Essays on Empathy

Ooooh, was für eine tolle Überraschung! Wenn mich jemand zu einer Antwort zwingen würde, wäre Essays on Empathy bisher mein Game of the Year.

Deconstructeam kannte ich zuvor nur von The Red Strings Club, einer empfehlenswerten kleinen Cyberpunk-Perle voll netter narrativer Ideen. Außerdem haben sie wohl The Gods Will be Watching und The Cosmic Wheel Sisterhood gebastelt. Essays on Empathie wiederum ist eine Anthologie aus 10 kleinen Spielen, die über die Jahre nebenbei entstanden sind. Dabei wird jedes von einem kleinen, optionalen Dokumentationsinterview begleitet, in dem das (dreiköpfige) Studio von Intentionen, Erfahrungen und Entwicklungsalltag berichtet. Insgesamt sollte man wohl so zwischen 3 und 8 Stunden für alles einrechnen, je nachdem wie vollständig die Erfahrung sein soll.

Von Kontext und Eigenheiten

Bevor ich mit Gushen beginne: Essays on Empathy ist zwar ein konzeptuell rundes Gesamtpaket, aber keinesfalls uneingeschränkt zu empfehlen. Dem UI des "Rahmenprogramms" mangelt es an ein paar grundlegenden Funktionen. Die einzelnen Spiele werden mit der Zeit routinierter, was aber auch heißt, dass die Sammlung sehr ungeschliffen, unklar und teilweise buggy beginnt. Tatsächlich haben nicht einmal alle Achievements richtig getriggert; mir persönlich ist das egal, aber auffällig war es schon. Und letztlich sind die Videos eine sehr ... persönliche Dokumentation, über nur drei Personen, von denen eine einzige den Großteil der Redezeit für sich einnimmt. Das sorgt zum Einen für eine streckenweise leicht derpige Produktion (gerade mit den offensichtlich nachgestellten Mini-Einspielern xD'), zum Anderen entwickelt man aber auch sehr schnell einen Eindruck, eine Meinung und damit eine Sympathie für diese Menschen – oder eben nicht. Und letztlich ist Essays on Empathy natürlich gar nichts für Leute, die narrativ fokussierten, emotionalen oder meinungsstarken Spielen lieber aus dem Weg gehen. Recht massive Darstellungen von allem möglichen gibt es auch noch.

Von einer vielseitigen Erfahrung

Der Titel der Anthologie ist gleich auf drei Ebenen 100% treffend!
  • 1. Empathie mit Menschen, ganz basal.
    In fast allen Spielen geht es sehr explizit um Facetten von Menschlichkeit und Identität. Wir versetzen uns in fremde Perspektiven und können unseren Horizont erweitern, was in einem Video auch ganz explizit als ein Ziel ausformuliert wird. Ich würde zwar sagen, dass gute Geschichten das sowieso immer tun, aber Essays on Empathy hat halt gleich 10 kurze, fokussierte und massiv abwechslungsreiche Erfahrungen, die sich in ihrer Tiefe auch noch "weiterentwickeln". Und das ist Hammer!
  • 2. Empathie mit den Menschen hinter Videospielen.
    Wer etwas Ahnung von der Szene oder schon ein paar "richtige" Dokus gesehen hat, etwa die von Double Fine, wird hier viel Bekanntes hören, aber so ein tiefgehender Einblick in die Gedankenwelt eines wirklich kleinen Indie-Studios über viele Jahre hinweg ist doch eher selten (einzigartig?) – und richtig großartig ist natürlich, dass all diese Einblicke mit tatsächlichen Spielen verbunden sind, in denen man den Kram auch wirklich SPÜRT. Toll!
  • 3. Empathie für Diversität.
    Deconstructeam ist ein buntes Gespann aus Spanien, und die Spiele spiegeln das zunehmend wieder. Wer sich zwar als irgendwo offen für "alternative" Lebensentwürfe versteht (bspw. LGBTQ und Polygamie), aber bisher noch nicht sooo viele Erfahrungen mit entsprechenden Menschen gemacht hat, kommt hier nicht drumherum, sich einzufühlen und fremde Sichtweisen aus den entsprechenden Bereichen nachzuvollziehen.
Noch eine Ergänzung: Imho ist das Spiel selbst dann vollkommen faszinierend, wenn einem das Studio und die Menschen darin nicht komplett sympathisch sind. Vielleicht sogar mehr! Mir ging es bspw. so, dass ich den Charakteren in den Spielen meistens mehr abgewinnen konnte als den echten Menschen dahinter ...



Von (meinen) Höhepunkten

Ich rede nicht über jedes Spiel, aber die hier sind wirklich hängengeblieben ... Und ja, das ist die Hälfte!
  • Behind Every Great One. Irgendwo sehr artsy, aber auch eine sehr effektive Geschichte über "funktionierende" Beziehungen und ihre Fallstricke. Vielleicht das Spiel, das die "Empathie" für mich am größten schreibt, weil all diese Menschen ziemlich schrecklich und doch sooo nachvollziehbar sind.
  • A Vivid Life. Ugh. Was für ein Konzept ... Wer sich schon immer mal röntgen und Teile seines Körper (oder doch nicht?!) entfernen wollte, hat hier die Möglichkeit. Alle anderen (einschließlich mir) werden dazu genötigt, und es ist eine schreckliche, faszinierende Erfahrung!
  • Eternal Home Floristry. Auftragsmörder, Blumengestecke, harte Emotionen. Was will man mehr? Ich wünsche, es würde sich noch etwas mehr Zeit lassen. Vielleicht mein Lieblingskonzept in einer Anthologie voll großartiger Konzepte.
  • Dear Substance of Kin. Das Bloodborne der narrativen Indie-Spiele. (Seriously!) Augenblicklich einnehmend, schonungslos abartig und SO verdammt DICHT in Lore, Atmosphäre und allem, was wirklich zählt. Wäre die Bewegungssteuerung nicht ein kleiner Pain in the Ass, hätte ich es direkt noch einmal gespielt.
  • The Bookshelf Limbo. Cute! Und manchmal reicht das schon. Außerdem eins dieser Spiele, die einen überlegen lassen, was "Gameplay" eigentlich bedeutet – und bedeuten kann.
Fazit

Ernsthaft, FETTESTE Empfehlung! Zumindest, wenn einen die ganzen Caveats im ersten Abschnitt oben nicht abschrecken. Definitiv meine eingängigste Videospielerfahrung dieses Jahr.