter gezogen? Der Baum zu Brennholz verarbeitet?
Dann wäre Seturnas Plan doch nicht so genial gewesen. Dann würde er ihn finden. Er war ein Wanderer.

Mit jedem Meter sank diese Hoffnung in sich zusammen. Mit jedem Detail, das sich aus der Dunkelheit schälte, erkannte Bastijan, dass dies nicht die Taverne war, die er vor wenigen Stunden verlassen hatte.
Als er endlich vor dem Gebäude zum stehen kam, wußte er dass nicht Monate, nicht Jahre... sondern Jahrzehnte vergangen sein mußten.
Wie sonst sollte aus der Taverne eine verwitterte, von Wind und Wetter zermürbte und zersetzte Ruine geworden sein?
Alte Spuren an halb verrotteten Balken zeigten dunkle Spuren... ein Brand?
Was es auch war, angesichts des mit Moosen und Gräsern überwucherten Mauerwerks schien das Warum keine Bedeutung mehr zu haben.
Es war, als sei das Recht dieses Bauwerks, sich denkenden Wesen zu offenbaren, von der Zeit aberkannt worden.
Der Wanderer sank auf die Knie und nahm einen der Steine in die Hand.
Seturnas hatte also gewonnen. Nach all den endlosen Meilen... all den Gefahren und Kämpfen... war er nun in einer Welt, die ihn vergessen hatte.
Was hatte Seturnas getan? Diese Welt den Schatten gänzlich übergeben?
Alles Preiß gegeben, um Teil an der finsteren Macht haben zu können, die der Junge die "Herzlosen" genannt hatte?
Der Wanderer zitterte und bemerkte, dass sich sein Mund nun doch sehr trocken anfühlte.
Er lebte. In einer Welt, die nicht mehr die seine war. Er hatte die Tür gefunden, doch die Reise hatte ihn nicht an den Ort gebracht, den er vorgesehen hatte.
Seturnas musste fest mit seinem Tode gerechnet haben. Natürlich.
Und auf welch grausame Weise... wenn das Wesen zwischen den Welten ihn erreicht hätte. Der Wanderer schauderte, denn er ahnte, dass dies Schicksal schrecklicher gewesen wäre als in dieser Welt zu stranden, die seine und doch nicht seine war.

Nach einiger Zeit raffte er sich auf und ging in die Ruine. Der Grundriss zeigte noch auf, dass es einst mehrere Geschosse gegeben hatte.
Aus einer Ecke, in der alte Latten vor sich hin verrotteten und Mauerwerk zu einem Haufen zusammengestürzt war, schien ein schwaches Glimmen zu kommen. Ein bläuliches, kaltes Leuchten, wie Bastijan erkannte, als er näher trat. Er beugte sich zu diesem Leuchten hin, und hob einen Kristallsplitter hoch.
Er musste aus jenem Kristall stammen, mit dem er Melvin aufgehalten hatte... das, was Melvin in die Welt gebracht hatte.
Torch hatte diesen Splitter wohl gefunden und aufbewahrt.
Und dort vor sich, halb im vermoderten Holzboden und im sich durch die Latten arbeitenden Erdboden sah er einen halb eingesunkenen, skelettierten Körper.
Bastijan war sich nicht völlig sicher, aber etwas sagte ihm, dass dies die Reste von Torch waren.
Dieses Gebäude war nicht einfach nur verwittert, es war überfallen und zum Teil zerstört worden.
Sie hatten Torch überrascht. Wer?
Vielleicht Seturnas, der noch einmal vorbei geschuat hatte? Vielleicht seine Diener, die nach Jahren aufgeräumt hatten in dieser Welt?
Der Wanderer seufzte leise und sah durch das völlig zerstörte Dach zum blassen Mond hinauf.
Was sollte er jetzt tun? Es schien alles so sinnlos.
Doch den Versuch unternehmen, die nächste Stadt zu finden? Wenn es noch Städte gab?
Hatte er seine Aufgabe verloren? Seinen Sinn, seinen Platz in dieser Welt?
Hatte Seturnas also... wirklich... gewonnen?
Er und die Macht, der er sich verschrieben hatte?

Ein vertrautes Geräusch trieb die Verzweiflung, die Stück für Stück Besitz von Bastijan ergriff, zurück.
Das Röhren eines Krovvaks... nein, mehrer Krovvaks.
Sofort sprang der Wanderer zu den Steinhaufen am Rande der Ruine, hechtete mit wenigen Schritten auf den höchsten Punkt der Gebäudereste und hielt Ausschau.
Beinahe verschlug es ihm den Atem.
Er war nicht allein. Um dies zu wissen musste er keine Stadt mehr besuchen.
Dort unten wanderte eine Gruppe von berittenen Krovvaks vorüber... mit Reitern, die in dunkle Schleier gehüllt waren, den Schulterpanzerungen und tiefen Stimmen nach Männer.
Bastijan konnte ihre Worte nur vage verstehen, diese Sprache hatte er in den Weiten der Wüste von Tovernis von Nomaden sprechen gehört.
Aber das war lange her... wenn auch nicht so lange, wie er es sich angesichts dieser Ruine klar zu machen versuchte.
Einige Fetzen konnte er jedoch verstehen... sie trieben ihre Tiere zusammen, da... etwas... aus den Wäldern die großen Wiesen betreten hatte... eine Bedrohung für die Krovvaks.
Aber wo wollten sie hin? Was suchten Nomaden jenseits des Walls?
Der Wanderer senkte seinen Kopf etwas, als der Konvoi vorbei ritt. Wie sollte er diesen Leuten erklären, was er hier in der Ruine trieb? Wer er war?
Besser, er bliebe noich unentdeckt.
Der Wall! Was, wenn es den Wall nicht mehr gab? Niemand konnte sagen, was sich verändert haben mochte in der Zeit, in der er den dunklen Traum geträumt hatte.
Die Gruppe war nun vorüber, und hielt weiter in Richtung der Wüste.
Leise stieg der Wanderer aus seinem Versteck herab und trat in die ewige nacht hinaus. Er musste ihnen folgen.
Vielleicht würde er doch noch erfahren, was geschehen war... warum die Nomaden sich hier herum trieben, und vor was sie sich fürchteten.
Langsam und geduckt schlich er der Gruppe nach, immer dem Röhren der Krovvaks folgend, dass sich unheimlich und schallend durch die Stille der Nacht schnitt.

An der Waldgrenze stand wurde die Wand aus Bäumen, die den Zugang zu den großen Wäldern darstellte, immer stärker vom Wind geschüttelt.
Die Äste, deren schwache Schatten über die Wiesenfelder strichen, ächzten immer lauter.
Die schwachen Schatten wurden deutlicher, und traten aus dem Boden hervor, nahmen Gestalt an.
Unter den wachsamen Augen einer einsamen Eule formten sie sich zu Wesen, die aus Schwärze geboren waren, gebrandmarkt durch ein Symbol, das sie ihren Herren zuschrieb.
Als sie sich in Bewegung setzten war es, als würden hundert kleine Schatten über den Boden wandern, mal flach, mal aufrecht, mal wie eine Täuschung der Augen, mal wie eine deutliche Silhouette.
Die Eule sah es ganz genau. Sie folgten dem Menschen.