Also, ich spiele sowohl Ost- als auch West-RPGs, und ich will mal versuchen, wichtige Punkte zusammenzufassen. Wenn ich mich wo irren sollte oder jemand anderer Meinung ist oder vielleicht sogar einen zusätzlichen Punkt ansprechen möchte, nur zu!
Daß das ganze ziemlich allgemein gehalten ist und es durchaus auch Ausnahmen gibt, muß eigentlich nicht extra erwähnt werden...

Charakter: Im Ost-RPG ist der Charakter / die Charaktere meistens ziemlich in den Plot eingebunden. Man schließt den Chara ins Herz, da man im Laufe der Geschichte viel mehr über ihn und seine Motivationen erfährt und er sich auch weiterentwickelt (dafür ein recht bekanntes Beispiel: Squall aus FF8). Der Spieler hat meistens keine große Möglichkeit, sich mit dem Chara zu identifizieren, jedoch baut er eine emotionale Beziehung zu diesem auf (die kann positiv oder negativ sein, Tidus z.B. hab ich nie gemocht *gg*). Auch diese emotionale Beziehung zu dem Charakter stärkt seine Verankerung in der Spielwelt und der Story.
Im West-RPG dient der Charakter eher als Avatar, d.h. als Projektion des Spielers in der dargebotenen Spielwelt. Als Folge davon hat man keine solche emotionale Beziehung zum Charakter wie in Ost-RPG, man ist ja auch nicht so sehr der "Zuschauer", sondern nimmt durch den Avatar aktiv am Spielgeschehen teil und interagiert auch selbst mit der Spielwelt. Daß der Charakter dadurch weniger ausgebaut ist als in einem Ost-RPG ist irgendwie logisch, da der Charakter ja von den Vorstellungen des Spielers gefüllt wird. Natürlich kann dieses Konzept auch sehr gut erweitert werden, z.B. n Planescape: Torment, worin man immer mehr über seine Vergangenheit erfährt. Allerdings ist hier die Avatarrolle so stark, daß man nicht denkt "Aha, wieder ein Detail über Held XYZs Vergangenheit" sondern eher "Aha, wieder was über mich selbst herausgefunden".

Spielwelt: In Ost-RPGs ist die Spielwelt oftmals recht bunt und vielfältig, oftmals werden auch komische Elemente eingebaut, um die Spielwelt lebendig wirken zu lassen. Allerdings ist die Spielwelt oftmals sehr stark an den Hauptplot gebunden, wodurch sie nicht allzu eigenständig wirkt. Es fehlt irgendwie das Gefühl, daß die NPCs, die man trifft, ein selbständiges Leben führen, auch dann, wenn man grade nicht in ihrer Nähe ist. Vielmehr scheint es, als seien die Personen nur dazu erschaffen worden, damit der Spieler mit ihnen reden kann.
In West-RPGs wirkt die Spielwelt viel autarker und eigenständiger. Jede Person, die man trifft, scheint über eigene Ziele und Hintergründe zu verfügen, und oftmals hat das Verhalten des Spielers Einfluß darauf, wie einem begegnet wird. Die Spielwelt entwickelt sich auch nicht um den Hauptplot herum, sondern umgekehrt: Der Plot findet in dieser Spielwelt statt, er ist ein Ereignis dieser Welt und nicht ihr Existenzgrund. Dadurch wird der Spieler vielmehr in die Welt integriert, wobei auch wieder das Avatar-Modell dafür sorgt, nicht nur als unbedarfter Zuschauer eine gewisse Meinung von den einzelnen Orten zu haben, sondern daß man eher schon eine richtige Liebe zu Dorf XY und zu Firmengebäude Z entwickelt.
Die Aussage, West-RPGs orientierten sich nur an Tolkiens Mittelerde, stimmt nicht ganz, denn Spiele wie Anachronox (futuristisch) oder Planescape: Torment zeigen deutlich, daß es auch anders geht. Auch Fallout wäre so ein Beispiel. Sprich: Nur weil Baldur's Gate oder Gothic ein "gewöhnliches" Fantasy-System benutzen, muß das nicht auf die Allgemeinheit übertragbar sein.

Sidequests: Sowohl in Ost- als auch in West-RPGs dienen Sidequests zwei Zwecken:
a) Aufbesserung der eigenen Werte bzw. Erlangung eines mächtigen oder nützlichen Gegenstands
b) Erlangung zusätzlicher Storyinformationen, die den Hauptplot vertiefen helfen.
Wie die Sidequests im einzelnen aussehen, unterscheidet sich je nach Herkunft des Rollenspiels:
Ost-RPGs benutzen hier viel häufiger Minispiele, um die Spieleerfahrung aufzulockern (Erhöhung der emotionalen Bindung mit diesem Spiel), haben dafür auch normalerweise weniger Sidequests als ihre Westlichen Verwandten. Auch ist oft ziemlich ersichtlich, daß die Sidequest erstmal wenig mit der Story zu tun hat (auch wenn das Ergebnis durchaus eine storyfördernde Erfahrung sein kann). Häufig können solche Sidequests auch einfach wegen ihrem Unterhaltungswert existieren.
In einem West-RPG (in dem der Hauptplot wie oben erwähnt ein Ereignis innerhalb der Spielwelt ist) sind Sidequests ebenfalls Ereignisse, die stattfinden können oder nicht. Häufig sind die Sidequests so dicht gestreut, daß man eine Aufgabe des Hauptplots und eine Sidequest nicht gut zu unterscheiden vermag. Dieses System läßt die Spielwelt wirklicher erscheinen, da der Spieler auch den unbedeutenden Leuten bei ihren Problemen helfen kann (und wenn er dies tut, vielleicht eine andere Queste freischaltet). Die Erfahrung der Spielwelt ist auch hier wieder sehr stark.

Story: Das emotionale Erleben einer Geschichte ist das Zentrum für Ost-RPGs. Deshalb hat diese Geschichte auch eine große Bedeutung für das Design des Spiels und der Spielwelt. Im Grunde genommen dreht sich alles um diese Geschichte: Vom Aussehen der Spielwelt bis hin zu den (häufig) aussagekräftigen Namen der Charaktere und deren Charakter (welch ein Satz *g*). Diese Geschichte wahrzunehmen und von Anfang bis zum Ende mitzuerleben, das will ein Ost-RPG bieten.
Ein West-RPG will in erster Linie einmal den Spieler in seine Welt eintauchen lassen, weshalb dem Spieler auch schon sehr früh am Anfang viele Möglichkeiten offenstehen. Hier wird der Spieler nicht von einer Geschichte geführt, sondern er muß diese Geschichte selbst gestalten. Er ist Teil der Spielwelt, ebenso wie die Geschichte, und somit muß der Spieler erst einmal lernen, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Natürlicherweise entfaltet sich der Hauptplot viel langsamer als in einem Ost-RPG, dafür ist aber auch die Erfahrung der Spielwelt viel intensiver.

Musik: Seltsam, daß noch niemand gesagt hat, warum ihm Ost-RPGs atmosphärischer vorkommen. Ich denke, einen großen Beitrag dazu leistet die Hintergrundmusik. Hier ist die Konzeption nämlich bei Ost- und West-RPGs völlig unterschiedlich:
Ost-RPGs haben eine sehr stark hervortretende Musik, die leicht wiedererkannt werden kann und die buchstäblich zum mitpfeifen einlädt. Seiein dies nun spezielle Kampfthemes oder die Musik einer Stadt. Die Musik dient mit zur Identifikation eines Ortes oder eines Geschehnisses innerhalb des Spiels. Wenn man beispielsweise Jahre später einmal die Alternativ-Welt-Melodie von Chrono Chross hört, denkt man unweigerlich an dieses Spiel. Es erwachen wieder die Emotionen und Assoziationen aus der Zeit, da man dieses Spiel gespielt hat. Dadurch, daß die Melodien so einen hohen Wiedererkennungswert haben, tragen sie erheblich zur Atmosphäre des Spiels bei.
In West-RPGs ist die Musik meist unterschwelliger. Ich könnte jetzt nicht auf Anhieb eine Melodie aus einem West-RPG nachpfeifen, da sie nicht so sehr in den Vordergrund treten wie bei den östlichen Verwandten. Vielmehr ist die Musik zur zusätzlichen unterschwelligen Beeinflussung des Spielers gedacht. Bin ich in einem friedvollen Dorf, so läuft im Hintergrund eine friedliche Melodie, die mir vielleicht gar nicht so bewußt wird. Und dennoch verstärkt sie das Gefühl, daß man hier für einige Stunden Sicherheit genießen kann. Dies ist auch ein Grund dafür, daß Westliche Rollenspiele meist düsterer wirken als östliche: In einem dunklen Dungeon ist die Musik nicht auf Wiedererkennung, sondern auf Untermalung der Atmosphäre ausgelegt, die man vielleicht gar nicht so bewußt wahrnimmt. Gutes Beispiel hierfür ist Planescape: Torment (merkt man, daß ich das Spiel mag?? ).

So, alles geschriebene ist natürlich wie immer IMHO.

Und jetzt geh ich Spaziern...
Ciao!