Sind zwar keine eigenen, aber die beiden schönen Kurzgeschichten hatte ich noch auf der Festplatte, sind noch aus dem alten Forum bei Final Rinoa:

Der Turm [© Sense1]

"Sie blickte auf ihr Leben.
Der Turm war nicht hoch, doch sehr tief.
Und unten wartete das Meer.
Stürmisch und ungewiss.
Ein einziger Haufen mehr oder weniger verschwommener Erinnerungen die sich im Wind bewegten.
Viel Schlechtes, viel Gutes.
Warum überwiegten immer die schlechten Erinnerungen? Warum nicht die Guten?
Sie machte einen Schritt nach vorne.
War ihr Leben wie dieser Turm? Eine einzige Anhäufung von Gedanken und Erinnerungen, von Gefühlen, von Feinden und Freunden?
Oder war sie noch weniger?
Mehr?
Was war das Leben? Die Vergangenheit durch die sie ständig floh und sich nachts umdrehte, wenn die Monster wieder überhand nahmen?
Sie blickte immer noch nach unten.
Ein Sprung und alles war vergessen.
Oder nicht?
Wartete dort ein furchtbarer Gott der sie in die Tiefe reißen und weiter seine Spiele mit ihr treiben würde?
Eine Träne löste sich aus ihrem Auge.
Sie hob eine Hand um sie abzuwischen, doch ihr fehlte die Kraft, selbst für diese einfache Bewegung.
Ihre Beine gaben plötzlich nach und ihr Körper fiel.
Sie landete auf dem Boden, nah am Rand des Turmes.
Sie blickte nach oben und erstarrte.
Dann lächelte sie.
Der Turm war höher.
So hoch das sie das Ende nicht sehen konnte.
Er verschwand in den Wolken, und sie fasste einen Entschluss.
Sie drehte sich um und ging in den Turm zurück."


Weine nur, Traurigkeit [gepostet von Shana]

Es war eine kleine Frau, die den staubigen Feldweg entlang kam. Sie war wohl schon recht alt, doch ihr Gang war leicht und ihr Lächeln hatte den frischen Glanz eines unbekümmerten Mädchens. Bei der zusammengekauerten Gestalt blieb sie stehen und sah hinunter. Sie konnte nicht viel erkennen. Das Wesen, das da im Staub des Weges saß, schien fast körperlos. Es erinnerte an eine graue Flanelldecke mit menschlichen Konturen. Die kleine Frau bückte sich ein wenig und fragte: "Wer bist du?"
Zwei fast leblose Augen blickten müde auf. "Ich? Ich bin die Traurigkeit", flüsterte die Stimme stockend und so leise, dass sie kaum zu hören war.
"Ach, die Traurigkeit!" rief die kleine Frau erfreut aus, als würde sie eine alte Bekannte begrüßen. "Du kennst mich?" fragte die Traurigkeit misstrauisch.
"Natürlich kenne ich dich! Immer wieder einmal hast du mich ein Stück des Weges begleitet."
"Ja aber", argwöhnte die Traurigkeit, "warum flüchtest du dann nicht vor mir? Hast du denn keine Angst?"
"Warum sollte ich vor dir davonlaufen, meine Liebe? Du weißt doch selbst nur zu gut, dass du jeden Flüchtigen einholst. Aber, was ich dich fragen will: Warum siehst du so mutlos aus?"
"Ich.... ich bin traurig", antwortete die graue Gestalt mit brüchiger Stimme. Die kleine, alte Frau setzte sich zu ihr. "Traurig bist du also", sagte sie und nickte verständnisvoll. "Erzähl mir doch was dich so bedrückt."
Die Traurigkeit seufzte tief. Sollte ihr diesmal wirklich jemand zuhören wollen? Wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. "Ach, weißt du", begann sie zögernd und äußerst verwundert, "es ist so, dass mich einfach niemand mag. Es ist nun mal meine Bestimmung, unter die Menschen zu gehen und für eine gewisse Zeit, bei ihnen zu verweilen. Aber wenn ich zu ihnen komme, schrecken sie zurück. Sie sagen: Papperlapapp, das Leben ist heiter. Und ihr falsches Lachen führt zu Magenkrämpfen und Atemnot. Sie sagen: Gelobt sei, was hart macht. Und dann bekommen sie Herzschmerzen. Sie sagen: Man muss sich nur zusammenreißen. Und sie spüren das Reißen in den Schultern und im Rücken. Sie sagen: Nur Schwächlinge weinen. Und die aufgestauten Tränen sprengen fast ihre Köpfe. Oder sie betäuben sich mit Alkohol und Drogen, damit sie mich nicht fühlen müssen."
"Oh ja", bestätigte die alte Frau, "solche Menschen sind mir schon oft begegnet." Die Traurigkeit sank noch ein wenig mehr in sich zusammen. "Und dabei will ich den Menschen doch nur helfen. Wenn ich ganz nah bei ihnen bin, können sie sich selbst begegnen. Ich helfe ihnen, ein Nest zu bauen, um ihre Wunden zu pflegen. Wer traurig ist, hat eine besonders dünne Haut. Manches Leid bricht wieder auf, wie eine schlecht verheilte Wunde, und das tut sehr weh. Aber nur, wer die Trauer zulässt und all die ungeweinten Tränen weint, kann seine Wunden wirklich heilen. Doch die Menschen wollen gar nicht, das ich ihnen dabei helfe. Statt dessen schminken sie sich ein grelles lachen über ihre Narben. Oder sie legen sich einen dicken Panzer aus Bitterkeit zu." Die Traurigkeit schwieg. Ihr Weinen war erst schwach, dann stärker und schließlich ganz verzweifelt. Die kleine, alte Frau nahm die zusammengesunkene Gestalt tröstend in die Arme. Wie weich und sanft sie sich anfühlt, dachte sie und streichelte zärtlich das zitternde Bündel.
"Weine nur, Traurigkeit", flüsterte sie liebevoll, "ruh dich aus, damit du wieder Kraft sammeln kannst. Du sollst von nun an, nicht mehr alleine wandern. Ich werde dich begleiten, damit die Mutlosigkeit nicht noch mehr Macht gewinnt."
Die Traurigkeit hörte auf zu weinen. Sie richtete sich auf und betrachtet erstaunt ihre neue Gefährtin: "Aber, aber - wer bist eigentlich du?"
"Ich?", sagte die kleine, alte Frau schmunzelnd und dann lächelte sie wieder so unbekümmert wie ein kleines Mädchen. "Ich bin die Hoffnung."