Ein Überbleibsel aus dem letzten Jahr zu zweit durchgespielt!



Dreamfall: Chapters

und OH MY

Zuerst schlüssle ich aber diese seltsame Reihe mit ihren seicht verwirrenden Titeln auf, für die Unbedarften! Das Franchise The Longest Journey besteht aus drei eng zusammenhängenden Spielen:
The Longest Journey (2000) ist ein klassisches 2D-Point-and-Click-Adventure, ein richtiger Genre-Klassiker mit einem großartig Setting zwischen Fantasy und Cyperpunk, epischem Lore und – für seine Zeit – sehr interessanten, progressiven Charakteren. Es endet allerdings auf einem bösartigen Cliffhanger!
Dreamfall: The Longest Journey (2006) ist ein ... 3D-Stealth-Action-Adventure mit Rätseln, wie es nur in den frühen 2000ern möglich war, und Gameplay-technisch so richtig stinkende Grütze. Außerdem macht es praktisch eine neue Story mit neuem Lore und einem neuen Hauptcharakter auf. Oh, und natürlich endet es auf einem bösartigen Cliffhanger, der es irgendwie schafft, zeitgleich ein zweiter Cliffhanger für das ERSTE Spiel zu sein?!
Dreamfall: Chapters (2014-2017) schließlich ist praktisch ein Life-is-Strange/Telltale-artiges ... Narrativspiel (?) mit ein paar Rätseln, in fünf Episoden über Kickstarter finanziert. Es ist besser als Dreamfall, weil es die Menge an Gameplay auf das absolute Minimum reduziert, bleibt dabei aber immer noch Grütze, faszinierenderweise. Immerhin schließt es die Reihe ordentlich ab, hat aber auch die absolute DREISTIGKEIT, abermals massiv neues Lore einzuführen und nebenbei weitere Sequels zu implizieren.
Und dieses Gesamtbild macht die gesamte Reihe zu einem eindeutigen, abartigen Fall von Stockholm-Syndrom, den man kaum jemandem empfehlen kann: Teil 2 und 3 hätten ohne Teil 1 nicht die geringste Daseinsberechtigung, aber ohne Teil 2 und 3 bleibt Teil 1 seltsam offen, Setting und Lore ein unerfülltes Versprechen. Tatsächlich wäre das ein besserer Titel für die Reihe! The Unfulfilled Promise, von Ragnar Tørnquist!
Ich könnte wirklich LANGE über die dummen Entscheidungen zwischen den Teilen reden, aber der Kern der Sache ist: Es ist einfach keine gute Reihe. Es ist ein sehr gutes erstes Spiel mit einer Menge völlig unbeholfener "Damage Control" und einer regelrecht arroganten Menge an Konzeptänderungen und neuen Ideen in den Sequels, die kein bisschen mit all dem klarkommen. Ein bisschen erinnert es mich tatsächlich an Kingdom Hearts, nur dass diese Norweger hier offensichtlich nicht denselben Level an Bullshit erreichen wie die Japaner (und dass Kingdom Hearts durchgängig Gameplay hat). Oh, und dass der Graus nach drei Teilen mehr oder weniger vorbei ist.
Ein letztes Ding, um das Ganze zu exemplifizieren: Ich habe ein grottiges Gedächtnis und konnte mich daher vor dem Nachlesen nur an die Kernideen und einige coole Szenen aus den Vorgängern erinnern. Meine Freundin allerdings hat ein gutes Gedächtnis, und ihr ist SEHR viel deutlicher aufgefallen, wie wenig all das ein rundes Gesamtbild ergibt. Also ja, wenn ein Spiel davon profitiert, vor dem Sequel den letzten Teil zu vergessen ...

Und damit spezifisch zu Dreamfall: Chapters!



Es ist Eurotrash!

Nicht nur, weil es zu einem großen Teil in Europa spielt und sich auch ziemlich europäisch anfühlt (was derbe cool ist!), sondern vor allem, weil nichts zu 100% so funktioniert wie es funktionieren soll. Die Steuerung ist anstrengend und janky, alles wirkt awkward und es gibt eine Menge an Bugs und Fehlern und anderen Seltsamkeiten.
Und beim Gameplay ist das ... okayish. Wie gesagt, Dreamfall (also Teil 2) hat HERVORRAGEND gezeigt, dass ein schlechtes Gameplay schlimmer ist als gar kein Gameplay, also lieber triviale Rätsel und Storyfokus. Hin und wieder (etwa einmal pro Episode?) gibt es eine coole Rätselidee, aber oft driftet es auch deutlich in den nervigen Bereich ab, und ehrlich gesagt will ich gar nicht viel mehr darüber schreiben. Es ist Jank, für den man das Spiel auf keinen Fall spielen sollte, und damit gut.
Was mich wirklich enttäuscht hat, ist die Optik. Teil 2 hatte nämlich so seine Design-Elemente, war aber völlig überfordert mit dem 3D, und ich bin nach den Bildern von Chapters fest davon ausgegangen, dass es diesmal besser wird. Wird es aber kaum! Es sieht nur als Standbild ganz gut aus, im Spiel wirkt es zu großen Teilen steril und janky, mit SCHRECKLICHEN Animationen, für die Gesichter (nicht unwichtig in diesem Genre!), aber vor allem auch für die Bewegungen. Man ist tatsächlich immer froh, wenn eine Szene direkt zu den Ergebnissen einer Bewegung springt, anstatt erfolglos zu versuchen, die Bewegung zu animieren.
Es gibt ein paar Szenen und Zwischensequenzen, die ganz cool gemacht sind, aber sie gehen unter im Meer aus Eurotrash-Jank.



Der Inhalt (um den es hier wirklich geht)

Der Inhalt ist ... besser als das Gameplay, so viel kann man definitiv sagen?
Aber allem voran ist er langsam! SO langsam. Die Dialoge ziehen sich, mit vielen seltsamen Stille-Momenten, die Story beschäftigt sich endlos mit Kleinkram, Fetch Quests oder Laufwegen, und manchmal hat man eine ganze Episode lang das Gefühl, dass gar nicht so viel passiert ist. Was wild ist, weil in diesem Spiel wirklich viel passiert?! Oft ist es sogar verwirrend, aber halt zur selben Zeit ... langsam. Puh.
Die Charaktere sind wechselhaft, aber insgesamt eine Stärke des Spiels. Kian als zweite Hauptfigur und religiöser Fanatiker ist nicht nur ein frischer Wind für diese Reihe voller snarky Teenagerinnen, sondern auch wirklich interessant, gerade in seiner Entwicklung. Die alten Charaktere machen immer noch Spaß und kriegen teilweise einen guten Level an Tiefe (Crow!), die neuen können sehr unterhaltsam sein, zum Beispiel Mira. Allerdings gibt es auch ein paar seltsame Fehltritte. Zuerst sei hier Anna genannt, die sich mega mysteriös und wichtig in die Story schleicht, am Ende aber nicht nur uninteressant, sondern auch noch seltsam ... konsequenzlos ist. Außerdem ist sie das, was passiert, wenn man heteronormative Romantik mit einem schwulen Hauptcharakter möchte (wArUm?!), und die zweite Kussszene war so ziemlich der Tiefpunkt des Spiels. Was haben wir gelacht, VOR SCHMERZ. Saga ist auch ein bisschen ... schwierig. Fühlt sich mehr nach Sequel Bait an, den Tørnquist nicht durchziehen durfte.
Die zweite Stärke sind die Dialoge. Tørnquist ist zwar nur so ein, hm, 80%-Writer, was heißen soll, dass immer mal ein paar Stinker dabei sind, aber wenn er kann, dann kann er, und man lacht und leidet mit den Figuren. Die größte Schwäche ist hier wohl die Tropeyness des Spiels, denn so Stellen wie die große Rede am Ende könnten auch 1:1 aus jedem zweiten Actionfilm der letzten 30 Jahre stammen. Dann wiederum hat er auch ernsthaft überraschende Momente, wie eine gute, größtenteils unromantische Bromance zwischen zwei schwulen Figuren.
Und die Story insgesamt? Ich finde sie okay! Man muss erwähnen, dass sie ihr Lore wieder mal komplett umkrempeln und im letzten Part VIEL ZU VIEL erklären, was nicht immer 100% schlüssig ist oder zufriedenstellt, aber mit den Altlasten der ersten beiden Teile kann es definitiv auch nicht leicht gewesen sein, alles zu einem Ende zu bringen. Ehrlich gesagt, Kontinuität ist NICHT die Stärke der Reihe, aber Dreamfall: Chapters hat auf jeden Fall ein Ende, das sich nach einem solchen anfühlt und auch emotional den einen oder anderen netten Klang trifft. Gerade bei Sagas Epilog hatte ich ein paar Tränen in den Augen.

Fazit

Lohnt sich das Ganze also? HELL NO
Zumindest nicht, wenn man nicht sowieso schon tief im Stockholm-Sumpf steckt. Teil 1 lohnt sich leider noch immer. Wer nur Teil 1 gespielt hat und Teil 1 mochte, speziell das Setting und das Writing, könnte hier seinen Spaß haben ... sollte sich aber trotz allem DREIMAL überlegen, ob er sich mit den Abgründen der Reihe beschäftigen möchte. (No turning back from Stockholm!) Wer sich allerdings bereits durch Teil 2 gekämpft hat, der kann auch Teil 3 locker mitnehmen, denn der Tiefpunkt der Reihe liegt bereits hinter euch. Yeah!