-
Ehrengarde
Kapitel 4: Erwachen
Squall kletterte leichtfüßig über einige Trümmer, die den Eingang zu den Centra-Ruinen versperrten. Bei seinem letzten Besuch war der Eingang noch nicht versperrt gewesen. Nun, das war auch schon länger her.
„Okay. Dann wollen wir mal.“, brummte er. Er rannte einige Stufen hinauf, wobei er immer versuchte, das seltsame Licht, das gleichzeitig am Geländer hinauflief, zu überholen. Es gelang ihm nicht ganz. „Verdammt!“, maulte er. Auf einer großen Plattform bemerkte er einige Tomberys, die langsam umherschlurften. Er wies Diabolos an, sie ihm vom Leib zu halten und hastete weiter durch ein großes Portal, wo ein großer Steinquader, der wie ein Aufzug wirkte, ihn eine Ebene höher brachte. Oben angekommen, bemerkte er als erstes, dass die Treppe, die er beim ersten Besuch entdeckt hatte, nicht mehr da wahr.
„Na großartig!“, seufzte er. Das bedeutete wieder die gleiche Prozedur wie beim ersten Mal: Leiter hinauf, blauen Knopf drücken, Leiter hinunter, noch einen blauen Knopf drücken, um die Treppe auszufahren. Bei allem Respekt für die Technik von Centra, das war doch ein wenig übertrieben! Nun, es blieb ihm wohl nichts anderes übrig. Schweigend begann Squall, die Leiter hinaufzuklettern. Zum Glück wusste er jetzt, wie es funktionierte und musste nicht mehr lange suchen.
Wenig später stieg er die steinernen Stufen hoch, die einmal rund um den Turm führten und ihn zu einer Plattform brachten. An der Wand des Turms war eine massive Tür eingelassen, die in die Odinshalle führte. Sie war natürlich geschlossen.
Squall kletterte eine weitere Leiter neben der Tür nach oben. Eine Gargoylestatue starrte ihn aus einem roten Auge an. Die andere Augenhöhle war leer. Als Squall sich suchend umsah, entdeckte er einen roten Edelstein, der auf dem Boden lag. Er hob ihn auf und setzte der Statue das zweite Auge ein. Plötzlich entflammte eine Säule auf der anderen Seite der Plattform. Die Flammen bildeten Zahlen, die Squall verändern konnte, um einen Code einzugeben. Als er die richtige Zahlenfolge eingegeben hatte, meldete eine düstere Stimme aus der Statue: „Geheimcode bestätigt!“
Squall grinste die Statue an und sagte fröhlich: „Besten Dank.“
Er kletterte wieder hinunter und betrat die Odinshalle. Fast erwartete er, wieder Odin zu sehen, der auf seinem Thron auf ihn wartete. Aber allzu schnell wurde er wieder daran erinnert, dass Odin von Cifer geschlagen worden war und Gilgamesh nun den Eisenschneider besaß.
Squall sah sich um. Hier hatte sich überhaupt nichts verändert. Bis auf den großen Steinthron und einige Metallteile, die verstreut auf dem Boden lagen, befand sich nichts in diesem Raum.
Erst jetzt meldete sich eine Stimme in Squall, die ihm sagte, dass er gar nicht wusste, was genau er suchte. Er sah sich einmal um und begann dann, die Wände zu untersuchen. Der Assistent von Professor Tikama hatte behauptet, dass er hier ein Griever-Zeichen gesehen hatte. Squall wusste zwar nicht warum, aber aus irgendeinem Grund war es wichtig, dass er dieses Zeichen fand.
Nach einiger Zeit brach er die Suche ab. Die Wände waren mit seltsamen Zeichen übersät. Es war schlicht unmöglich, Griever in diesem Zeichensalat zu finden.
Verärgert ballte Squall die Hand zur Faust und fluchte halblaut.
Plötzlich hörte er eine Stimme hinter sich. „Was suchest du, kleiner Mensch?“ Squall wirbelte herum und weigerte sich zuerst zu glauben, was er sah. Hinter ihm war die riesige Gestalt von Odin aufgetaucht. Squall kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Doch als er die Augen wieder öffnete, war Odin noch immer da: majestätisch, furchterregend und riesengroß.
Als Squall seine Überraschung endlich überwunden hatte, fragte er mit einer krächzenden Stimme: „Odin? Aber wie...“ Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. „Wieso bist du hier? Ich dachte...“ „...ich wäre tot?“, vollendete Odin seinen Satz. Er hätte wohl gelächelt, wäre er dazu in der Lage gewesen. „Ich kann nicht eingehen in die Hallen des Todes. Ich bin ein... wie nanntest du es?... eine G.F.! Vergaßest du dieses?“ Squall ging ein Licht auf. „Also warst du gar nicht tot?“, fragte er.
„Ich bin mir sicher, dies gerade erklärt zu haben.“, antwortete Odin ungerührt. Squall war verwirrt.
„Aber... warum bist du nach diesem einen Kampf nicht mehr aufgetaucht?“
Odins Augen funkelten zornig. „Ich verlor mein Schwert im Gefecht gegen diesen Jüngling. Ohne meine Klinge bin ich es nicht wert, dir zu Diensten zu sein.“ Allmählich verstand Squall. Er würde wohl einmal ein längeres Gespräch mit Gilgamesh führen müssen.
„Ich fragte dich, was du zu finden hoffst, kleiner Mensch.“, meldete sich Odin nach einer kurzen Pause. Squall fuhr zusammen und löste hastig seine Kette vom Hals. Er hielt sie Odin entgegen. „Kennst du dieses Zeichen?“, fragte er hoffnungsvoll.
Odin nahm die Kette entgegen und betrachtete sie eingehend. „Dies ist das Zeichen des ersten Ritters. Vandell LaDiganè ist sein Name.“ Squall hatte das auch schon vermutet. „Ist dieses Zeichen irgendwo in diesem Raum?“, fragte er ungeduldig. Odin nickte langsam. „Es zeiget die Stelle, wo der Ritter ward begraben bei lebendigem Leib.“, sagte er bekümmert.
Squall lief ein kalter Schauer über den Rücken. „Lebendig begraben?“, wiederholte er. Odin nickte. „Er war bestrebet, seiner Herrin zu folgen, doch das Volk verweigerte ihm dies.“
Squall verstand zuerst nicht, was das heißen sollte, doch dann ging ihm ein Licht auf. „Du meinst, er wollte sich selbst umbringen, aber die Leute hatten etwas dagegen?“ Odin nickte wieder. „Die Menschen versiegelten diese Wand, die führet zu seinem Schlafgemach. Sie nahmen ihm jede Möglichkeit, seiner Herrin zu folgen. Nun vermag niemand zu sagen, ob er noch immer, nach Tausenden von Jahren, auf Rettung harret, oder ob er sein Leben aushauchte.“ Odin deutete auf die Wand hinter seinem Thron. Squall erkannte überrascht, dass über dem Thron Griever eingraviert war. Er wusste gar nicht, wie er ihn übersehen hatte können.
Hastig kletterte er den riesigen Thron hinauf und betrachtete zuerst die Gravur und dann seine Kette. Aber es fiel ihm beim besten Willen nicht ein, was er jetzt machen sollte.
„Du weißt nicht zufällig, wie...“, wollte er Odin fragen, doch dieser war verschwunden. Squall sah sich suchend um. Deshalb bemerkte er auch nicht, dass um seinen Anhänger ein seltsames Leuchten tanzte und gleich darauf wieder erlosch.
Achselzuckend sprang Squall wieder zu Boden und begann mit dem Abstieg. Er hatte es wenigstens versucht. Aber Squall konnte sich ohnehin nicht vorstellen, dass Vandell diese lange Zeit allein überlebt haben sollte.
Vielleicht könnte er einmal Laguna bitten, eine neue Expedition hierher zu schicken. Apropos Laguna; langsam sollte er sich auf den Weg nach Esthar machen. Schon von weitem konnte er Bahamut erkennen, der außerhalb der Ruinen auf ihn wartete.
Als Squall die Odinshalle verlassen hatte, begann das Griever-Zeichen an der Wand zu glühen. Einige Maschinen, die seit Jahrhunderten stillstanden, begannen wieder zu arbeiten. Und tief im Inneren der Ruinen öffneten sich Türen, die seit über 100 Jahren nicht mehr geöffnet worden waren...
Im Inneren der Ruinen regte sich eine Gestalt. Wegen der immer herrschenden Schatten konnte man nicht viel erkennen, doch es war klar, dass es sich um einen Mann handelte. Er richtete sich auf und erhob sich von dem Bett, das in der Mitte eines großen, luxuriös eingerichteten Raumes stand. Die Bewegungen des Mannes waren langsam, als wäre er gerade aus einem langen Schlaf erwacht.
Er machte eine fahrige Handbewegung, und mit einem Mal war es durch hunderte Kerzen etwas heller im Zimmer. Geblendet hob er eine Hand vor die Augen. Sein Gesicht wurde von den flackernden Schatten verborgen, als traute sich das Licht nicht, sein Gesicht zu erhellen. Dafür konnte man nun alles andere erkennen.
Der Mann war nackt, sein Körper war muskulös, aber nicht übertrainiert. Seine Bewegungen waren geschmeidig, obwohl er lange geschlafen hatte. Er war etwas größer als Squall. Sein Haar war im Nacken mit einem Lederband zusammengefasst, aber wie bei Squall hingen auch ihm einige Strähnen des glänzenden, dunkelbraunen Haares in die Stirn. Eine lange, hässliche Narbe verlief dicht über seinem Herzen und zog sich an seinem Hals hinauf, bis sie sich in den Schatten in seinem Gesicht verlor.
Mit einer weiteren Handbewegung zauberte er sich Kleidung herbei. Langsam zog er sich an und legte sich am Ende einen langen, schwarzen Umhang um die Schultern. Die Kapuze des Umhangs zog er sich tief ins Gesicht. Erst jetzt lichteten sich die Schatten in seinem Gesicht. Die obere Gesichtshälfte wurde nun zwar von der Kapuze verborgen, aber hohe Wangenknochen und ein sinnlicher Mund wurden nun sichtbar, die ihm ein elfenhaftes Aussehen verliehen. Erst jetzt wagte er, die Augen zu öffnen. Sie glühten rot unter der Kapuze hervor.
Vandell LaDiganè bemerkte, dass der Eingang zu seiner Kammer wieder geöffnet war. Also brauchte ein Hexenritter nach all der Zeit wieder seine Hilfe. Mit langsamen Schritten stieg Vandell die Stufen hinauf, die seit so langer Zeit niemand mehr betreten hatte, und bewegte sich auf den Ausgang zu. Er wurde von der grellen Sonne geblendet, die er seit 100 Jahren nicht mehr gesehen hatte.
„Endlich frei!“, flüsterte er. Jeder andere hätte sich nach fast 2 000 Jahren Gefangenschaft, in der er nur selten die Sonne hatte sehen dürfen, wahrscheinlich gefreut und hätte vielleicht auch gelacht. Aber Vandell blickte nur zum Horizont und blieb ruhig. Er hatte seit 3 000 Jahren nicht mehr gelacht.
Seit dem Tod seiner Herrin.
Hyne...
In seinen Träumen hatte sie ihn verfolgt, ihn angefleht, ihr zu helfen, aber er konnte nichts tun! Er konnte sie nicht retten! Am Anfang seiner Gefangenschaft wäre er seiner Wahnvorstellungen wegen beinahe gestorben. Doch er hatte sich wieder aufgerafft. Er hatte sich geschworen, jedem seiner Nachfolger zu helfen.
Vandell fasste einen Entschluss: Er würde diesem jungen Ritter, der ihn befreit hatte, helfen. Dann würde er sich selbst töten.
Er hatte den Ritter schon lange gespürt, bevor der Junge die Ruinen erreicht hatte. Der Kleine war Vandell irgendwie ähnlich; Auch er zeigte nicht gerne seine Gefühle Fremden gegenüber. Aber Vandell war verletzt, als er die Gedanken des Jungen las. Die Gedanken des jungen Mannes waren voll gewesen von einem Mädchen, das Vandells Herrin erstaunlich ähnlich sah. Er wünschte dem Jungen von Herzen, dass er seine Hexe würde beschützen können. Vandell selbst hatte es nicht geschafft.
Vandell drehte sich um und betrat die Halle erneut. Er blieb vor einem besonders kompliziert aussehenden Symbol an der Wand stehen und drückte kurz seine Hand darauf. Gleich darauf glitt ein Stück der vermeintlich massiven Wand zur Seite. Vandell betrat eine weitere Halle. In der Mitte schwebte ein kunstvoll gestaltetes Schwert einen halben Meter über einem Podest.
Soulkiller...
Das ganze Schwert war schwarz wie die Nacht, und der Griff wies kunstvolle Einlegearbeiten auf. Vandell packte das Schwert mit beiden Händen und zog es aus dem Bereich des Magnetstrahles, der es seit 2 000 Jahren an diesem Platz hielt. Das Schwert fühlte sich gut in seinen Händen an; Vandell war sich sicher, dass es schon ungeduldig darauf gewartet hatte, endlich wieder das Blut seiner Widersacher zu trinken.
Er befestigte das Schwert an seinem Gürtel und trat wieder in den Sonnenschein hinaus.
Vandell unterdrückte jede Gefühlsregung, die in ihm aufzukeimen drohte. Dennoch war er irgendwie, auf eine sehr zurückhaltende Art und Weise, glücklich.
Nicht mehr lange, und er würde Hyne De Carracas endlich folgen können.
Bahamut setzte Squall in der Nähe von Esthar ab. Der große Drache wollte nicht unbedingt von allen Menschen gesehen werden, was Squall nur recht war. Er spazierte gemächlich durch die Straßen der Stadt. Es herrschte wie immer reger Verkehr, Touristen und Einheimische unterhielten sich lachend miteinander. In dieser Stadt konnte man sich einreden, dass wirklich Frieden auf der Welt herrschte.
Kein einziger dieser Menschen erkannte Squall. Normalerweise wurde er sofort angesprochen, wenn er in Esthar zu Besuch war. Beinahe jedes Mal flehte ihn irgendein Teenager um ein Autogramm an.
Nun, diesmal schien ihn wirklich niemand zu erkennen. Allerdings bemerkte er einige Mädchen, die ihm hinterher sahen und tuschelten. Squall lächelte und nickte ihnen freundlich zu. Wenn er sich nicht täuschte, war gerade eines der Mädchen in Ohnmacht gefallen. Squall lachte kurz auf und setzte seinen Weg fort.
Allmählich begann er zu glauben, was die Anderen immer behaupteten. Vor allem Quistis vertrat nämlich die Ansicht, dass Squall ohne weiteres als Model durchgehen könnte.
Squall war wegen seinem angeblich guten Aussehen nicht eingebildet. Er kümmerte sich auch nicht unbedingt darum. Allerdings fand er auch selbst, dass er gegenüber einigen anderen jungen Männern einen gewissen Vorteil in punkto Aussehen hatte.
Außerdem wäre Rinoa wohl nicht mit ihm zusammen, wenn er wirklich hässlich wäre.
Während Squall nun in Gedanken versunken weiterschlenderte, fiel ihm noch etwas auf. Die Menschen schienen an seiner Kleidung nichts ungewöhnliches zu finden. Squall überlegte, wie er Hyne dazu überreden könnte, ihm diese Brille zu schenken.
Schließlich erreichte Squall die Präsidentenresidenz. Das riesige Gebäude stand wie ein Fels in der Brandung von neugierigen Touristen, die das prächtige Gebäude belagerten. Squall fragte sich schon, wie er da hinein kommen sollte, als er von jemandem angesprochen wurde.
„Hey, Kleiner, pass auf wo du hintrittst!“ Squall kannte diese Stimme. Sie gehörte Kiros, einem der Berater des Präsidenten. Offenbar erkannte sogar er Squall in seiner ‚Verkleidung’ nicht. Als Squall sich umdrehte, bemerkte er auch Ward, der wie ein grimmiger Bär die Touristen musterte.
Squall lächelte Kiros an. „Verzeihung, wissen Sie zufällig, wie ich in die Residenz komme?“, fragte er so unschuldig wie möglich. Kiros runzelte die Stirn. „Nun, wenn du keiner der engsten Freunde des Präsidenten bist oder keiner Reisegruppe angehörst wohl gar nicht.“, meinte er. Squall versuchte, sich ein Lachen zu verkneifen. Es gelang ihm nicht.
Jetzt wurde der sonst so ruhige Kiros wütend. Der elegante, dunkelhäutige Mann beugte sich vor und sah Squall ins Gesicht. „Was ist denn so lustig?“, wollte er wissen.
Squall sah sich um und stellte beruhigt fest, dass keiner der Passanten Notiz von dem kleinen Streit nahm. Er nahm die Brille ab.
Kiros machte einen überraschten Satz nach hinten. „Squall?“, krächzte er. Auch Ward machte den Mund auf, um etwas zu sagen, bis ihm einfiel, dass er ja gar nicht mehr sprechen konnte.
Squall nickte amüsiert. Dann setzte er die Brille wieder auf. Kiros blinzelte. „Ja, spinn’ ich denn?“, brachte er hervor. „Wie hast du das gemacht?“
Squall hob die Schultern. „Eine Art Zauber.“, erklärte er. „Ich weiß auch nicht, wie er funktioniert.“ Kiros sah ihn genauer an.
„Wieso hab ich dich nicht gleich erkannt? Und was sind das für abgefahrene Klamotten?“, fragte er.
Squall hob die Hand. „Alles zu seiner Zeit. Ich muss dringend mit Laguna sprechen.“
Kiros grinste. „Na, warum hast du das nicht gleich gesagt?“ Bevor Squall ihn darauf hinweisen konnte, dass er es gesagt hatte, gab Kiros Ward einen Wink. Der nickte und bewegte sich gemächlich auf die Menschenmenge zu. Überraschenderweise machten ihm alle bereitwillig Platz. Nun, so überraschend war es doch nicht. Es wollte sich eben keiner mit dem Polizeichef von Esthar anlegen.
Hinter Ward schloss sich die Gasse schnell wieder, sodass Squall und Kiros sich beeilen mussten, ihm zu folgen. Erleichtert ließen sie sich auf die Transportplattform fallen, die sie ins Innere der Residenz brachte. Drinnen ging es allerdings genauso hektisch zu wie draußen. Offenbar wurden hier seit neuestem Führungen durchgeführt, denn auch in der Residenz war eine Menschenmenge versammelt, die sich um einen Führer versammelt hatte, der den gesamten Komplex erklärte.
Glücklicherweise fanden die Leute selbst hier Platz, um Ward auszuweichen.
Gleich darauf schloss Kiros erleichtert die Türen von Lagunas Büro hinter sich. Präsident Laguna Loire , Squalls Vater, bemerkte sie gar nicht. Er war in ein Gespräch mit Oberst Caraway verwickelt, den Squall auf dem Monitor erkennen konnte.
„Es kommt überhaupt nicht in Frage, dass Sie Rinoa mitnehmen, zum Teufel noch Mal!“, rief Laguna gerade aufgebracht. Squall wurde hellhörig.
„Nun, ich bin ihr Vater. Ich entscheide, ob ich sie mitnehme oder nicht. Und ich wüsste nicht, was Sie das angeht!“, erwiderte der Oberst gelassen. „Ich sollte Sie nur informieren, dass dieser vorlaute Junge im Kampf gefallen ist. Die Trauerfeierlichkeiten beginnen morgen. Sie sind natürlich eingeladen.“
Laguna sprang aus seinem Stuhl auf. „Verlassen Sie sich drauf, ich werde kommen!“ Er zögerte kurz. „Und es geht mich sehr wohl etwas an, was sie mit Rinoa machen. Squall war mein Sohn! Er hätte das niemals zugelassen. Und wagen Sie es nicht noch einmal, meinen Sohn einen ‚vorlauten Jungen’ zu nennen!“ Er fing sich wieder. „Aber jetzt will ich mit Direktor Cid sprechen!“
„Tut mir leid, aber der Direktor ist nicht zu sprechen. Er holt Edea Kramer hierher.“, sagte Caraway, ohne eine Miene zu verziehen.
Laguna richtete sich auf. „Nun, dann werde ich eben Ellione informieren.“, meinte er erzwungen höflich. Etwas leiser fügte er hinzu: „Und ich werde nicht zulassen, dass Sie Squalls Andenken beschmutzen. Mein Junge besaß mehr Ehre, als sie jemals haben werden, trotz ihrer Auszeichnungen und Orden. Auf Wiedersehen!“ Mit diesen Worten schaltete Laguna den Monitor aus. Er stützte sich auf seinem Schreibtisch ab. So vornüber gebeugt und mit so ernster Miene sah er richtig alt aus. Der jugendliche Elan, der ihn sonst immer auszeichnete, schien völlig zu fehlen.
Kiros räusperte sich leise. Laguna hob schwerfällig den Kopf und sah ihn an. Er strich sich mit einer fahrigen Geste sein langes, dunkles Haar aus dem Gesicht. „Was ist los?“, fragte er niedergeschlagen.
„Das sollte ich lieber fragen.“, entgegnete Kiros. Laguna seufzte und richtete seinen Blick wieder auf die Tischplatte. „Dieser Oberst Caraway hat mir gerade mitgeteilt, dass Squall...“ Er brach ab. Kiros wechselte einen erstaunten Blick mit Squall, der einen Finger an die Lippen legte. Kiros verstand sofort.
„Was ist mit ihm?“, fragte er. Laguna holte tief Luft. „Squall ist tot. Im Kampf gefallen. Die Trauerfeier ist morgen.“, berichtete er tonlos. Es machte Squall ganz krank, seinen Vater so zu sehen. Auch, wenn er ihn erst seit einem knappen halben Jahr kannte.
Squall nahm die Brille ab und steckte sie ins Haar. „Was denn! Warum weiß ich nichts davon? Und warum bin ich nicht eingeladen?“, fragte er unschuldig. Lagunas Kopf schoss so schnell nach oben, dass Squall beinahe einen Schritt zurückgetreten wäre. Lagunas Gesicht drückte Verwirrung, Freude, Unglauben und noch viele andere Gefühle aus. Er rannte auf seinen Sohn zu und wollte ihn in die Arme nehmen, überlegte es sich jedoch noch anders und blieb einen halben Meter vor ihm stehen. „Squall! Du lebst! Aber...“ Der Präsident suchte nach den richtigen Worten (Was wirklich nicht oft vorkam! Normalerweise redete er wie ein Wasserfall.), während Squall milde lächelte.
„Ist ’ne lange Geschichte.“ Laguna rang noch immer mit sich, um Squall nicht einfach in die Arme zu nehmen und anzufangen zu heulen. Squall nahm ihm die Entscheidung ab, indem er seinen Vater umarmte und ihm kameradschaftlich auf die Schulter klopfte. „Hi Dad!“, lachte er. Laguna strahlte. Es kam nicht oft vor, dass Squall ihn ‚Dad’ nannte.
„Ich muss sofort Direktor Cid...“, begann er, doch Squall unterbrach ihn erschrocken.
„Nein! Keiner im Garden darf wissen, dass ich noch lebe!“ Laguna wirkte verwirrt. „Aber warum denn?“, fragte er. Squall seufzte. „Wie gesagt, die Geschichte ist ziemlich lang.“
„Macht nichts. Wir haben Zeit!“, meldete sich Kiros. Squall sah ihn an. Er lächelte. Dann setzte er sich in einen der bequemen Stühle im Büro und begann zu erzählen.
Rinoa wachte auf. Undeutlich erinnerte sie sich an einen Traum... In dem Traum hatte sie Squall gesehen, und sich selbst... Squall hatte gesagt, dass er sie nie verlassen würde...
Es war kein Traum gewesen, sondern eine Erinnerung. Eine Erinnerung an die erste gemeinsame Nacht...
Rinoa legte eine Hand auf ihren Bauch. Sie schloss die Augen. Sie glaubte, seine sanften Berührungen wieder zu spüren, seine zärtlichen Küsse zu erwidern, seine geflüsterten Worte zu hören... Seine Hände liebkosten ihren Körper, seine wunderschönen Augen strahlten eisig blau, seine Lippen versprachen ihr so vieles...
Sie spürte wieder Tränen in den Augen. In den letzten Stunden hatte sie so oft geweint, aber trotzdem waren noch Tränen da. Sie dachte wieder an den Traum. Dann kamen ihr die Worte in den Sinn, die er zum Abschied gesagt hatte. Bitte versprich mir... versprich mir, dass du dir einen Mann suchst, der dich glücklich machen kann...
Rinoa weinte still in das Kissen. Die Worte von Cifer schienen so unglaubhaft zu sein. Sie wusste doch, dass Squall...
Ihre Gedanken brachen ab. Sie dachte wieder an diese Nacht, in der er versprochen hatte, immer für sie da zu sein; das hatte er versprochen, und so vieles mehr...
Rinoa schlief wieder ein.
Squall beendete seinen Bericht. Er sah die drei Männer vor sich an und wandte sich wieder an Laguna. Der schien aus einer Traumwelt zurückzukommen.
„Wow!“, machte er. Squall nickte. „Genau das habe ich auch gesagt.“, meinte er ernst.
Kiros schüttelte den Kopf. „Und die zwei sind noch immer getrennt?“, fragte er.
„Nun, in gewisser Weise schon. Sie ist ein Geist, der versucht, wieder lebendig zu werden, und er wurde lebendig begraben, und keiner weiß, ob er noch lebt.“
Ward schwieg eisern. Nun, in der Hinsicht hatte er keine große Wahl. Kiros übersetzte Wards Gesten: „Ward meint, er findet das echt zum Heulen.“
„Geht uns wohl allen so.“, gab Laguna zu. Er wandte sich wieder an Squall. „Also darf keiner etwas erfahren? Auch Rinoa nicht?“ Squall schüttelte den Kopf.
„Besonders Rinoa nicht! Ich will sie nicht in Gefahr bringen.“ Laguna wirkte etwas verlegen. „Ja, natürlich! Aber... darf ich es wenigstens Ell und Cid verraten?“, fragte er.
Squall überlegte. „Theoretisch schon. Aber bei Ell bin ich ganz sicher, dass sie es Rinoa sofort erzählen würde.“ Laguna nickte. Er stand auf.
„Na gut, dann werde ich mich eben darauf beschränken, Oberst Caraway in seine Schranken zu weisen.“ Ein gewisses Leuchten trat in seine Augen. „Aber, diese Vanessa... wird sie ganz sicher aufkreuzen?“
„Früher oder später, ja. Und sie kommt bestimmt nicht allein.“, bestätigte Squall. Das Leuchten in Lagunas Augen wurde stärker. „Guuuut! Ich brauche ohnehin etwas Bewegung.“
Squall lächelte. Er setzte die Brille wieder auf. „Ich denke, Ellione sollte langsam von meinem Tod erfahren.“
Ell nahm diese Botschaft seltsam gefasst auf. Sie war zwar während des ganzen Fluges sehr still, aber sie weinte nicht. Dafür bewunderte Squall sie. Sie hatte immer behauptet, dass er ihr liebster ‚kleiner Bruder’ war, aber sie versuchte trotzdem, nicht um ihn zu weinen. Sie wusste, dass er das gehasst hätte.
Laguna stellte Squall im Garden als seinen Leibwächter vor. So gelangte er in den Garden und erhielt ein Zimmer in der Nähe seines eigenen Apartments. Als Squall einmal ‚zufällig’ an der offenen Tür zu seinem Apartment vorbeischlenderte, bemerkte er, dass Rinoa in seinem Bett lag. Sie schlief, doch sie schien keine angenehmen Träume zu haben. Vorsichtig schlich er zum Bett und kniete sich daneben hin. Er wagte es nicht, sie zu berühren, er beobachtete sie nur. Sie sah wie ein schlafender Engel aus, fand Squall. Allerdings schlief sie keineswegs ruhig. Ihr langes Haar fiel ihr ins Gesicht, ihre Lippen bewegten sich, ihre Hände zitterten. Beinahe hätte Squall sich nach vorne gebeugt und sie geküsst, doch im letzten Moment entschied er sich dagegen.
„Bald!“, flüsterte er. „Bald werde ich es dir sagen können.“ Dann stahl er sich wieder aus dem Zimmer. Niemand hatte ihn bemerkt.
In der Mensa setzte er sich allein an einen Tisch neben seinen Freunden. Keiner erkannte ihn. Interessiert lauschte er der Unterhaltung.
„Ich fasse es nicht, dass Caraway Rinoa mitnehmen will. Sie ist doch kein kleines Kind mehr!“, schimpfte Selphie gerade aufgebracht. Sie musste wirklich wütend sein, denn sie vergaß sogar ihre seltsame Aussprache. Quistis pflichtete ihr bei. „Das ist wirklich herzlos! Wo sie doch hier alle ihre Freunde hat, und erst die Erinnerungen an Squall...“
Squall dachte an all die gemeinsamen Stunden mit Rinoa. Er spürte, wie er rot wurde.
Äußerlich gelassen nippte er an seinem Getränk und lauschte weiter.
„Aber ein Mensch hat sich wirklich anständig benommen.“, berichtete Xell gerade. „Nämlich Cifer. Er hat noch nicht einmal versucht, Rinoa anzubaggern. Er und seine Gehilfen sind wohl der Ansicht, dass Squall gar nicht tot ist.“ Squall sah überrascht auf.
„Schön wär’s! Aber Squall ist nun einmal...“, murmelte Quistis niedergeschlagen.
Plötzlich stand Irvine auf. „Wir sollten dieses Gespräch beenden. Ihr wisst doch genau, wie sehr Squall sich davor gefürchtet hat, zur Vergangenheit zu werden. Und kaum ist er einen Tag tot, fangen wir schon an, ihn zur Vergangenheit zu machen!“
Guter alter Irvine. Squall war ihm dafür wirklich dankbar. Er hasste es, wie sie über ihn sprachen. Als wäre er wirklich tot.
Irvine ging langsam hinaus. Squall folgte ihm. Als er Irvine eingeholt hatte, sah dieser überrascht auf. Er erkannte ihn noch immer nicht.
„Hallo!“, meinte Squall so ungezwungen wie möglich. Irvine nickte knapp. „Du bist doch dieser Leibwächter von Laguna, nicht wahr?“, fragte er. Squall grinste.
„Ich wollte nur kurz mit dir reden, wenn du nichts dagegen hast. Ich kam ja nicht umhin euer Gespräch... mitzuhören.“
„Du hast gelauscht?“, fragte Irvine.
„Ich habe beobachtet und die Situation eingeschätzt!“, verbesserte ihn Squall. Er gab sich gekränkt.
„Ich wollte nur fragen, wer dieses süße Mädchen ist, die im Apartment von diesem...Squall... liegt. Schwarzes Haar, blaues Kleid,... Sie ist nicht zufällig diese Rinoa, von der ihr gesprochen habt?“
Irvine sah ihn misstrauisch an. „Ja, das hört sich nach Rinoa an. Wieso?“
Squall grinste wieder. „Glaubst du, ich hätte bei ihr Chancen?“, fragte er frech. Gleich darauf fühlte er sich von Irvine am Kragen gepackt und gegen die Wand gepresst. Irvine starrte ihn zornig an. „Wenn du auch nur versuchst, ihr zu nahe zu kommen, dann bringe ich dich eigenhändig um! Und wenn du Lagunas kleiner Bruder bist. Das ist mir scheißegal!“, brüllte er.
Er ließ Squall los, drehte sich um und ging weiter, als wäre nichts geschehen.
Berechtigungen
- Neue Themen erstellen: Nein
- Themen beantworten: Nein
- Anhänge hochladen: Nein
- Beiträge bearbeiten: Nein
-
Foren-Regeln