Doki Doki Literature Club+ (empfohlen von MeTa für meine Steam-Challenge)



Ich wusste gleich, dass Doki Doki Literature Club es bei mir nicht einfach haben würde. Ich bin kein Fan von Dating Sims, kann den meisten Anime-Archetypen in ihrer reduzierten Grundform relativ wenig abgewinnen und Meta-Twists sowie Schock-Horror sind auch meist nicht so meins.

Doki Doki hat mich aber dazu gebracht, über eine Frage nachzudenken, die mich schon seit Ewigkeiten beschäftigt: Woher kommt meine Abneigung gegen diesen – ich nenne es mal – „Hypereskapismus“.

(Es folgt ein ausschweifender Exkurs.)

Die meisten Arten von Fiktion und vor allem von Unterhaltungsmedien sind inhärent eskapistisch. Sie lassen uns in fremde Welten eintauchen und die Leben einer Vielzahl unterschiedlicher Figuren mitverfolgen. Das ist an und für sich etwas sehr Schönes und für mich auch sehr reizvoll.

Ich erinnere mich noch sehr gut, als ich mich im Grundschulalter sehr darüber geärgert habe, dass Pikachu im Pokémon-Anime als „mausartiges Pokémon“ bezeichnet wurde. In der Welt von Pokémon gibt es keine Mäuse – diese Beschreibung hat innerhalb dieses Universums also keinen Sinn gemacht und für mich die Immersion für diese Welt, die mir so wichtig war, beeinträchtigt. Und Immersion war mir extrem wichtig, denn ich wollte so sehr, dass sich diese Welt real anfühlt.

Als ich älter wurde, begann ich natürlich, einen besseren Überblick über die Medienlandschaft und ihre Trends zu gewinnen, darunter auch beliebte Archetypen fiktiver Charaktere.

Anime und animeverwandte Medien (zu denen Visual Novels sehr stark zählen) haben eine starke Tendenz, Figuren zu überzeichnen. Es werden bestimmte Eigenschaften deutlich stärker hervorgehoben, als es in der Realität der Fall ist. Das dient manchmal dem Humor – und soll Figuren manchmal schlicht und ergreifend attraktiver machen.

Hier kommen wir zum „Hypereskapismus“ zurück – oder auch „Wish Fulfillment“. Oftmals sind die Figuren auf die Eigenschaften optimiert, die sie bei der Zielgruppe (vor allem romantisch) attraktiv erscheinen lassen. Sie entfernen sich also zunehmend von dem, was glaubwürdig oder realistisch wäre, um die Vorlieben der Konsumenten maximal zu befriedigen.

Mir hat diese Art von „künstlich zugeschnittener“ Darstellung schon immer widerstrebt – mit den Jahren zunehmend mehr, je mehr ich merkte, wie oft diese Archetypen quasi gleichbleibend verwendet werden. Es fühlt sich alles so … berechnet an.

Besonders allergisch reagiere ich darauf, wenn es einen Protagonisten als Self-Insert gibt, dem quasi alles zufällt, ohne dass er viel tut, z.B. die Zuneigung der Figuren des anderen (bzw. begehrten) Geschlechts. Oder auch die Dankbarkeit von NPCs in Videospielen, obwohl man quasi nichts gemacht hat (z.B. bei den Social Links in Persona). Dieses Streicheln des Egos fühlt sich für mich nur allzu künstlich an und hat für mich den gegenteiligen Effekt: Ich fühle mich vom Werk entfremdet und meine Immersion leidet.

Ich bin nicht per se immun gegen diese Reize, aber das, was für andere unter „Guilty Pleasure“ fällt (meinetwegen auch ohne das „guilty“), fühlt sich für mich meist so hohl an, dass mein Gehirn sich dagegen verschließt. Immersion und Empathie kommen also nicht wirklich auf.



Doki Doki nutzt diese Archetypen, diese Klischees, durchaus sehr bewusst und spielt mit ihnen. Folgender Absatz vom Wiki-Abschnitt über die Entwicklung des Spiels hat mich direkt aufhorchen lassen:

Zitat Zitat von Wikipedia
Salvato was inspired to create a visual novel by his "love-hate relationship" with anime, and emphasized the abundant use of clichés in the genre and the frequent plots centering around "cute girls doing cute things", which he saw as both an asset and a detriment to the viewer's enjoyment.
In Doki Doki geht es in erster Linie um vier Mädchen im namensgebenden Literaturclub einer Oberstufe: Ihre Geschichten und Sorgen, ihre Beziehungen untereinander und zum Protagonisten – der wiederum ein Self-Insert-Charakter ist, zugleich aber auch eine grundlegende eigene Persönlichkeit hat, wie es in Visual Novels üblich ist.

Drei der vier sind zunächst quasi die Archetypen in ihrer Urform:
– Sayori: das Genki Girl
– Natsuki: die Tsundere
– Yuri: die Dandere (später Yandere)



Die Figuren haben durchaus untereinander Dynamiken. Natsuki und Yuri zum Beispiel feinden sich regelmäßig an, weil sie wenig vom Geschmack der jeweils anderen halten und sich beide herablassend behandelt fühlen. Und weil sie beide die Aufmerksamkeit des MCs wollen. Sayori hingegen ist die gute Seele und das Bindeglied der Gruppe und versucht stets, alle glücklich zu machen.

Zwischen den Tagen muss man Gedichte „schreiben“, wobei man dabei aus einem Pool jeweils 20 Schlagworte auswählt. Dabei gefallen diese Worte immer jeweils einem der Mädchen, und welcher der drei (minus Monika) man dadurch am meisten imponiert, bestimmt gewisse Interaktionen am Folgetag.

Die ersten ~2-3h ist das Spiel eine typische Dating-Sim. Hier und da scheint manchmal kurz durch, dass die Mädchen Sorgen und Probleme haben, die sie verbergen. Doch dann gerät alles sehr schnell aus dem Ruder. Den Rest packe ich mal in Spoiler.



Es ist ein versöhnliches Ende, aber es hat mich auch ein bisschen ratlos zurückgelassen, wofür das Ganze denn jetzt war. Der Impact von Doki Doki ist aber aus vielen Gründen etwas verloren an mir. Ich mag Dating Sims vom Konzept schon nicht, Dekonstruktion hin oder her. Und eigentlich auch keine Meta-Narrativen. Und Psycho-Horror eher dann, wenn er atmosphärisch und subtil ist. Das Hauptspiel ist handwerklich gut, aber bei allem, was es tut, nicht sonderlich subtil.

Am Ende muss ich also sagen:



Aber Moment mal, woher kommt dieser Screenshot überhaupt? Er stammt aus den für die Plus-Fassung hinzugefügten Sidestorys. Das sind sieben Geschichten mit den Titeln Trust, Understanding, Respect, Balance, Reflection, Self-Love und Equals, deren Namen Progamm sind.

Hier existiert der MC nicht und es ist quasi ein alternatives Universum, in denen die Mädchen unter sich sind. In den Episoden lernen sie einander kennen, bauen den Club auf, reden über ihre Probleme, geraten aneinander und freundne sich an. Sie versuchen ihre Probleme zu lösen – allein und gemeinsam – und philosophieren über allerlei Dinge.



Es hat mich ziemlich geflasht, wie schön diese Sidestorys geschrieben sind. Hier geht es wirklich um sehr alltägliche Probleme. Es wird jede Menge Feingefühl gezeigt und alle vier Figuren werden völlig nachvollziehbar und mit Stärken und Schwächen charakterisiert. Die überzeichnet-idealisierten Archetypen des Hauptspiels schimmern noch durch, denn die grundlegenden Persönlichkeiten sind dieselben (bis auf Monika, sie ist quasi ein anderer Mensch). Doch sie sind eben nicht mehr überzeichnet, sondern fühlen sich so viel menschlicher an, und das macht für mich einen riesigen Unterschied.



Es geht um Selbstwertgefühl, um Akzeptanz, um irrationale Ängste, ums Dazugehören und Anderssein, um die Verbindung zum Hobby und wie man sich über seinen Geschmack definitert. Besonders relatable fand ich den Teil mit Yuri und Natsuki, wo beide verletzt sind, weil die eine den Geschmack der jeweils anderen ablehnt. Es geht darum, warum wir es persönlich nehmen, wenn jemand etwas ablehnt, das uns sehr am Herzen liegt. Und auch viel darum, was gute und was schlechte Kommunikation ist.

Es ist schon rührend zu sehen, wie die vier Mädchen sich diesen und vielen weiteren Problemen stellen und an sich wachsen – alles auf sehr glaubwürdige und nachvollziehbare Weise.



Das Einzige, was ich an den Sidestorys kritisieren würde, ist, dass sie vereinzelt etwas belehrend wirken. Die meiste Zeit über ist das Writing aber wirklich exzellent und ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass man das Spiel doch noch mal so „kriegt“. Ich habe etliche Screenshots von den Konversationen gemacht, weil sie einfach so natürlich, nachvollziehbar, klug und schön waren. Richtig, richtig stark!

Trotz einiger emotionaler Höhepunkte werden hier natürlich insgesamt deutlich sanftere Töne angeschlagen als im Hauptspiel. Obwohl es nur Sidestorys sind, sind sie von der Länge jedoch sicher halb so lang wie das Hauptspiel – und waren für mich ein Grund, meine Meinung zum Spiel noch mal zu überdenken. Sie haben mir aber vor allem auch vor Augen geführt, was für mich funktioniert und was nicht. Aufgrund der komplett unterschiedlichen Stile und Ausrichtungen werde ich also getrennte Wertungen vergeben.



Spielzeit: 9:15h
Wertung: 6/10 (Hauptspiel) bzw. 8/10 (Sidestorys)