Wir waren über 6 Jahre lang getrennt. Nun sehe ich dich höchstens noch im Bus oder an der Haltestelle - aus der Ferne. Du bist nicht mehr die Person, neben die ich mich setzen würde. Heruntergekommen, agressiv, zugedröhnt, dumm. Wechselst du überhaupt deine Kleidung? Wann hast du das letzte mal deine Haare gewaschen? Pflegst du dein Rossgebiss? Wie bezahlst du deine Drogen?
Du bist eine fremde Person... Schon früher habe ich dich als dumm bezeichnet, doch nur deshalb, weil du mein ältester Freund sein wolltest und mir dafür sogar etwas geben wolltest. Doch dieser Platz liess sich nicht vergeben, da du nunmal zu spät dazugestossen bist. Oft standest du in meiner Nähe und warst mir dennoch ferner, als unser gemeinsame Freund von früher, der mir damals mit dem Messer gedroht hatte. Er wollte, dass ich ein besserer Freund von ihm werden. Er hat gute Noten und die Lehrstelle für einen sehr begehrten Beruf bei seinem Vater auf sicher. Du versagst in der Schule und bist deinen Freunden so viel Wert wie das Gras in deiner Tasche. Deine Familie ist mit dir überfordert, wünscht sich, du wärst anders - oder weg.
Was ist nur in den 6 fröhlichsten Jahren meines Lebens mit dir geschehen? Die üblichen Verdächtigen sind wohl schwieriges Elternhaus, schlechter Umgang, Drogen... Ich wage zu behaupten, dass du all dies hast. Doch führt das eine unweigerlich zum anderen? Wieso bist du von diesem Zug nie abgesprungen? Er wird immer schneller und der Absprung wird immer schwieriger. Wo willst du morgen die Überwindung hernehmen etwas zu ändern, wenn es dann noch schwieriger geworden ist und dein Mut noch weiter gesunken ist? Warte nicht, bis es dir egal ist, ob der Absprung tödlich ist! Spring jetzt! Oder spring nicht?

Ist ein Punkt möglich? Ein Punkt, auf den ein neuer Satz folgt... Neuanfang... zweite Chance. Findest du den Weg für den dir niemand eine Beschreibung gegeben hat? Findest du überhaupt aus dir selbst hinaus, um einen Versuch für deine Rettung zu machen? Oder bist du schon tot? Das, was ich von dir kenne, ist es erstickt worden von dem Tier, das ich hier vor mir sehe? Ein Raubtier, das sich seine Nahrung beschaft, wo sie grad zu finden ist. Was hat es dir angetan? Ist es nicht mehr an allem schuld, als das Elternhaus, die Freunde, die Drogen? Bist du es?

Wieso stelle ich mir vor, dich mit diesen Fragen zu konfrontieren? Niemals würde ich dich das fragen... Ich traue mich einfach nicht, auf dich zuzugehen. Hast du mich doch einmal grundlos angeschnauzt und sonst nie ein Wort an mich gerichtet. Das tat weh, doch ich habe nichts erwidern können. Ich bin gleich wie du. Gerne würde ich dich ansprechen, doch ich wage es nicht diesen unbeleuchteten Pfad zu betreten. Und immer schwärzer wird dieser Weg und immer weiter entferne ich mich auch physisch von dir. Nun wohne ich 100km entfernt... Schon bist du nur noch eine schmerzliche Erinnerung. Die unklaren, hasserfüllten Augen überdecken den unschuldigen Jungen. Ich will dich vergessen, auch wenn mit dir der Junge verschwindet, den du umgebracht hast, denn du bist jener Junge. Ich wünsche dir von Herzen, dass du dich wieder zum Leben erwecken kannst, doch stirb aus meiner Erinnerung!