Leute!


Judero

Um das Fazit vorwegzunehmen: Judero WIRD ein Höhepunkt meines Spielejahres sein und in seiner Gesamtwirkung wahrscheinlich noch lange hängenbleiben ... Aber vor allem zieht mich ein Spiel heute nur noch selten SO schnell und SO tief in seinen Bann! Und das, obwohl man es in ~7h oder so durch hat und das Gameplay eher unspektakulär ausfällt.

Klickt euch während des Lesens vielleicht durch den Soundtrack auf Soundcloud!




Kunst!

Ehrlicherweise denken wir bei "Videospielkunst" meistens an eine sehr spezifische Art von Kunst, bspw. mit glaubwürdigen Charakteren, gut geschriebenen Kino-Stories und starken Emotionen, oder mit konsistent eingesetztem grafischem Design, oder mit epischer Orchester-Musik. Und das ist natürlich berechtigt, denn diese Arten von Videospielkunst sind NICE!
Aber Judero ist ... eine andere Art.
Es ist – und zwar direkt auf den ersten Blick! – diese Art von Kunst, die man in einer kleinen Galerie irgendwo in einer Vorstadt findet, oder die hochspezialisierte Freaks im Internet machen: Da hat einer seine zweifelhaft marktfähige Nische und zieht sie DURCH, ohne Rücksicht auf Verluste. In Judero manifestiert sich das in der extrem ""echten"" Optik, und wie man im Abspann sowie im beiliegenden Making-Of erfährt: Ja, das gesamte Spiel besteht aus echten, anfassbaren Dingen, von Stop Motion aus verhackstückten Action-Figuren und Knete, bis hin zu realen Oberflächen, scheinbar digitalisiert als Texturen. Außerdem ist es hässlich wie die Nacht, ohne Ausnahme; jede einzelne Figur ist ein Affront gegen Gott, und im Gesamtbild habe ich selten etwas gesehen, dass seine eigene Hässlichkeit so sehr feiert. Heißt, Judero hat augenblicklich einen extrem eigenen optischen Charakter.
Das ist aber nicht alles, und alles ab hier hat mich positiv überrascht!
Judero bietet tatsächlich auch klassische Kunst, zumindest in den Grundlagen: Es baut seine Videospielrealität auf schottisch-keltischer Folklore auf, mit einer Menge Faszination für Geschichte und Kultur. Überall werden entsprechende Geschichten erzählt, die Sprache ist old-timey und kunstvoll-poetisch as FUCK, und all das bringt trotz Action-Figuren und Knete einen überraschenden Level an Immersion mit sich. Beinah jeder NSC teilt philosophische Ansichten über das Leben mit dem Spieler, sei es scherzhaft durch den Alltag hindurch oder in einer Ernsthaftigkeit, die einen hier und da nachdenken lässt. Die 85 (!) Lieder des Soundtracks bauen zu Teilen auf britischen Volksweisen auf und werden wunderschön lebendig umgesetzt, ganz als hätte jemand kurz vor dem Ladenschluss der Dorfkneipe noch mit Singen angefangen.
Aber selbst das ist nicht die ganze Wahrheit, denn Judero ist oben drauf auch noch hochgradig modern, und postmodern! Ja, der Soundtrack basiert auf jahrhundertealten Stücken ... aber manchmal bricht er halt auch in Metal-Geschrei, videospieltypisches Geklimper oder Punk-artige Töne aus. Die Philosophie dreht sich um klassische Themen, aber sie steht überhaupt nicht darüber, moderne Kultur anzudeuten oder sich ein-eindeutig auf unseren Alltag zu beziehen. Selbst die "Echtheit" der Grafik wird innerhalb von Gebäuden plötzlich durch gemalte Bilder verdreht. Und um das eindeutig klarzumachen: "Postmodern" in Videospielen (wenn es überhaupt mal angemessen ist) heißt ja üblicherweise, dass irgendwelche Stereotypen dekonstruiert werden oder die Charaktere die ganze Zeit mit schnippischen Kommentaren durch die vierte Wand brechen. Das steht Judero wirklich meilenwert drüber. Nicht nur die Musik, die Sprache, die Optik, viel eher die gesamte Realität des Spiels lässt die verschiedensten Einflüsse verschwimmen, lässt sich überhaupt niemals durch traditionelle Konzepte wie ein kohärentes Setting oder Erwartungen an realweltliche Geschichte einschränken.
Und der wirklich große Wurf ist das WILDE Selbstbewusstsein, mit dem Judero seinen Zaubertrick wirken lässt: Es ist offensichtlich künstlich und doch eine immersive Welt, es ist aufrichtig und doch vollkommen absurd, es ist unglaublich konsistent in seinem absoluten Chaos.





Videospiel?

Judero ist außerdem ein ordentlich gemachtes Zelda-like mit vielen Minispielen. Und viel mehr muss man dazu eigentlich nicht sagen?
All die zentralen Dinge wie Steuerung, Gegner-Design, Erkundung und Rätsel sind okay bis nett gemacht, ohne jemals die Höhen eines echten Zeldas zu erreichen. Die Bosse haben einen gewissen Level an Kreativität. Einiges ist auch MEGA wonky, aber glücklicherweise nie so wonky, dass es den Spielspaß kaputtmachen würde. Und ein paar überraschende Ideen gibt es auch.
Was hilft, die mittelmäßigeren Dinge zu akzeptieren: Trotz eines fetten (!) inhaltlichen Umfangs ist man nach spätestens ~7 Stunden durch mit dem Ganzen. Ein Hoch auf rasantes Pacing!
Ob das jetzt zu dem himmelhochjauchzenden "Kunst"-Part oben passt ... Keine Ahnung. Vielleicht/Vielleicht nicht/Who cares? Es gibt hier keine großen ludonarrativen Widersprüche oder sowas, aber ich verstehe auch irgendwo, warum einer der Schöpfer Angst hatte, das Spiel wäre zu "normal"; Das Gameplay IST nämlich extrem bodenständig, deutlich in einem wohlbekannten Genre zu verorten, und die Verbindungen zum Rest des Spiels sind eher minimalistisch. Blöd gesagt: Judero könnte ein auch Jump'n'Run sein und hätte wahrscheinlich eine ähnliche Gesamtwirkung. Aber, um stattdessen ganz klar etwas anderes zu sagen: Mich persönlich hat das an keiner Stelle gestört, nicht zuletzt WEIL dieses losgelöste Gameplay halt auch für sich genommen unterhaltsam genug ist. Und ich wüsste auch gar nicht, wie sich ein Judero spielte müsste, dass bspw. einwandfrei zu seiner Optik passt ... aber wahrscheinlich nicht gut!





Also ja, krasses Ding, wenn man nicht unbedingt etwas Traditionelles oder das Polishing eines Zeldas erwartet!
Eigentlich wollte ich noch irgendwo die "Men from Carlisle" einbinden, oder wie mich der Monolog des "Anchorites" erwischt hat, aber wenn ich ehrlich bin, will ich viel lieber, dass Menschen dieses Spiel spielen und dann wieder und wieder überrascht sind, von all den Dingen, die darin passieren. =]