Lynne
Story?
"Lynne is a short visual novel [...] about the scariest thing in the world - being a teenager" sagt die Spielebeschreibung auf itch.io. Aber es geht nicht einfach nur um irgendeinen Teenager. Sondern um ein 15-jähriges Mädchen aus einer White Trash Familie im Herzen von England. Lynns große Schwester hat mit 19 keinen Schulabschluss, dafür einen Babybauch. Ihr Vater hat cholerische Anfälle. Ihre beste Freundin hat einen über 30-jährigen Freund aus Japan, der ihre teure Geschenke kauft und dafür etwas mehr von ihr sehen will. Und Lynn selbst hat ein großes Problem mit ihrer Umwelt, aber vor allem mit sich selbst.
Das Spiel
Lynne ist ein weiteres, kurzes (ca. 1,5 Stunden) Kinetic Novel. In mancherlei Hinsicht erinnert es an die Milk-Spiele. Es ist aber weniger experimentell. Die Optik umfasst auf maximale Unschärfe gestellte Aufnahmen der Handlungsorte und schafft ein Atmosphäres Bild von Lynns Umgebung und ihrer Wahrnehmung dieser. Das ganze wird ergänzt durch obligatorische Charakterbilder im Zentrum des Bildes und über dem Text. Es gibt keine Entscheidungen und nur eine kleine Besonderheit: ein Stress-Meter, das in Momenten steigt, in denen Lynns negative Emotionen durch irgendetwas getriggert werden. Durch ihren Vater, der ihr mehr oder weniger direkt zu verstehen gibt, dass ihr (Bildungs-)Erfolg seine letzte Hoffnung ist. Durch das ständige Erinnertwerden an die bevorstehenden Abschlussprüfungen. Durch so viel mehr. Und auch durch schreckliche Albträume.
"Warum ein Stress-Meter, wenn man doch eh nicht beeinflussen kann, wie es ihr geht?", mag die eine oder der andere fragen. Weil dieser kleine Kniff doch tatsächlich bewirkt, dass auch die Anspannung steigt, während Lynns Stress-Faktor in die Höhe rast.
Wie war es denn nun?
Ich bin wieder mal äußerst angetan. Und wieder mal hat das Spiel mich erst etwas gewinnen müssen. Denn es beginnt direkt mit einer Albtraumsequenz, in der Lynns Selbsthass und ihre dissoziative Neigung in dysmorpher Body Horror-Manier nur allzu deutlich werden. So deutlich, dass ich dachte: "Okay, ich hab's verstanden!" Und auch als ich dann in die wache Erlebniswelt der Protagonistin eintauchen darf, geht das eigentlich so weiter. Es ist alles trostlos und scheiße. So sehr, dass ich noch nicht ganz absehen kann, was mich daran jetzt reizen soll. Okay, ich höre seit einem Monat quasi pausenlos Olivia Rodrigo und ergötze mich an feinst vorgetragener Teen Angst und Insecurity. Aber so pessimistisch vorgetragen wie hier war ich mir zuerst nicht sicher, ob ich da der Stimme einer strugglenden Teenagerin lausche oder die Stimme in all dem Leid nicht einfach untergeht.
Obwohl das Spiel auch im Folgenden keinen Zweifel daran lässt, dass es für Lynn nicht gut enden wird, veränderte sich mein Blick darauf doch zunehmend. Ich habe angefangen, Schlüsse zu ziehen. Zwischen ihren Erfahrungen, dem, was ihr erzählt wird und ihren Albträumen. Denn da gibt es - natürlich - Verbindungen. Und in dieser, sehr gelungenen, Hinsicht ist das Spiel nicht mit dem Holzhammer unterwegs: es legt diese Verbindungen nahe, behauptet aber nicht einfach einen Zusammenhang. Es überlässt mir, welche Elemente ich mit welchen verknüpfen kann. Wie der Hass, den Lynn gegenüber der ähnlich heißenden, ähnlich aussehenden, aber von ihr in jeder Hinsicht als überlegen empfundenen Lynne (mit E) hegt und der doch noch einen Twist bekommt (in einer wirklich fantastischen Sequenz).
Lynn ist bemerkenswert aufmerksam. Also der Charakter. Aber das Spiel dadurch auch. Und sie ist das eben auch in den weirdesten Situationen. Ihre Gedanken schweifen ab und kehren früher oder später wieder zurück, als wäre nichts gewesen. Egal ob sie bei der Prüfung sitzt, sich mit einer Freundin unterhält oder masturbiert. Sie ist auch empathisch und klug. Doch diese Dinge sind gleichsam auch ihre Schwächen. Sie ist empfindlich und kann nicht auf die gleiche Weise über Dinge hinwegsehen oder sie abtun, wie es ihre große Schwester oder ihre Freundin Susie tun. Noch schlimmer: Sobald sie irgendetwas von anderen erfährt, bezieht sie es auf die negativstmögliche Weise auf sich. Es tut weh, sie bei dieser Reise hinein in das Auge des Sturms ihrens internalisierten Selbsthasses zu begleiten. Aber es ist eben auch wirklich grandios.
Neben den Contentwarnungen, die diese Visual Novel ohnehin verdient hat, sei erwähnt: Ich habe Kopfschmerzen. Maßgeblich, weil die Soundkulisse des Spiels unter anderem aus einem dumpfen, dunklen Ton besteht, der einem die ganze Zeit im Ohr sitzt. Unangenehm, aber ich sag das nicht, weil es schlecht wäre, sondern weil es auch verdammt wirksam und dementsprechend cool ist. Erzählung und Machart geben sich die Hand, wie es sein sollte.
Ich gebe 9 von 10 Namen, die beim Scrabble nicht zählen.
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Ich mach's kurz. Lynne ist meine 2/3 in der Kinetic Novel-Kategorie "Click 'N Cry".