Ich habe einen Blick auf meine Steam Library geworfen und alle Spiele ausgeschlossen, die ich fest für andere Achievements einplane. Und dann habe ich einen Würfel geworfen, um zu wissen, was ich als nächstes Spiele. Die Göttin des Glücks hat entschieden und mich mit Folgendem beschenkt:

WILL: A Wonderful World

Story?

Ein Mädchen wacht in einem gewöhnlich, doch lebhaft eingerichtetem Zimmer auf. Sie erinnert sich an nichts. Durch die Fenster dringt rötliches Licht, was dem Raum eine melancholische Stimmung verleiht. Ein sprechender Hund mit kleinen Hörnern auf der Stirn erklärt ihr, dass die beiden göttliche Wesen sind. Ihre Aufgabe: Menschen, die sich in auswegslosen Situationen an sie wenden, zu helfen. Denn die beiden können die Geschicke der Welt ändern. Anfangs harmlose, doch später ernste und auch tödliche Anfragen der Menschen (und Katzen) werden an die beiden herangetragen. Doch so sehr das Mädchen anfangs auch das Gefühl hat, den Leuten zu helfen und so viel Spaß ihr das bereitet, so merkt sie doch auch bald, dass das Verderben die armen Seelen immer wieder heimsucht und auch ihr Einfluss nur geringfügig scheint... psyke! Die Welt von WILL ist gar nicht so wonderful.


Das Spiel

Auch WILL: A Wonderful World ist ein Visual Novel. Allerdings ist er mechanisch doch besonders. Auf einer großen, pinnwandähnlichen Spielfläche schalten sich nach und nach neue Kapitel der Geschichten der verschiedensten Charaktere frei: Ihre "Briefe", wobei dieser Begriff nicht wörtlich zu verstehen ist. Denn was sich die Leute von den Göttern wünschen, kommt zwar als Brief bei den beiden an, kann aber jede erdenkliche Form haben.




Dass es den beiden als Brief vorliegt, ist für die eigentliche Spielmechanik aber durchaus wichtig. Denn in diesen Briefen berichten die Betroffenen von dem Geschehen, das für sie ein Problem darstellt. Die Aufgabe der Götter - und damit auch der Spielenden - ist es also, das Geschehene zu ändern. Und das passiert, indem einzelne Textschnipsel von A nach B, B nach A oder D nach C bewegt werden.



Zu Beginn ist das straightforward und einfach. Zwei bewegbare Textbausteine, zwei Möglichkeiten. Man muss nicht lange rätseln, um herauszufinden, was die Lösung wohl ist. In diesem ersten Beispiel hilft man Li Wen, einer Schülerin aus Beijing, dabei, nach Hause zu kommen. Ihr Problem: Sie hat auf dem Tennisplatz ihre Schlüssel vergessen, weil es dunkel war. Wäre es erst später dunkel geworden, hätte sie ihre Schlüssel beim Aufsammeln der Tennisbälle wohl nocht gefunden. Und genau deswegen ist das Problem gelöst, wenn man die Reihenfolge dieser beiden Events umdreht.

Recht bald werden die Probleme der Leute ernster. Es geht nicht mehr um verschlossene Türen, sondern teils um Mord und... mehr. Gleichzeitig gestaltet sich auch die Mechanik komplexer. Man liest zwei Briefe zur gleichen Zeit und kann die beweglichen Textpassagen aus einem Brief in die andere Geschichte einfügen und umgekehrt, um so etwas am Schicksal beider Betroffenen zu ändern. Auch die Anzahl der beweglichen Bausteine verändert sich. Noch dazus gibt es Sonderregeln, wie und wo die Bausteine positioniert werden können. Jedes Kapitel hat so verschiedenste Ausgänge, wobei die meisten davon als "schlecht" gelten und weiteren Fortschritt auf der Route blockieren. Bekommt man aber das beste Ende, das meistens durch ein "S" gekennzeichnet wird, geht es weiter. In Ausnahmefällen können auch andere Enden eine bestimmte Route freischalten. Dabei entstehen quasi multiple Universen, in denen jeweils etwas anderes passiert.

Zwischen diesen Briefen, durch die wir immer mehr über die Hilfesuchenden erfahren und die den größten Anteil des Spiels bilden, gibt es kurze Passagen, in denen der Fokus wieder auf das Mädchen und den Hund gelenkt wird. Denn irgendetwas kommt ihr auch an ihrer ganzen Situation komisch vor.


Wie war es denn nun?

Mein erster Gedanke zum grundlegenden Konzept des Spiels war sicher, dass es sehr cool und einzigartig ist, gleichermaßen Möglichkeiten für interessantes Gameplay und für einnehmendes Storytelling verspricht. Deswegen war ich auch keineswegs enttäuscht, als der Würfel für mich entschieden hat. Doch mein anfängliches Interesse hat schnell die ersten Dämpfer erfahren. Denn die Mechanik kam mir nicht sonderlich intuitiv umgesetzt vor. Vielleicht bin ich das Problem, aber wie die Textbausteine angeordnet werden sollen, um das bestmögliche Ergebnis heraus zu holen, hat sich mir nur in wenigen Fällen erschlossen.

Es gab im Text der schlechten Enden Hinweise, die rot eingefärbt waren, was mir aber nur gelegentlich geholfen hat. Es war mehr ein Raten (oder bald auch ein Spielen nach Guide). Das müsste nicht total schlimm sein. Immerhin ist mir dieses Rätsel-Gameplay nicht so wichtig wie die Geschichten, die dabei erzählt werden. Doch beides hängt ja zusammen und wenn die Reihenfolge der Ereignisse konstruiert wirken und trotzdem nicht eingängig sind oder keinen Sinn ergeben wollen, schwächt das eben auch die Erzählung ab. Die Lösungen der Rätsel sind aber oft auch nicht nur logisch kaum zu erahnen, sondern inhaltlich hanebüchen. Positiver sticht heraus, dass die diversen negativen Enden eines Kapitels oft nicht einfach nur das sind: negative Enden ohne weiteren Sinn. In ihnen stecken häufig Informationen, die einem mehr über betroffene Charaktere (auch solche auf einer ganz anderen Route) verraten können oder sogar Hinweise zum Lösen eines Puzzles in einer dieser anderen Routen geben können. Auch das ist nicht wirklich eingängig, aber ebenfalls eine coole Idee.

Kommen wir aber zur eigentlichen Erzählung. Ich hole aus. Folgende Charaktere zählen zu den Wichtigsten (sanfte Spoiler bzgl. Early- bis frühes Midgame):

- Die bereits erwähnte Li Wen, einer siebzehnjährige Schülerin, die sich in ihren Kunstlehrer verliebt, der sie gleichermaßen an ihren verstorbenen Vater erinnert.

- Wen Zhaoren, der künstlerisch begabte Mittdreißiger, der sich - (bitte in Mickey Mouse-Stimme lesen) oh, Junge - in seine siebzehnjährige Schülerin verliebt. Auch er hat einen dramatischen Background und will zu Beginn Suizid begehen.

- Jimmy, der unattraktive Otaku, der frisch nach Beijing gezogen ist und Li Wen stalkt, weil er sie ganz toll findet. Er ist aber eigentlich ein gaaaanz harmloser, toller Typ. Klar.

- Alicia und Carlos, mexikanische Geschwister. Alicia möchte eigentlich in die USA, um da an ihrer Gesangskarriere zu arbeiten. Stattdessen wird sie von Menschenhändler:innen nach Hongkong verschifft. Carlos sucht nach ihr.

- Chang Gyeong-Min, ein frisch gebackener Polizist beim Busan Police Department und sein Vorgesetzter Kang Baek-Ya, die sich mit den korrupten Irrungen und Wirrungen des koreanischen Polizeiwesens herumschlagen.

- Spottie, eine kleine Streunerkatze, die aufgrund ihres "Daddies" ein schwieriges Verhältnis zu Menschen hat.

- Park Sang-Gun, ein koreanischer Junge, der (CW: körperliche, seelische & sexualisierte Gewalt) vermeintlich die Tötung seiner Mutter durch seinen alkoholisierten Vater verhindert und im Anschluss in der Psychiatrie wiederholt von seinem Arzt missbraucht wird.


Wer diese Zusammenstellung an Charakteren schon irgendwie weird findet, der ist da was ganz Heißem auf der Spur. Nicht nur werden kritische Inhalte ohne jegliche Einordnung in einer bestimmten Weise behandelt, es wird auch schnell viel zu viel. Das Pacing ist früh zerstört, wenn schon in den ersten zwei Stunden die grausamsten Dinge passieren. Mind you: Die schrecklichen Schicksale sind nicht nur Bestandteil der schlechten Enden. Nein: Die schlimmsten Dinge passieren auf bestimmten Routen in den Good Endings. Ich verstehe, dass das für sich genommen nicht schlecht sein muss. Denn man soll erfahren, dass ein S-Rating nicht mit "gut" gleichzusetzen sein muss. Wofür genau "S" steht, habe ich bis zum Ende aber auch nicht begriffen. Und viel Wichtiger: Sonderlich viel Sinn für guten Geschmack beweisen die Writer allemal nicht. Es wird nicht (pornografisch) explizit, doch trotzdem habe ich das Gefühl, dass die entsprechenden Leidenspassagen sehr ausbeuterisch und voyeuristisch geschrieben sind, was dann auch noch durch eingespielte Sounds amplifiziert wird. Ich bin selbst relativ resilient und habe auch überhaupt kein Problem damit, wenn ein Medium dafür sorgt, dass ich mich zwischenzeitlich unwohl fühle (siehe Lynne), aber hier hatte ich das Gefühl aus den falschen Gründen.

Auch in den Routen, in denen es eigentlich um etwas ganz anderes geht, werden scheinbar wahllos diese Leidensmomente eingestreut, dann eben tatsächlich nur als Bad Ending. Li Wen beispielsweise, bei der es ja eigentlich um die tragische Liebesgeschichte geht (die nicht mal beschissen ist), wird in einem Kapitel entführt und ich spare mir, aufzuschreiben, was bei der Entführung natürlich auch passieren MUSS. Das soll man dann verhindern. Keine Punchline, keine weitere Relevanz für die Story danach. Maximal ein paar Stunden später ein: "Aah, also der Typ, der da das gemacht hat, kommt dann auch in der Szene in einer ganz anderen Route am Rande vor. Verstehe!" Das ist so widerwärtig auf Schock und billige Twists geschrieben, dass ich jetzt gerade wieder richtig wütend werde.

Apropos Twists: Die Geschichte um die beiden "Götter" bekommt ganz am Ende auch noch ihren Twist. Von dem ich nicht viel verstanden habe, der in keinster Weise Sinn ergibt und der so albern hoch hinaus will, dass es nur noch lächerlich ist.

Ich will nicht leugnen, dass ich zwischendurch fast die ganze Zeit über trotzdem irgendwie interessiert war. Ich wollte wissen, wie die Geschichten der Betroffenen zu einem Abschluss kommen. Denn ich mochte die meisten von ihnen immerhin genug, um dieses leichte Gefühl von "hoffentlich endet ihre Story wenigstens auf einer positiven Note" zu haben. Trotz unnötiger Gewalt und Härte, trotz billigem Shock-Value, trotz schlechten Selbstzweck-Twists und trotz anderen, fürchterlichen Dingen wie der unwahrscheinlich schlechten Repräsentation von dissoziativer Identitätsstörung (und anderen psychischen Leiden). Und die beinahe gute Nachricht dabei, da ich das Spiel so nicht entgegen meiner Vernunft mögen muss: Alles endet ziemlich unrund und unzufriedenstellend. ("Wie das Leben", würden die Writer wohl sagen und dabei bedeutungsschwanger in die Ferne starren) Yay!

Ich hatte weniger Spaß mit Spiritfarer, das mich aus Gameplay-Perspektive einfach komplett genervt hat. Aber während das, wie in meinem Review erwähnt, eben toll geschrieben war, gehört WILL trotz der Tatsache, dass es meine Motivation konstant auf einem annehmbaren Level gehalten hat, abgestraft. Da hilft auch das gute Oberflächendesign und die Musik nichts.

Damit verdient WILL: A Wonderful World sich 3 von 10 Frauen, die eben noch der Gefangenschaft als Sklavin entkommen und in der nächsten Szene Sniper-Assassine sind, wofür sie das sexieste Outfit tragen, das den Writern (und Zeichnenden) eingefallen ist. Arrgh!

(Ich ziehe mir den verbleibenden Abend jetzt erst mal die süßesten Genshin-Cinematics rein, um meine Seele wieder zu reinigen.)

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Der Silberstreif am Horizont, den mir das Spiel selbst verwehrt hat: Ich bekomme mal wieder ein Achievement! Denn ich habe gewürfelt und gespielt. Das Glück war mir nicht hold, doch leer ausgehen soll ich trotzdem nicht.