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Ehrengarde
Zur selben Zeit schreckte Rinoa an Bord der Ragnarok aus ihren traurigen Gedanken hoch. Entsetzten stieg in ihr auf, und ein schrecklicher Gedanke, der sie seit dem Abflug verfolgte, wurde zur absoluten Gewissheit.
Squall ist tot! Diese drei Worte fuhren wie ein Pfeil durch ihre Gedanken. Ihr wurde schwarz vor Augen. Als sich die Welt vor ihren Augen wieder klärte, sah sie in Quistis’ besorgtes Gesicht.
„Er ist tot!“, flüsterte Rinoa mit versagender Stimme. Quistis sah sie beunruhigt an. „Wovon redest du? Wer ist tot?“, wollte sie wissen. Rinoa hörte sie gar nicht. „Er ist tot!“, flüsterte sie wieder. Xell tauchte hinter Quistis auf. „Was hat sie?“, fragte er.
„Rinoa! Wovon redest du?“ Quistis berührte Rinoa sanft an der Schulter. Rinoa sah sie an, sie wirkte jedoch, als wäre sie weit weg. „Squall... mein Liebster... mein Ritter... bitte nicht!“ Ihre Stimme war kaum zu verstehen. Sie legte die Hände vor das Gesicht und weinte still vor sich hin. Xells Gesicht verlor alle Farbe. „Was hat sie da gesagt?“, fragte er fassungslos. Quistis bedeutete ihm, still zu sein. Sie legte ihre Hände beruhigend auf Rinoas Schultern und fragte sie mit fester Stimme: „Rinoa! Woher willst du wissen...“
„Es ist genau wie damals.“, sagte Rinoa leise. „Genau wie bei meiner Mutter! Ich spüre, dass er...“ Sie brach ab und sah Quistis verzweifelt an. „Mein Gott, Quis! Was soll ich nur tun, wenn er nicht mehr bei mir ist?“ Quistis nahm sie in die Arme. Sie spürte nun selbst, wie Tränen in ihren Augen brannten. Sie war die Einzige, der Rinoa ihr Geheimnis anvertraut hatte. Und jetzt war Squall tot. Wie sollte Rinoa das alleine schaffen?
Rinoa flüsterte immer wieder Squalls Namen, als könnte sie ihn damit wieder lebendig machen.
Der Rest des Fluges verlief in absoluter Ruhe.
Alle trauerten um ihren besten Freund.
Völlige Dunkelheit. Das war der erste Eindruck, als Squall die Augen aufschlug. Der zweite war, dass er sich nicht bewegen konnte. Es war nicht etwa so, dass er gefesselt gewesen wäre; sein Körper gehorchte einfach nicht seinen Befehlen.
Plötzlich lachte jemand. Squall hatte das Gefühl, als würde das Gelächter direkt in seinem Verstand ertönen.
„Du wirst schon noch lernen, ohne deinen Körper zurecht zu kommen.“, sagte jemand. Squall versuchte zu sprechen, aber nicht einmal das gelang ihm. „Wenn du mit mir reden willst, brauchst du einfach nur zu denken.“
Squall versuchte es. Wer bist du? , dachte er.
„Ha, ich wusste, dass du das fragen würdest!“ Plötzlich konnte Squall etwas sehen. Aber was er erkennen konnte, gefiel ihm nicht besonders. Er sah einen Raum, dessen Wände mit seltsamen Bildern und Runen übersäht waren. Die Bilder waren teilweise so bizarr und widerwärtig, dass Squalls Verstand sich schlicht weigerte, sie genau zu erkennen. In einer etwas dunkleren Ecke saß eine düstere Gestalt, die Squall vage bekannt vorkam. Aber wie die Bilder an der Wand konnte er sie nicht genau erkennen.
Squall versuchte, sich aufzusetzen, aber es gelang ihm erst beim zweiten Versuch. Er saß offenbar auf einem Altar aus blauem Stein, der ebenfalls mit seltsamen Runen verziert war. Als er sich noch einmal umsah, wäre er beinahe vor Schreck hinuntergefallen. Auf einem zweiten Altar sah er sich selbst liegen. Allerdings war sein Körper von einem seltsamen blauen Licht eingehüllt, was ihn irgendwie unwirklich aussehen ließ. Als er an sich selbst hinunter sah, erlebte er eine weitere Überraschung: Er war durchsichtig! Er konnte durch seine eigene Hand den Boden unter sich erkennen.
Was ist hier los? , dachte er betäubt.
„Du bist tot!“, kam prompt die Antwort.
Squall sah überrascht auf. Tot? Was soll das heißen? , dachte er.
„Ich denke, du kennst die Bedeutung dieses Wortes sehr gut. Und bitte, versuch deine Lippen zu bewegen, wenn du etwas sagst. Es ist ziemlich anstrengend, mit einem Geist zu reden.“
„Was?“, machte Squall verwirrt. Die Gestalt löste sich aus dem Schatten in der Ecke und kam auf ihn zu. Er erkannte die schlanke Gestalt der Herrscherin in dem düsteren Licht erst, als sie direkt vor ihm stand.
„Na, mein Kleiner, wie fühlt man sich als Geist?“, fragte sie spöttisch.
„Ich bin nicht ‚dein Kleiner’!“, schnappte Squall verärgert.
„Okay, mein Süßer. Aber ich finde, du solltest etwas mehr Respekt zeigen. Immerhin bin ich der einzige Grund, warum du noch nicht vollständig auf der anderen Seite bist.“ Sie begutachtete Squall einmal von oben bis unten und meinte dann: „Ich glaube, ich werde dich behalten.“
„Was soll das denn heißen, verdammt?“ Squall stand von dem Altar auf und versuchte, seine Waffe zu ziehen, ehe ihm einfiel, dass er ja tot war. Die Herrscherin lächelte boshaft. „Nun, ich denke, du wirst nicht in diesem Zustand verbleiben wollen, nicht wahr? Irgendwann wirst du auf Knien angekrochen kommen und mich bitten, dich wieder ins Reich der Lebenden zurückzuholen. Und dann wirst du auf ewig mein Sklave sein, Squall Leonhart.“
Squall verbiss sich ein Lachen und brummte: „Noch ein bisschen dramatischer, und ich würde dich als Theaterschauspielerin empfehlen.“ Die Herrscherin starrte ihn hasserfüllt an. „Mach dich ruhig über mich lustig. Deine Witze werden dir bald vergehen.“, zischte sie.
„Mir ist es egal, wenn ich sterbe. Meine Freunde sind in Sicherheit, und das ist das Wichtigste.“, meinte Squall äußerlich gelassen. Innerlich fühlte er sich hilflos und begann jetzt erst richtig zu verstehen, dass er tot war. Am liebsten hätte er getan, was die Herrscherin von ihm verlangte und sie angefleht, ihn wieder lebendig zu machen. Aber er hatte sich, bevor er Rinoa getroffen hatte, sein ganzes Leben nie erlaubt, seine Gefühle zu zeigen. Jetzt kam ihm dieses ‚Training’ zugute.
Die Herrscherin starrte ihn noch eine Weile mit ihrem seltsam irren Blick an, dann grinste sie bösartig. „Du denkst, du hast deine Freunde gerettet?“ Sie legte den Kopf in den Nacken und stieß ein verrücktes Lachen aus, das Squall kalte Schauer über den Rücken gejagt hätte, hätte er noch gelebt.
„Welch ein Irrtum!“, kicherte die Herrscherin. „Ich weiß genau, wo sie jetzt sind und was sie tun. Deine Freunde werden die Ersten sein, die von meiner Hand sterben, wenn ich meine Kräfte wieder erlangt habe. Verlass dich drauf. Ich habe genügend neue Träume von euren Wissenschaftlern gestohlen, um meine Magie zurück zu erhalten. Und nun sieh her!“ Sie wirbelte herum und zeichnete mit den Händen komplizierte Symbole in die Luft. Die Symbole verschwammen ineinander und bildeten eine spiegelnde Fläche, in der Squall sich selbst sehen konnte. Allerdings konnte er die Wand durch ihn hindurch erkennen. Ein grauenhafter Anblick.
Plötzlich veränderte sich das Bild. Squall konnte die Ragnarok erkennen, aber ein seltsamer Nebel lag über dem Geschehen. Im Passagierraum waren seine Freunde um Rinoa versammelt, die auf einem der bequemen Sitze saß und weinte. Er machte einen Schritt auf das Bild zu und streckte die Hand danach aus, doch er wagte nicht, es zu berühren. Stattdessen stolperte er einige Schritte zurück und wollte sich an der Wand abstützen. Doch als er die Hand an die Wand legte, glitt sie ohne auf Wiederstand zu stoßen hindurch. Erschrocken zog er seine Hand wieder zurück und starrte sie an. Hinter ihm stieß die Herrscherin wieder ihr irres Lachen aus. „Denk daran, Squall: Früher oder später wirst du wieder leben wollen.“, kreischte sie.
Squall stürzte entsetzt durch die Wand nach draußen. Doch egal, wie weit er auch lief, überall hörte er das verrückte Lachen der Herrscherin.
Nach Stunden, wie es ihm schien, blieb Squall stehen und kauerte sich auf dem Boden nieder. Er schloss die Augen und stützte den Kopf mit den Händen. Einige Zeit verstrich, ehe er wagte, den Kopf wieder zu heben. Offenbar war er bis zu einem der großen Plätze gelaufen. Er erkannte die riesige Statue des Ritters der Schöpferin. Sie war dreimal so groß wie Squall, der auch nicht der kleinste war. Squall staunte, als er die Statue genauer betrachtete. Der Ritter sah so lebensecht aus, dass Squall sich unwillkürlich fragte, welcher sterbliche Mensch zu solch einem Meisterwerk fähig sein könnte.
Der Ritter stand mit blank gezogener Waffe auf seinem Podest, beide Hände um ein Schwert gelegt, das er kampfbereit erhoben hatte. Sein Gesicht war ernst, die schrägen Augen auf einen Punkt hinter dem Horizont gerichtet. Sein langes Haar war im Nacken mit einem Band zusammengefasst, bis auf einige störrische Strähnen, die von einem schmalen Stirnband aus seinem Gesicht gehalten wurden. Und sein Gesicht...
Es schien nur zum Teil menschlich zu sein. Wie die Schöpferin auf dem Relief sah er aus wie ein Elf, der zufällig in die Welt der Menschen gekommen war. Aber er sah trotzdem nicht so seltsam fremdartig aus wie die Schöpferin. Eher wie... eine Mischung aus Mensch und Elf. Genau! Seine Augen und sein fein geschnittenes Gesicht konnten nicht darüber hinwegtäuschen, dass er eigentlich ein Mensch war.
Squall schauderte, als er in das Gesicht sah, das seinem eigenen so ähnlich war. Er wandte sich ab und lief zu dem anderen Platz, auf dem die Statue der Schöpferin stand. Sie sah genauso aus wie auf dem Relief, nur ihre schrägen Augen waren geschlossen und sie hatte die Hände vor der Brust gefaltet. Ihr hüftlanges Haar fiel in sanften Wellen über ihre Schultern. Ihr Gesicht erinnerte Squall, trotz aller Fremdartigkeit, so sehr an Rinoa, dass es beinahe schmerzte.
Squall wandte sich ab und ging nach kurzem Zögern auf eines der Gebäude zu, das hinter der Statue errichtet worden war. Irgend etwas an dem Gebäude schien ihn magisch anzuziehen. Er konnte gar nicht anders, als auf das Haus zuzugehen. Als er die Stufen hinaufstieg, hörte er jemanden hinter sich aufschreien. Er erkannte die schrille Stimme der Herrscherin, ohne sich umzudrehen.
„Wage es nicht, diesen Tempel zu betreten!“, kreischte sie. Squall beschleunigte seine Schritte. „Warum nicht?“, fragte er, ohne sich umzudrehen. Plötzlich spürte er, dass ihn irgend etwas zurück zu ziehen versuchte. Er wollte schneller gehen, aber er wurde von dieser seltsamen Kraft aufgehalten. „Oh nein, du wirst mir nicht entkommen!“, zischte die Herrscherin. Squall blieb stehen. Als er sich umdrehte, sah er die Herrscherin, die direkt an den Stufen des Tempel stand und triumphierend zu ihm hoch blickte. Gegen seinen Willen machte er ein, zwei Schritte auf sie zu... und spürte plötzlich, wie diese Kraft, die ihn dazu zwang, von ihm genommen wurde. Der Ausdruck auf dem Gesicht der Herrscherin wandelte sich zuerst in Bestürzung, dann in Hass. Squall drehte sich um und rannte so schnell er konnte auf den Tempel zu. Über die geschlossene Tür machte er sich als Geist keine Gedanken; er sprang einfach hindurch und kam mit einer Rolle wieder auf die Beine. Draußen schrie ihm die Herrscherin irgendwelche Verwünschungen und Flüche nach, aber Squall hörte gar nicht hin. Staunend sah er sich in dem Raum um, in dem er sich befand. Anders als der Rest der Stadt erstrahlte dieser Raum in allen Regenbogenfarben. Unzählige Kerzen steckten in Haltern an der Wand und tauchten die Szenerie in ein mildes, flackerndes Licht. Sie schienen nicht unbedingt zu den vielen komplizierten Geräten zu passen, die sich in dem Raum befanden, aber irgendwie beruhigte der Kerzenschein Squall ungemein.
Squall durchquerte diesen Raum und ging auf eine weitere Tür zu. Hinter dieser begann ein langer Tunnel, der aus Glas zu bestehen schien. An seinem Ende war helles Licht zu sehen. Squall ging darauf zu und stellte überrascht fest, dass ihm eine Wand aus Licht den Weg versperrte. Unschlüssig blieb er direkt davor stehen und sah sich nach irgend einem Schließmechanismus um. Ein Gefühl sagte ihm, dass es gefährlich war, durch diese Wand zu gehen. Als er aber nichts fand, womit man die Wand öffnen konnte, nahm er all seinen Mut zusammen... und trat hindurch.
Als Squall die seltsame, leuchtende Wand durchschritten hatte, fühlte er plötzlich Schmerzen, die sich von seinem Kopf über seinen ganzen Körper auszubreiten schienen. Er presste die Hände gegen die Schläfen und sank auf die Knie. Die Schmerzen wurden immer stärker. Squall schrie auf und stützte sich mit den Händen auf dem Boden auf, bis sie schließlich unter ihm nachgaben und er sich vor Schmerzen auf dem Boden krümmte. Schließlich wurden seine Schmerzen so groß, dass er sogar unfähig war zu schreien. Wimmernd lag er auf dem Boden und sehnte sich nach dem endgültigen Tod, der ihn von diesen Schmerzen erlösen würde. Es tat so weh, dass er sogar vergaß, dass er schon tot war. Er konzentrierte sich so gut er konnte und versuchte, gegen den Schmerz anzukämpfen.
Es hörte so schnell auf, wie es gekommen war. Squall blieb noch einen Moment überrascht liegen und versuchte, sich aufzurichten, was ihm nicht gelang.
„Bleib ruhig! Es ist bald vorbei.“, hörte er jemanden sagen. Die Stimme drang tief in seine Gedanken ein und beruhigte ihn. Schließlich wich die Schwäche von ihm, und es gelang ihm aufzustehen.
Als er sich umsah, bemerkte er eine Gestalt, die auf einem Thron saß und ihn beobachtete. Überrascht stellte er fest, dass sie ebenso durchsichtig war wie er selbst; er konnte die Frau sehen, aber gleichzeitig konnte er durch sie hindurch die Wand erkennen. Squall sah die Frau genauer an und bemerkte beinahe entsetzt, dass es sich um die Schöpferin handelte. Sie sah genauso aus wie die Statue auf dem Platz, und doch war Squall überrascht, als er sie zum ersten Mal sah. Ihre Haut und ihr langes Haar waren schneeweiß, wie auch das lange Kleid, das sie trug, und ihre Augen glühten rot in dem totenblassen Gesicht! Squall konnte etwas dunklere Pupillen erkennen; aber selbst die Iris war völlig rot.
Doch die Schöpferin schien von seinem Anblick genauso überrascht zu sein, wie er von ihrem. Sie stand langsam auf und in ihrem schönen Gesicht zeigte sich Bestürzung und Schmerz. „Vandell?“, flüsterte sie kaum hörbar. Aber sie verbesserte sich sofort: „Nein, du bist nicht Vandell. Aber dass dein Geist noch lebt, bedeutet, dass du ein Ritter bist wie er. Wer bist du?“
Squall schaffte es erst nach einigen Sekunden, ihr zu antworten. „Mein... mein Name ist Squall. Squall Leonhart.“, brachte er schließlich hervor. Die Schöpferin sah ihn noch einen Moment an. „So ist es denn wahr. Mein Volk wird noch immer von meinen Töchtern beschützt? Sage mir, Squall, wie lange habe ich geschlafen?“, fragte sie leise.
Squall schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht, Schöpferin.“, sagte er. Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Schöpferin. „Du kannst mich bei meinem Namen nennen, wenn du magst. Ich heiße Hyne De Carracas.“ Squall sah sie überrascht an. „Hyne? Aber...“ Er brach ab. Hyne sah ihn belustigt an. „Du kennst diesen Namen?“, fragte sie.
Squall nickte langsam. „Ja... Es gibt eine Sage bei uns...Aber in der Sage war der Schöpfer Hyne ein Mann!“ Hyne lachte laut auf. „Dieses Märchen hat sicher ein Mann erfunden.“, lachte sie. Sie stand auf und kam auf Squall zu. „Doch ich fragte dich, wie lange ich geschlafen habe.“, meinte sie. „Aber ich weiß es nicht!“, wiederholte Squall beinahe verzweifelt. „Kann es denn sein, dass ihr Menschen vergessen habt, wann die neue Welt Centra entstand?“, sinnierte Hyne nachdenklich. Squall starrte sie an. „Centra? Ihr meint, euer Volk ist nach eurem Tod nach Centra gegangen?“
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