Kapitel 2: Die Stadt der alten Rasse

Der Lift endete in weiteren etwa 50 Metern Tiefe. Ein schmaler Durchgang führte in eine riesige, um nicht zu sagen gigantische Halle, die vollgestopft war mit lauter komplizierten Geräten, die nur zu einem kleinen Teil vom Forscherteam stammen konnten. Das Meiste der technischen Gerätschaften in der Halle war so fremdartig, dass Squall sich nicht einmal entfernt vorstellen konnte, wozu sie einmal gedient haben könnten. Monitore waren an der Wand befestigt, und unter ihnen befanden sich Kontrollpulte mit hunderten Knöpfen und Schaltern, die allesamt in dunkelblau gehalten waren. Alle Kabel, die sichtbar waren, waren ebenfalls blau. Selbst die Wände hatten eine seltsame, hellblaue Farbe. Das Lager der Wissenschaftler war der einzige Fleck, wo man auch andere Farben erkennen konnte. Lichtquelle war keine zu erkennen, aber es war dennoch angenehm hell in der Halle. Die Wände waren mit kunstvollen Reliefs bedeckt, wo sie nicht mit Technik vollgepflastert waren. Als Squall eines davon genauer ansah, bemerkte er überrascht, dass es eine hübsche Frau darstellte, aus deren Händen Blitze zuckten, welche die Menschen unter ihr trafen. Die Frau sah aus wie eine Rachegöttin, die ihre Feinde vernichtete. Squall hatte beinahe den Eindruck, dass sie ihn anstarrte, so lebensecht war sie dargestellt.
Squall betrachtete noch immer staunend die detaillierte Arbeit, als er Quistis überrascht aufschreien hörte.
„Seht euch das an!“, rief sie den anderen zu. Sie deutete auf ein anderes Relief. Als Squall zu ihr hinlief und es genau ansah, stockte ihm der Atem. Hier war eine Frau zu sehen, die Rinoa verblüffend ähnlich sah! Ihre Augen waren leicht schräg, und ihr Gesicht mit den hohen Wangenknochen war etwas schmaler, aber die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. Sie trug eine Art Diadem auf der Stirn, in das ein blauer Stein eingearbeitet war, der beständig in einem sanften Licht pulsierte. Ihre Kleidung war fremdartig, genau wie ihre übrige Erscheinung. Aber dennoch war dieses Bild nicht so beunruhigend wie das auf der anderen Seite. Diese Frau war genau das Gegenteil von der Anderen, sie sah gütig auf die kleine Gruppe herab, so wie sich kleine Kinder eine Elfe vorstellen mochten. Ihre rechte Hand hatte sie auf den Kopf eines Mannes gelegt, der neben ihr kniete. Squall sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein, als er den Mann sah. Er sah ihm selbst so ähnlich, dass er glatt sein Vater hätte sein können. Wie zwischen Rinoa und der Frau gab es auch zwischen ihm und dem Bild Unterschiede, der Mann war auch eindeutig älter, aber die Ähnlichkeit war wirklich beängstigend. Er hatte demütig den Kopf gesenkt, und seine Augen waren geschlossen. An seiner Seite hing ein Schwert, auf dessen Knauf er eine Hand gelegt hatte. Auch er wirkte etwas fremdartig, aber er unterschied sich nicht so sehr von einem Menschen wie die Frau.
„Was ist das?“, flüsterte Rinoa neben ihm erschrocken.
„Mann, die zwei sehen euch total ähnlich! Die könnten glatt mit euch verwandt sein!“, rief Irvine hinter ihnen ungläubig.
Squall riss sich von dem unglaublichen Anblick los und wandte sich an die anderen. „Vielleicht ist es ja nur Zufall.“ Für diese Bemerkung erntete er nur zweifelnde Blicke von den Anderen. „Okay, vielleicht auch nicht.“, gab er zu. „Aber wir sind nicht hier, um uns darüber den Kopf zu zerbrechen. Wir sollen hier eventuelle Überlebende suchen und die Todesursache der Forscher, die getötet wurden, herausfinden.“ Alle außer Rinoa nickten. Squall sah Rinoa an. Sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Wie gebannt starrte sie auf das Relief.
„Große Schöpferin!“, flüsterte sie. Squall sah sie beunruhigt an. „Was denn los?“, fragte er besorgt. Als sie seine Stimme hörte, schien der Bann von ihr abzufallen. Sie schüttelte heftig den Kopf und meinte: „Ich weiß nicht... Mir ist, als... würde ich diese Frau kennen. Aber...“ Sie brach ab. „Wir müssen hier raus!“, flehte sie plötzlich.
„Was ist? Was hast du denn?“, fragte Squall alarmiert. „Ich weiß es nicht!“, kreischte Rinoa ängstlich. „Wir müssen hier weg! Irgend etwas Schreckliches wird passieren, das fühle ich!“ Sie warf sich in Squalls Arme und fing an zu weinen. „Bitte, lass uns verschwinden!“, schluchzte sie.
„Ist ja gut!“, flüsterte Squall beruhigend. Er selbst hatte auch kein gutes Gefühl bei der Sache. „Ich mache dir einen Vorschlag: Sobald es auch nur ein Anzeichen einer Gefahr gibt, verschwinden wir. Okay?“ Rinoa nickte und wischte sich die Tränen von der Wange.
„Tut mir leid. Ich weiß gar nicht, was in mich gefahren ist.“, meinte sie. Squall küsste sie auf die Stirn und strich mit der Hand über ihre Wange. „Schon gut. Du hast allen Grund, hier unten Angst zu haben. Ich finde es auch unheimlich hier.“ Er drehte sich um. „Okay, ich denke, wir sollten uns die Berichte der Forscher ansehen. Weiß jemand, wie diese Geräte funktionieren?“
„Yo! Ich mach’ mich gleich an die Arbeit.“, meldete sich Xell sofort. Er lief zu einem der Zelte und kam wenig später mit einigen flachen Monitoren zurück, die anscheinend so etwas wie Aufzeichnungsgeräte darstellten. Als er die kleine Gruppe wieder erreicht hatte, legte er die Monitore vorsichtig auf den Boden und meinte: „Das hier sind die privaten Aufzeichnungen der Forscher. Welchen Bericht willst du hören? Jedes dieser Dinger hat einem der Professoren gehört.“ „Ich denke, es wird das Beste sein, wenn wir uns die Berichte von Professor Tikama ansehen. Er hat die Ausgrabung geleitet.“ Xell nickte und machte sich an den Monitoren zu schaffen. „Komisch.“, murmelte er. „Die Aufzeichnungen des Professors sind nicht hier.“ Er sah sich suchend um und entdeckte schließlich einen weiteren Monitor auf einem Tisch in der Nähe der mobilen Funkanlage. Er holte ihn und fummelte eine Weile daran herum. Schließlich reichte er ihn Squall.
„Du brauchst nur einzuschalten. Der gelbe Hebel auf der Seite.“, meinte er. Squall legte den Hebel um und fragte: „Kann man das Ding lauter stellen? Wir sollten das alle hören, wenn wir es schon nicht alle sehen können.“ Xell nahm ihm den Monitor aus der Hand, drückte einige Knöpfe und gab es ihm zurück. „Du musst noch etwas warten. Es wird gleich anfangen.“ Kaum hatte er das gesagt, flimmerte der Monitor und der Professor wurde sichtbar. Gebannt hörten alle dem Bericht des Mannes zu:

„Heute ist der erste Tag unserer Ausgrabung. Wir haben also wirklich unsere Suche nach der sagenumwobenen ‚Traumhalle’ begonnen. Ich mache mir keine falschen Hoffnungen: Wir werden wahrscheinlich Monate brauchen, um die gesamte Stadt hier unter dem Meer abzusuchen. Aber die Männer und ich scheuen keine Mühen, um die Traumhalle allen Menschen zugänglich zu machen.
Wir haben beschlossen, unser Lager vorerst in der großen Halle aufzuschlagen. Hier werden wir ohnehin die nächsten Wochen beschäftigt sein. Alleine die Reliefs an den Wänden können uns Geschichten erzählen, von denen wir nur träumen können, wenn wir nur lernen, sie zu verstehen! Ich bin aber zuversichtlich, was die Entschlüsselung der Runen auf den Reliefs betrifft. Mit Hilfe meines Assistenten Naoko werde ich es bestimmt schaffen.“

„Nun, an Selbstvertrauen mangelt es dem alten Knaben nicht.“, bemerkte Irvine trocken. „Da hast du wohl recht. Der gute Professor war wohl zu beschäftigt, um jeden Tag etwas festzuhalten. Er hat nur jede Woche etwas auf Band gesprochen.“, meinte Squall. „Nun, dann machen wir mal weiter.“

„Die erste Woche hier unten haben wir geschafft! Und sie war sehr erfolgreich! Naoko hat entdeckt, dass die meisten der Runen an den Wänden der Schrift von Centra sehr ähnlich sind. Die Schrift von Centra konnte zwar auch noch nicht entschlüsselt werden, aber teilweise sind sie uns bereits bekannt. So kann ich mittlerweile mit Sicherheit sagen, dass es sich bei dem Relief auf der Nordseite der Halle um eine Hexe und ihren Hexenritter handelt!“

„Oh!“, machte Squall überrascht. Rinoa runzelte die Stirn. „Das stimmt beinahe. Sie... ist keine gewöhnliche... Hexe.“ Alle Augen richteten sich auf Rinoa. „Fragt mich bloß nicht, woher ich das weiß. Ich weiß es einfach!“, sagte sie unglücklich. Squall wandte sich wieder dem Monitor zu. „Also, weiter im Text.“

„Aber ich bin mir nicht sicher, ob das auch auf die Frau im Relief an der Wand gegenüber zutrifft. Das Zeichen, das bei ihr benutzt wird, ist fast das gleiche, aber eben nur fast. Es wird aus dem Relief ersichtlich, dass sie ebenfalls Zauberkräfte hatte. Aber das andere Zeichen macht mich stutzig. Und eine weitere Rune sorgt für Verwirrung.“

Der Professor drehte das Aufnahmegerät, sodass Squall das besagte Zeichen sehen konnte. Irgendwie erinnerte es ihn an seine Kette mit dem Griever-Anhänger.

Naoko sagte, er hätte dieses Zeichen ebenfalls schon in Centra gesehen, aber ich kann mich nicht daran erinnern. Nun, wie dem auch sei, es gibt noch etwas, das mir aufgefallen ist: Es besteht eine phänomenale Ähnlichkeit zwischen der Hexe und dem Hexenritter auf dem Relief und der Hexe dieser Generation, Rinoa Heartilly, und ihrem Hexenritter, Squall Leonhart.“

„Blitzmerker!“, murmelte Irvine.

„Ich denke, ich werde die Beiden einmal einladen, sich dieses Bild anzusehen. Vielleicht weiß Miss Heartilly, was es damit auf sich hat.“

„Schön wär’s!“, meinte Rinoa niedergeschlagen.

„Nun, die ‚Traumhalle’ wird warten müssen, bis wir in dieser Halle fertig sind. Die Anderen haben sich über diesen Entschluss beschwert, aber einfach so drauflos zu suchen kann gefährlich sein. Wer weiß, das Volk, dass hier gelebt hat, könnte irgendwelche Fallen hinterlassen haben. Wir können gar nicht vorsichtig genug sein.“

„Nun, das stimmt. Ein guter Rat. Sie hätten ihn nur befolgen müssen.“, meinte Quistis. Xell verzog das Gesicht. „Wissenschaftler!“, murmelte er kopfschüttelnd.
„Die nächsten drei Wochen sind für uns uninteressant.“, sagte Squall nach einem Blick auf die computergenerierten Inhaltsangaben der Berichte.

„Es ist zum Verzweifeln! Die Mannschaft macht sich langsam selbstständig! Alle sind von dieser ‚Traumhalle’ besessen. Zwei der Forscher, Professor Filaree und Doktor Ashimo sind gegen meine Befehle aufgebrochen, um das Innere der riesigen Stadt zu erkunden, die sich in einer gigantischen natürlichen Höhle, zwei Meilen östlich von hier, befindet.
Naoko beharrt weiterhin darauf, dieses seltsame Zeichen auf dem nördlichen Relief schon gesehen zu haben. Er behauptet, es befände sich in der ‚Odinshalle’ in den Ruinen von Centra. Aber auf meine Anfrage beim archäologischen Institut in Esthar wurde mir mitgeteilt, dass das Zeichen in keinem der Berichte erwähnt wird. Jedoch wurde ich darauf hingewiesen, dass es eine frappierende Ähnlichkeit zwischen einer Rune auf dem südlichen Relief und dem Zeichen für ‚Schlaf’ oder ‚Traum’ gibt. Könnte es denn sein, dass diese abgebildete Frau etwas mit der Traumhalle zu tun hat? Wenn dem so ist, haben wir einen weiteren Grund, vorsichtig zu sein. Der Text warnt nämlich vor einer großen Gefahr, die von ihr ausgeht.
Nun, ich denke, ich werde mich in den nächsten paar Wochen auf diesen Text am südlichen Relief konzentrieren. Naoko ist dem Wahnsinn der anderen noch nicht verfallen, aber ich denke, die anderen werden ihn bald überzeugt haben. Er mag ja wirklich begabt sein für den Beruf des Archäologen, aber er ist viel zu gutgläubig! Nun, ich sollte nicht meckern, schließlich habe ich ihn selbst ausgewählt. Aber sollte er auch nur einmal in Betracht ziehen, meine Befehle in Frage zu stellen, werde ich mir einen anderen Assistenten suchen. Ich hoffe, er weiß das.“

„Mann, der alte Herr ist ja noch strenger als mein Vater!“, meinte Xell kichernd. Er hatte sich nach langer Überlegung dazu entschlossen, seine Zieheltern mit ‚Mutter’ und ‚Vater’ anzusprechen. Und auch die anderen hielten sich an diesen Entschluss.